Neuproduktionen und eine Uraufführung in Aix-en-Provence

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Das Unglück der anderen

In Aix-en-Provence haben die 75. Musikfestspiele mit einem streitbaren Premierenreigen begonnen

Von Roberto Becker 

(Aix-en-Provence im Juli 2023) Es ist wohl das ureigene Privileg von bedeutender Kunst, dass sie da am tiefsten berühren kann, wo sie in die menschlichen Abgründe schaut. Ganz so wie es Wozzeck bei Georg Büchner bzw. in Alban Bergs Oper sagt. Für ein Festival wie das in Aix-en-Provence kommt hinzu, dass vom Publikum erstklassige Interpreten erwartet werden und obendrein auch die Szene begeistern soll. Was die Sänger betrifft, zieren mittlerweile viele Namen auf den Programmzetteln die Sternchen, die auf den Fußnotenvermerk „anciennes artistes de l’Académie“, also auf die eigene Nachwuchsförderung durch die Festspiele verweisen. Man hat hier den Ehrgeiz, nicht nur Stars einzuladen, sondern auch jungen Künstlern beim Karrierestart zu helfen.

Eine weitere Spezialität ist die Vernetzung mit anderen europäischen Opernhäusern und daraus resultierende Koproduzieren. Eine Uraufführung ist obligater Teil des Programms. Auch von Regisseuren, Dirigenten und Orchestern von Rang  wird die sommerliche Einladung nach Südfrankreich gerne angenommen. Man geht dabei zwar das Risiko ein, in ein streikfreudiges Land zu reisen, aber meistens geht die Planung auf. In diesem Sommer ist das Coronatief umschifft. Auch die Welle der aktuellen Unruhen reichte nicht bis in die Festspielhochburgen Avignon und Aix-en-Provence. Selbst das Wetter spielte mit.

Was das Festival im Laufe der Jahrzehnte durch seine strukturelle Modernisierung an Exklusivität wohl oder übel aufgeben musste, kommt im besten Falle als Popularisierung eigener Anstrengungen und Erfolge zurück. Manchmal kommen mehrere dieser provenzalischen Festspielspezialitäten zusammen. Aktuell bilden vier Opern-Neuproduktionen, darunter eine Uraufführung, den harten Kern des umfangreichen Programms.

Davon sind mit Alban Bergs „Wozzeck“ und George Benjamins „Picture a day like this“ sogar zwei Produktionen mit Referenzcharakter gelungen. Dass bei den 75. Festspielen mit Mozarts „Così fan tutte“ jene Oper ins Programm gehört, mit denen die Festspiele 1948 begannen, versteht sich eigentlich von selbst. Dass dieses Mozart-Da-Ponte-Juwel eine Neudeutung herausfordert, und auch aushält, aber auch. Ausgerechnet Kurt Weills „Dreigroschenoper“ an der Anfang zu setzten, ist schon weniger einleuchtend. Nicht nur jedes einzelne Werk birgt die Chance, zu gelingen oder zu scheitern. Das gilt halt auch für die eine oder andere Planungsentscheidung, wobei sich eine Wertung ebenso aus den Erwartungshaltungen ergibt, an denen gemessen wird.

Lopera-de-quatsous-Festival-dAix-en-Provence-2023-©-Jean-Louis-Fernandez

Es mag durchaus sein, dass Franzosen einen anderen Zugang zu der Nummernrevue in ihrer Muttersprache finden, zu der Schaubühnenchef Thomas Ostermeier den Welthit von Kurt Weill und Bert Brecht gemeinsam mit Akteuren der Comédie Française verarbeitet hat. In der sparsamen, vor allem mit Elemente einer Ästhetik der Entstehungszeit spielenden Bühne und einer Überdosis Slapstick ist diese Inszenierung im Théâtre de l’Archevêché jedenfalls kein Beleg für die brisante Gegenwärtigkeit des Werks. Eher schon dafür, welches Assimilierungspotenzial das System hat, das Brecht und Weill Ende der Zwanzigerjahre frontal aufs Korn nahmen. Was ist ein provozierender Angriff gegen einen Logenplatz im Repertoire…

Im Graben langten Maxime Pascal und sein Ensemble Le Balcon zum Glück so deftig zu, dass man die Wut der Schöpfer auch durch diese Revue hindurch noch ahnen konnte. Auch gelang es vor allem Christian Hecq als Pecham und Marie Oppert als Polly der geschmeidigen Harmlosigkeit von Birane Ba als Mackie Messer etwas Aufgerauhtes entgegenzusetzen. Dem Ganzen nach bündigem Schlussapplaus noch eine Mitsing-Aufforderung zum Kampf gegen den Faschismus und den Griff zu den Waffen hinterherzuschicken, gehört zu den wohlfeilen Gesten der Betroffenheit, die man in den Blasen ambitionierter Theatermacher wohl besser versteht, als außerhalb.

Auch im atmosphärischen Freilufttheater kam Dmitri Tcherniakov mit seiner in ihrer durchweg modern designten Eleganz gut anzuschauenden „Così fan tutte“-Befragung zum Zuge. Musikalisch wurde dieser Beziehungs- und Gefühlsanalyse-Klassiker vom mozarterfahrenen Thomas Hengelbrock und dem Balthasar Neumann Orchester gesichert. Die drei Paare auf der Bühne sind dagegen nicht nur zufällig, sondern, ganz bewusst entgegen der Tradition, mit gestandenen, durchweg erfahrenen Sängern besetzt. Die ließ die Regie dann regelrecht von der Leine und schickte sie auf einen Selbsterkundungspfad, der nicht nur für zwischenmenschliche Beziehungen tödlich enden kann. In luxuriöser Umgebung haben das seltsam unheimliche Paar Alfonso und Despina zwei Paare zu einem Wochenende mit Partnertausch geladen. Da Georg Nigl den Alfonso gibt (es ist mehr eine sehr eigene Version davon) und Nicole Chevalier die Despina mit darstellerischer Intensität sondergleichen verkörpert, sind die Gewichte des Personaltableaus diesmal anders verteilt als gewöhnlich.

Cosi-fan-tutte-Festival-dAix-en-Provence-©-Monika-Rittershaus

Agneta Eichenholz (Fiordiligi), Claudia Mahnke (Dorabella) sowie Rainer Trost (Ferrando) und Russell Braun (Guglielmo) setzen bewusst ihre Lebens- und Rollenerfahrung ein, so dass das Experiment mit höchstem Risiko zwar anders als gewohnt verläuft, aber die Spannung eines Psychokrimis hat. Hier werden all die Zutaten – von der Wette über den ja nie wirklich gelingenden Verkleidungszirkus der Männer bis zum Auftritt einer falschen Ärztin und Notarin – überflüssig. Man spielt am Tisch mit offenen Karten und in den Schlafzimmern hinter geschlossenen Vorhängen.

Das Experiment der Selbstbefragung und -erkenntnis entgleitet zwangsläufig – am Ende erschießt nicht nur Despina ihren Mann – das Desaster ist allgemein, die vermeintlichen Gewissheiten zerbrochen, alle Beteiligten am Boden wenn nicht tot. Ihre Gefühle sind es allemal. Was Tcherniakov und Hengelbrock boten hatte es in sich – auch wenn das nicht jedem gefiel.

Bei den anderen beiden Produktion war die Reaktion einhellig. Siemens-Musikpreisträger Georges Benjamin (63) hatte hier schon 2012 mit „Written on Skin“ einen Welterfolg uraufgeführt. Wie damals ist für die aktuelle Uraufführung, diesmal im historischen Théâtre du Jeu de Paume, wieder Martin Crimp der Librettist. Das Inszenierungsduo Daniel Jeanneteau und Marie-Chistine Soma hat einen sparsam ästhetischen Kunst-Raum geschaffen, der wie maßgeschneidert passt, aber nicht dominiert. Dirigiert hat der Komponist die 22 Musiker des Mahler Chamber Orchestra selbst. Benjamin hat eine sehr dichte, Emotionen mit einfachen Mitteln und effektvoll ausleuchtende, die Stimmen zum Erblühen bringende, betörende und abwechslungsreiche Musik geschrieben.

Die märchenhafte Geschichte verhandelt in nur einer Stunde Existenzielles. Eine Mutter, der das Kind gestorben ist, soll es zurückbekommen, wenn es ihr gelingt, einen Knopf vom Gewand irgendeines glücklichen Menschen abzutrennen. Die Begegnungen, die sie bei der Suche hat, werden zu einem Einblick in das Unglück der anderen. Keiner, der bei ihr zunächst den Anschein erweckt, ist wirklich glücklich. Schließlich begegnet sie in einem Zaubergarten der geheimnisvollen Zabel, die aber auch nur deshalb glücklich ist, weil sie gar nicht existiert. Am Ende entschwindet dieses Wesen, das nichts anders als ein Spiegelbild der eigenen Seele ist, samt betörendem (Video)Garten. Rätselhafterweise hält die Frau am Ende nun doch einen Knopf in der Hand….

Sopranistin Beate Mordal und Counter Cameron Shahbazi verkörpern die beiden Paare, der stimmflexible Bariton John Brancy einen Künstler und einen Sammler. Im Zentrum freilich brilliert mit charismatischer Intensität Marianne Crebassa, ihr unwirkliches Spiegelbild Zabelle ist Anna Prohaska. Dass diese beeindruckende Neuproduktion schon bei den Partnerhäusern in London, Straßburg, Luxemburg, Köln und Neapel auf dem Plan steht, ist nur Beispiel für die Möglichkeiten, die die internationale Vernetzung des Festivals (nicht nur) für Opernnovitäten bietet.

Im Grand Théâtre de Provence gab es schließlich auch ganz wortwörtlich nicht nur jenen Blick in den Abgrund, der auch davor schon in den anderen Produktionen mehr oder weniger direkt durchexerziert wurde. Dem Arme-Leut-Wozzeck kommen diese Worte nicht nur als einem von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängten über die Lippen. Er versinkt diesmal sogar tatsächlich im Bühnenambiente von Miriam Buether darin. Ganz langsam, genau zu den von Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In Simon McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, streckt Wozzeck bei seinem Untergang noch in stummer Verzweiflung die Hände nach seinem Sohn aus. Der bleibt diesmal  stumm und ganz allein zurück. Mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Hintergrund. Ein kindliches Alter Ego des Hauptmanns bedrängt ihn zu den Hop-Hop Tönen genauso, wie es sein weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, zuvor mit Wozzeck gemacht hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist hier zum Greifen nah und geht zu Herzen wie selten.

Die drei reichlich für atmosphärische Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzten Wände des metaphorischen Gefängnisses, in dem sich nicht nur Wozzeck gehetzt wie in einem Hamsterrad abstrampelt, liefern einen beklemmenden Rahmen für die Geschichte. Dass er den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen  auch wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur einer wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem Trotz-allem auszustatten. Aber auch Malin Byström (Marie), Thomas Blondelle (als Tambourmajor- Macho), Brindley Sherratt (als schrulliger Doktor) und Robert Lewis (als einziger Freund Andres) sowie Héloïse Mas (als exquisite Margret) machen aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zum intensiven Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und die „Actors“ Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne.

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