Der Bayreuther Parsifal ist noch nicht ganz ausgereift

Unterhalb der Überwältigungsschwelle

Die Bayreuther Festspiele haben mit einem ungewöhnlichen „Parsifal“ begonnen, bei dem Computer-Simulationen über bestimmte Brillen zu sehen sind. Musikalisch aber überzeugt die Neuinszenierung auf ganzer Linie.

Von Roberto Becker

(Bayreuth, 25. Juli 2023) Die allfällige Wettermetapher von den düsteren Wolken über Bayreuth bzw. den dortigen Festspielen war trotz aller Feuilleton-Nörgelei im Vorfeld tatsächlich nur die zutreffende Beschreibung der Witterungslage. Ein Wolkenbruch vermasselte den Promis den so beliebten Einzug der Gäste auf dem roten Teppich. Wer noch zur Einweisung für die Innovation des Jahres, also den sachgerechten Einsatz der erstmals im Festspielhaus verwendeten AR-Brillen (das heißt: Augmented, sprich erweiterte Reality) wollte, war mit einem Schirm gut beraten.

Auf die Festspiele unter ihrer Leitung bezogen, dürfte Katharina Wagner der launig, aber pointiert vorgetragene Satz von Markus Söder in seiner kurzen Ansprache beim Staatsempfang, dass er sich Wagner ohne Wagner nicht vorstellen könne, runtergegangen sein wie Öl. Jahrelang wurde beklagt, dass der Zugang zu Bayreuth-Karten extrem begrenzt ist. Wenn dann aber auch mal ein paar wenige Karten im Freiverkauf zu haben sind, ist das gleich ein Symptom für den Untergang des kulturellen Abendlandes…

Nun also der von Wagner für sein Festspielhaus maßgeschneidert komponierte „Parsifal“ zur Eröffnung der diesjährigen Festspiele, nicht nur in einer Neuinszenierung, sondern auch mit einer technischen Novität. Ob der Meister selbst das als Erfüllung seiner berühmten Aufforderung „schafft Neues!“ gewertet hätte, bleibt eine offene Frage. Ihm ging es ja eher um die Magie des Hörens, ohne allzu große Ablenkung. Nun herrschen längst andere Rezeptionsfähigkeiten und -gewohnheiten als zu Wagners Zeiten.

Was Jay Scheib, der als Professor am Massachusetts Institute for Technologie das dortige Institut für Theaterkunst leitet und ansonsten als Regisseur unterwegs ist, bietet, das ist für Bayreuth und die Welt der Oper tatsächlich etwas Neues. Zumindest in der technischen Qualität, wie sie die 330 AR-Brillen, die für die Zuschauer in den hinteren Reihen des Festspielhauses installiert wurden, bieten.
Die Frage nach dem WIE (komme ich zu einer Erweiterung der wahrgenommenen Realität) ist schon recht weitgehend beantwortet. Die nach dem WAS (will ich damit eigentlich für das jeweilige Werk erreichen) gehört auch nach der Premiere zu den offenen Fragen.

Man merkt überdeutlich, dass Scheib und sein MIT-Kollege Joshua Higgason, der für AR und Video verantwortlich ist, das Gesamtkunstwerk von den technischen Möglichkeiten seiner Erweiterung und weniger von seinen inneren, musikalisch dramaturgischen Bedürfnissen und Möglichkeiten aus denken. In der erweiterten (Brillen-) Realität werden – so scheint es – viele Dinge vor allem deshalb gemacht und ausprobiert, weil es geht. Nicht, weil es sein muss. Dass man mit solchen Mitteln ein Zum-Raum-wird-hier-die-Zeit-Erlebnis imaginieren könnte, das etwa die Kulissen-Zauberei bei Stefan Herheim übertreffen oder einen Zaubergarten und Karfreitagszauber, der einem mit seiner Opulenz den Atem verschlägt imaginieren würde, bleiben unerfüllte Hoffnungen.

Selbst Parsifals unbedachter Abschuss des Schwans wird mehr zu einer putzigen wie bluttriefenden Show. Mit deutlich mehr Schwänen und Blut als nötig. Auch, dass der Untergang Klingsors im zweiten Aufzug mit dem zertrümmerten Festspielhaus selbst illustriert wird, kommt in seiner Wirkung nicht ansatzweise an die entsprechenden Katastrophenbilder im Herheim-„Parsifal“ heran. Auch an der Vorgängerinszenierung von Uwe Eric Laufenberg scheint sich die Realiätserweiterung messen zu wollen – da geht es ja einmal von einer Kirche in Nahost bis an die Grenzen des Alls und zurück.
Hier ist es so, dass wir oben links neben der Bühne den Erdtrabanten sehen – bis der, wer weiss warum und wohin, entschwindet. Man wird auch sonst immer wieder in ein sternenblinkendes Der-Weltraum-unendliche-Weiten- Gefühl versetzt.

Der imaginäre Raum ist dann aber plötzlich von Insekten verschiedenster Art bevölkert; von fliegenden Totenschädeln und Körperteilen, von Pfeilen und Waffen, von (simpel gemachten) Avataren und fliegenden Gesteinen und allerlei technischem Menschenwerk. Sinn machen die schwebenden Steine, wenn sie bei Illustrationsbedarf eines Wunders auf der Bühne entgegen den Gesetzten der Schwerkraft von unten nach oben fliegen. Die Bilderflut ist gewaltig und sie fließt ununterbrochen. Was dazu führt, dass man neben dem Stauen über den Stand der Technik (schon weit, aber noch unterhalb der Überwältigungsschwelle) alsbald die Aufmerksamkeit bewusst auf das lenken muss, was von der Flut der Reize und Signale für die Ohren bestimmt ist. Das Gesamtkunstwerk für alle Sinne mit Erbauungswirkung wird hier jedenfalls noch nicht in eine neue Dimension gesteigert, sondern erstmal wieder zerlegt.

Da ist das Geschehen auf der Bühne: Zunächst in eher abstrakter Grals-Landschaft um einen Obelisken mit gelegentlicher Leuchtfunktion, samt Wasserbecken und einem wie ein Ufo einfliegender gewaltiger Strahlenkranz zur Krönung der Gralsenthüllung für die von Meentje Nielsen recht bunt kostümierten Gralsbewohner. Amfortas holt tatsächlich Blut aus seiner Wunde, aber ein seltsamer blauer Kristall (Kobalt soll das wohl sein) verbirgt sich hier anstelle des Gralskelchs unterm Tuch.

Bei Klingsor ist es zunächst betonkahl, dann knallbunt. Bis schließlich die Gralsgegend zu einem vergifteten Teil der Welt (plötzlich dann doch unserer Welt) geworden ist. Das ist alles recht statisch. „Regietheater“ gibt es dann doch. Die Blumenmädchen bräuchten jedenfalls keine Opulenz-Nachhilfe in der erweiterten Realität. (Das ausführliche Fussbad kennt Parsifal Andreas Schager übrigens schon aus dem Hamam der Vorgängerinszenierung an diesem Haus…. )

Was bis zur der Szene, in der Kundry versucht, Parsifal zu verführen, immer mal dazu führte, an der AR Brille vorbei auf die Bühne zu den Sängern zu schauen, wird jetzt im Grunde zwingend, denn sonst würde einem nämlich der musikalische Höhepunkt der Vorstellung szenisch völlig entgehen. Man sähe mit Brille zwar die Bäume im Wald, aber nicht die Sänger dahinter. Das ist eine Regiesünde, die man – so es geht – unbedingt korrigieren sollte.

Fazit: Die Bühnenrealität und ihre AR-Brillen-Erweiterung stehen in einem durchaus ambivalenten Verhältnis. Nicht sehr aufregend und wirklich spannend das eine, selbstverliebt und assoziativ frei schwebend, wie die metaphorische Plastiktüte im Wind am Ende, das andere. Manchmal finden sie als Illustrationseffekt zusammen, manchmal kollidieren sie als Behinderung. Oft sind es autonome surreale Bildsequenzen, mal gruselig, mal witzig. Für den Zuschauer eine Herausforderung, hier auf Kurs zu bleiben und eine eigene Korrekturtechnik zu entwickeln.

Gelingt das, dann bleibt als Lohn die Musik. Denn da gibt es überhaupt nichts zu mäkeln. Das Niveau der Besetzung (inklusive kurzfristiger Änderungen, bei denen immer die gleiche bzw. noch bessere Qualität zum Zuge kam) ist exzellent. Zumal, wenn man sich an frühere Jahre erinnert, in denen das beileibe nicht immer so war. Das fängt an mit Georg Zeppenfeld, für den der Gurnemanz eine ideale Partie ist, die er in Referenzniveau bietet. Das geht weiter mit Derek Welton als rebellierendem Amfortas und Tobias Kehrer, als dem nach der Gralsenthüllung putzmunteren Titurel und gilt mit minimalen Abstrichen auch für den Klingsor von Jordan Shanahan. Eine Festspielsensation aber ist, wie Andreas Schager als Parsifal auch seine leisen Töne entdeckt und damit seinen völlig sicheren Parsifalkraftakt veredelt. Und wie gut das zu der so kalkuliert betörenden, hochsouveränen Kundry von Elīna Garanča passte. Ein Traumpaar. Insofern war folgerichtig, dass die beiden in dem Weltdesaster am Ende vielleicht zueinander finden. Wie übrigens auch Gurnemanz zu seiner Freundin aus dem Vorspiel…..

Dazu profilierte Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen – das ist alles vom Feinsten, wie auch der prächtige, von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor.
Langfristig gesehen ist wahrscheinlich Katharinas Entscheidung für Pablo Heras-Casado als Dirigent die nachhaltigste, auch in die Zukunft gerichtete. Es gibt eben auch suggestiv betörende Parsifal-Musik jenseits von Christian Thielemann.

Casado jedenfalls hat einen Hügeleinstand hingelegt, der keine Wünsche offen ließ und viele weckt. Mit 1.37 für den ersten Aufzug eher bei den zügigen Kollegen, wirkt das dennoch alles genau im richtigen Maß und der hier möglichen Mischung. Die Hauptsache am Gesamtkunstwerk, die Musik und der Gesang, die waren jedenfalls höchstes Festspielniveau. Und bei dem szenischen Experiment kann sich Katharina auf ihren Urgroßvater berufen. Zumindest kann der ja nicht widersprechen.

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