Rattle dirigiert Berio und Zuraj bei der Musica Viva des BR

Welcome Simon Rattle

Simon Rattle gab bei der Musica Viva seinen Einstand als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des BR

Von Robert Jungwirth

(München, 13. Oktober 2023) Mit einem künstlerischen Dreisprung eröffnete Sir Simon Rattle seine erste Saison als neuer Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO): An den Anfang stellte er beziehungsreich Haydns Schöpfung, gefolgt von Mahlers Sechster. Als drittes Konzert wählte er einen Auftritt bei der traditionsreichen Neue-Musik-Reihe des BR Musica Viva. Das war eigentlich auch nicht anders zu erwarten, hat Rattle sich doch immer auch für die zeitgenössische Musik engagiert. Trotzdem freut man sich in München natürlich sehr, dass er das auch an seiner neuen Wirkungsstätte so dezidiert tut und beim ersten Konzert der Musica Viva in dieser beginnenden Saison nicht nur Berios grandioses und spektakuläres Riesenwerk „Coro“ von 1977 aufs Programm setzte, sondern mit den „Automatones“ von Vito Zuraj auch eine veritable Uraufführung.

Das Wunderbare bei Rattle ist ja, dass er solche Musik mit der gleichen Selbstverständlichkeit dirigiert wie eine Haydn-Symphonie. Weder verschwindet er mit dem Kopf in der Partitur noch hat es den leisesten Anschein einer Alibiveranstaltung. Rattle macht Musik immer aus Überzeugung und aus einem zutiefst musikantischen Geist heraus, und das spüren Publikum und Musiker gleichermaßen. „Die strahlende Souveränität und Intensität eines Simon Rattle“ eben, wie es der Komponist Helmut Lachenmann einmal formulierte.

Viel Sympathie schlug ihm beim Begrüßungsapplaus entgegen, als müsste man sich immer noch ein wenig die Augen reiben, dass der frühere Chef der Berliner Philharmoniker über sein Engagement in London beim LSO nun wie durch ein Wunder in München gelandet ist.

Wie positiv ein solcher Dirigent in dieser zwar so bedeutenden und traditionsreichen, aber auch leider arg konventionellen und oft langweiligen Musikstadt ist, darüber kann es keinen Zweifel geben. Da ist Rattle mit seiner sprühenden Vitalität und Neugier auch für Werke, die vom Mainstream abweichen, aber dennoch höchste künstlerische Qualität garantieren, genau der richtige Dirigent zur richtigen Zeit – bevor München in seinem Konzertbetrieb vollkommen in Selbstgefälligkeit erstarrt. Das Saisonprogramm des BRSO spiegelt das erfrischend wider. Doch genug der Vorreden.

Das Auftragswerk „Automatones“ des slowenischen Komponisten Vito Zuraj spielt beziehungsreich mit den Themen Mensch-Maschine und künstliche Intelligenz und ist damit natürlich am Puls der Zeit. Eigenen Angaben zufolge hat Zuraj Algorithmen und KI für seine Komposition verwendet, diese aber in einem von ihm kontrollierten Prozess eingesetzt und verändert. Herausgekommen ist ein zum Teil durchaus humorvolles Spiel mit der Maschinenhaftigkeit in der Musik: Pulsationen, die versiegen, stottern und wieder anlaufen, Melodien, die sich selbst behindern und zur Groteske mutieren – wie etwa das Solo auf einer völlig verstimmten Harfe (da ist die wunderbare BR-Harfenistin dann doch fast ein wenig zu bemitleiden).

Zuraj hat eine diskursive Musik geschrieben, die aber auch sehr virtuose Passagen enthält und die von Rattle und dem BRSO präzise und mit der nötigen Nonchalance zum Leuchten gebracht wurden. Dass sich einem die Dramaturgie des Werks beim Hören nicht wirklich erschließt – nun ja, vielleicht ist daran ja doch die KI schuld…

In „Coro“ von Berio konnte dann auch der BR-Chor in solistischer und chorischer Besetzung brillieren. Berios großdimensioniertes Werk mit Texten von Pablo Neruda sowie indianischen und südamerikanischen Volksdichtungen ist ein noch immer beeindruckendes musikalisches Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung und die Liebe über alle Gräben und Länder hinweg. Rattle ließ die kammermusikalischen Teile ebenso intensiv erstrahlen wie die großen Cluster mit ihren faszinierenden Klangballungen. Und auch die Isarphilharmonie spielte mit und erwies sich für die Neue Musik als der akustisch bessere Klang-Raum als der topfige Herkulessaal. Ein phantastischer Einstand für Sir Simon an dessen Ende das Münchner Publikum langen und begeisterten Beifall spendete. Welcome Sir Simon!

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