Frau ohne Schatten in Lyon

Varianten der Unvollkommenheit

An der Oper Lyon feiert das Publikum eine neue „Frau ohne Schatten“

Von Roberto Becker

(Oktober 2023) Besucht man die Oper in Lyon, fragt man sich, ob die auffallend vielen jungen Leute, die sich hier selbst für eine „Frau ohne Schatten“ in die in Frankreich obligatorischen Sicherheitskontrolle am Eingang einreihen, auch tatsächlich erst nach mehr als vier Stunden das Haus wieder verlassen werden. Dem Anschein nach blieben sie und ließen sich offensichtlich gefangen nehmen von dem Werk und seiner Interpretation.

Dabei ist die Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss aus dem Jahr 1919 nicht nur eine Herausforderung für die, die dafür auf der Bühne agieren oder im Graben sitzen. Es ist auch eine für all die, die sie rezipieren. Und Regisseur Mariusz Treliński macht es weder den einen, noch den anderen bewusst leicht. Er entfaltet das Bühnenmärchen und seinen psychologisch tieflotenden Subtext – was sich weder im deutschen Original, noch in den französischen Übertiteln restlos erschließen dürfte.

Die Musiker des Orchestre de l’Opéra de Lyon sind etwas besser dran, weil sich die Musik auch erfühlen lässt und nicht Takt für Takt buchstabiert und im engen Sinne „verstanden“ werden muss. Daniele Rustioni feuert das (auch hörbar) reduzierte Orchester an, lässt den Strauss-Sound aufschäumen, fängt ihn wieder ein, führt ihn auf Parlandopfade, bremst aber auch mal die geradezu melancholischen Soli aus. Hier ist es den Dimensionen des Hauses geschuldet, klingt aber stellenweise moderner als mit einem Riesenapparat. Als packendes, psychologisch grundiertes, opulentes Musiktheater funktioniert es im Zusammenspiel mit dem fast durchgängig vorzüglichen Ensemble allemal.

Mit Ambur Baird als Färberin, Sara Jakubiak als Kaiserin, aber auch mit Lindsay Ammann als mephistohafter Amme bewegt sich die Oper in Lyon in der Spitzenriege möglicher Besetzungen für diese Partien. Das gilt auch für Josef Wanger als Barak. Nicht ganz so überzeugend ist Vincent Wolfsteiner, der als Kaiser an Grenzen kommt. Die nicht so umfangreiche, aber fordernde Partie bewältig er jedoch ebenso wie das übrige Ensemble die kleineren Rollen. Wobei Jüngling und Falke jeweils als Sänger und Darsteller gedoppelt sind.

Baird ist eine schauspielerisch kongeniale Färberin, die zu allem Frust auch die Sehnsucht einer unverstandenen jungen Frau in ihre vokale Gestaltung der Partie zu legen vermag. Jakubiak ist eine Kaiserin mit Charisma, die mit ihrer vokalen Strahlkraft den Reife- und Selbstfindungsprozess einer Frau genauso zu beglaubigen vermag wie das Scheitern, das sie in dieser Inszenierung ohne Kinder und allein zurücklässt. Barak ist eh auf den Sympathieträger im Stück abonniert, aber bei Josef Wagner obendrein ein charismatisch fürsorgender, dazu auch noch so attraktiver Mustermann, dass die Amme mit ihrem herbeigezauberten, schmalbrüstigen und albern manierierten Jüngelchen in Gold nicht die geringste Chance hat, die Färbersfrau ernsthaft vom rechten Weg abzubringen. Nicht mal bei dieser am Anfang ziemlich unerträglich prollig pampigen, dauernd rauchenden Anti-Ehefrau.

Doch Baraks Hoffnung darauf, dass ihre spitzen Reden mit dem Segen der Widerruflichkeit gesegnet sind, erfüllt sich doch. Sie überspannt den Bogen soweit, dass er bricht und sie zu sich kommt. „Ich hab‘ es nicht getan!“ räumt sie schließlich ein, als selbst Barak nach ihren Lügen über den angeblichen Liebhaber schließlich kurz vorm Ausrasten steht. Wie Baird das spielt, das ist ein schauspielerisches Kabinettstück, wie sie es singt eine transparente Glanzleistung.

Das Atemgeräusch in der Stille vor dem Einsetzen der Musik und das auf den Boden tropfende Blut im Video geben szenisch die Richtung vor. Es ist der Blick nach Innen, in die weiblichen Psyche. Zunächst in die der Kaiserin, die sich offenbar selbst umzubringen versucht und von reichlich Personal in ihrem Luxusschlafzimmer mit Blick in einen Palmengarten betreut wird. Ihren Mann scheint das nicht wirklich zu interessieren, der Kaiser geht lieber jagen. Für ihn ist wohl klar, dass die Kinderlosigkeit nicht an ihm, sondern an seiner Frau liegt. Auf der Rückseite dieses Luxusgemachs, bei Baraks, ist für dessen frustrierte Ehefrau, die Sache auch klar. Nur halt andersrum.

Das Stück geht – bei aller Verklausulierung und symbolischen Überladung – letztlich davon aus, dass Mutterschaft zum Selbstverständnis einer Frau gehört und Kinder Unterpfand einer dauerhaft erfüllten Beziehung sind. Ein Rollenverständnis aus Zeiten, in denen das generische Maskulinum noch unumschränkte Geltung hatte.

Mit der Drehbühne markiert Fabian Lédé das prekäre Milieu der Färbersleute als Rückseite der Luxuswelt des Kaiserpaares. Die eher abstrakten Gegensätze bzw. Varianten der Unvollkommenheit werden so gleichsam auch sozial identifizierbar. Von der einen wie von der anderen Welt aus sind wuchernde Palmen sichtbar. Wenn die für das Unterbewusste stehen, dann unterscheiden sich beide Paare im Allgemeinmenschlichen nicht so weit, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Allerdings kommen sie am Ende auch nicht wirklich zusammen, was dem Seid-fruchtbar-und-mehrt-Euch-Finale immerhin seine Penetranz nimmt. Wenn hier liebliche Kinderstimmen erklingen, dann bilden kleine Menschen mit unwirklich maskenhaften Gesichtern Spalier für das Kaiserpaar, das zwar ganz in Weiss zueinanderfindet, aber wohl nicht zu eigenen Kindern.

Bei den Färbersleuten ist das anders. Das sichtbar gealterte Kaiserpaar verteilt bei einem Besuch Puppen an die Kinder der anderen. Vielleicht geben sie ja damit ihre Verhaltens- und Erwartungsmuster an die nächste Generation weiter. …
Dass die Kaiserin am Ende allein auf ihrem Bett sitzt und nur eine Puppe neben sich hat, macht sie – auf unerwartete Weise tatsächlich – zu der traurig tragischen Heldin, die der Oper ihren Titel gibt.

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