Das Tsinandali-Festival in Georgien

Kulturvermittler zwischen Ost und West

Das georgische Tsinandali-Festival auf der Suche nach einem Kompromiss

Von Susanne Lettenbauer

(Tiblisi, im Spätsommer 2023) Kurz vor der Pandemie 2019 startete in Georgien ein Klassikfestival auf dem Gelände des historischen Landsitzes Tsinandali. Durch die weltweiten Einschränkungen und den Konflikt in der Ukraine kämpften die Veranstalter mit Anfangsschwierigkeiten.

In diesem Jahr wurde das 5. Festival gefeiert. Und – man fühlt sich im Reigen der internationalen Sommerfestivals angekommen. Auch weil die Macher des Schweizer Verbier-Festivals dahinterstehen. Im Umgang mit dem Nachbarn Russland, hat man in diesem Jahr einen Kompromiss gefunden, um die anderen Nachbarländer wie die Ukraine nicht zu verprellen. Denn die Idee des Festivals basiert auf einem internationalen Pan-Caucasian Youth Orchestra mit jungen Musiktalenten aus acht Ländern der Kaukasusregion. Dieses Jahr durften zwar keine Musiktalente aus Russland an den Masterclasses und im Orchester auftreten, russische Musik gehörte aber trotzdem dazu.

Nichts gegen Puschkin und Lermontov, Alexandre Dumas oder Alexandre Chavtschavadse, aber Tsinandali liegt ziemlich nah am Nirgendwo. Zweieinhalb Autostunden von der Hauptstadt Tbilisi entfernt, Richtung Aserbaidschan. Über die in Sichtweite liegenden Dreitausender des Kaukasus hinweg liegt Dagestan, nach Teheran/Iran ist es eine entspannte Tagesreise. Ein Landgut mitten in einer krisenreichen Region, von der es heißt, hier sei der Weinbau erfunden vor 8000 Jahren. Von hier stammen die berühmten polyphonen Gesänge.

Weinberge gibt es jetzt wieder, nachdem mit dem Ende der Sowjetunion die von Moskau gesteuerte Wirtschaft, aber auch Kultur und Musikkonzerte zusammenbrachen. Die Rückbesinnung auf Landgüter wie Tsinandali 30 Jahre danach kommt spät, aber nicht zu spät. So wie in den gewölbten Kellern noch volle Weinflaschen von 1854 lagern, die das Zarenreich, die russische Revolution, die Sowjetunion mit einer dicken Staubschicht überstanden haben, so lebt jetzt die Musiktradition des 19. Jahrhunderts in den pittoresk gemauerten Gebäuden wieder auf. Ohne die schwierige Vergangenheit in Form eines im weitläufigen Park liegenden Leninkopfes zu vergessen.

2007 startete der georgische Unternehmer Giorgi Ramishvili, der sein Geld mit Telekommunikation macht, die Sanierung des Staatsguts, gemeinsam mit seinem kasachischen Partner Yerkin Tatishev. Man wolle auf der Seite des Friedens stehen und nicht der Konflikte, betonen die Macher. Warum also nicht ein Klassikfestival initiieren. Zwei modernste Hotel wurden innerhalb kürzester Zeit hochgezogen, die alten Weinkeller mit akustisch optimierten Dächern für ein Amphitheater mit gut 1000 Plätzen überwölbt. Die zweite Bühne, den „Ballroom“ gestaltete das französische Akustikbüro Fabre Xavier und Vincent Speller, die für ihre unkonventionelle Herangehensweise bekannt sind Für das Lichtdesign beauftragte man den Münchner Ingo Maurer, der sich an der Inneneinrichtung der Istanbuler Hagia Sophia orientierte, Symbol für ein Miteinander von Orient und Okzident.

Noch bevor die Bauten fertiggestellt waren, probte Zubin Mehta 2019 in diesen Mauern mit der Pianistin Katia Buniatishvili und dem Israel Philharmonic Orchestra Schumanns Klavierkonzert.
Ein Durchbruch für das alte Landgut. Seitdem traten Namen auf wie Martha Argerich, Jefim Bronfman, Mikhail Pletnev, Mischa Maisky, Thomas Quastoff, Nelson Goerner, Alexandre Kantorow. Und in diesem Jahr nun David Garrett auf der Durchreise von Taiwan nach Hongkong und Singapur. Im Gepäck sein mit Pianist John Heywood komponiertes erstes Klavierkonzert, zu dem es keine Erklärung oder Statements gab.
Umso eindrücklicher das Konzert des blinden, japanischen Pianisten Nobuyuki Tsujii, bekannt geworden durch seine Komposition „Elegy for the Victims of the Tsunami of March 11, 2011“. Während er Beethovens Mondscheinsonate noch sehr verhalten anging, erlebten die Zuhörer im Amphiteater die lyrischen Peer-Gynt-Stücke von Edvard Grieg mit den Ohren eines Blinden. Nachhorchend, leicht tänzerisch, dann wieder betont ernsthaft. Eine Entdeckung.

Wer ihn noch nicht kennt, den „Mozart Georgiens“ – Tsotne Zedginidze. Der mittlerweile 14jährige Pianist trat zum dritten Mal auf, etwas erwachsener als bei seinem ersten Konzert mit neun Jahren, aber auch er erstaunlich ernsthaft, vor allem bei der Präsentation seiner neuesten, eigenen Kompositionen. Nichts Hypermodernes oder Experimentelles, sondern eher abwartend, tastend, aufbegehrend – ein Ausdruck der derzeitigen Situation Georgiens.

Von den Berliner Philharmonikern war Amihai Grosz angereist, Solobratschist, gebürtig aus Israel und gefeiert vor allem vom zahlreichen Publikum aus Tel Aviv, das Georgien problemlos erreichen kann. Zweimal täglich geht der Flug.
Relativ routiniert traten Jefim Bronfman, Michael Barenboim und Julien Quentin an. Bronfman vor seiner Europatournee. Dass er das zweite Mal bereits dabei sei, habe mit dem Ambiente des Landguts zu tun, meint er. Tatsächlich – wenn man keinen Ausflug in die umliegenden georgischen Dörfer macht, fühlt man sich im weitläufigen, nachts beleuchteten Park, in den luftigen Gewölberestaurants und bei den Jazz-Courtyards-Konzerten abends ab 22 Uhr wie in Italien oder Griechenland.

„Die Proben und die Masterclasses waren echt hart,“ erzählt die junge Bratschistin Humay Hacizade. „Sechs Stunden pro Tag mit den Coaches aus aller Welt, dazu noch vier Stunden allein üben, zehn Stunden pro Tag, aber das ist es wirklich wert.“ Für die Masterclasses und Workshops engagiert Festivalchef David Sakvarelidze jedes Jahr Mitglieder großer Orchester aus Israel, Deutschland, Italien, Schweden und den USA.
84 junge Musikerinnen und Musiker bildeten dieses Jahr das Pan-Kaukasische Jugendorchester, das sich eindrücklich entwickelt hat mit einem beeindruckenden, an die ganz großen Orchester heranreichenden Klang. Kein Wunder: Die Vorbereitung der Sinfoniekonzerte im August übernahm Coach Derrick Inouye, Dirigent der Metropolitan Opera New York. Abgelöst von Gianandrea Noseda, Musikchef der Zürcher Oper und musikalischer Leiter des Tsinandali-Festivals:

„Ich bin ein Träumer und glaube, dass dieser Teil der Welt mit seinen unglaublich vielen Talenten und Potentialen einen Weg findet auf die Bühnen der Welt.“ Das meine er nicht nur musikalisch. Ein Meister im Zusammenhalten der einzelnen, so unterschiedlichen jungen Musiktalente.
Zuvor in ihren Ländern nach einem mehrstufigen Bewerbungsverfahren von Claudio Vandelli ausgesucht, einem Dirigenten aus Mailand, seit 2020 erster Chefdirigent der Würth Philharmoniker.

Noseda sei ein Glücksfall bescheinigte ihm Konzertmeisterin Sylvie Njas, 26, aus Turkmenistan. Ihre Kollegen und Kolleginnen aus Kasachstan, Aserbaidschan, Armenien, Usbekistan, Türkei, Georgien und auch die Ukraine stimmten dem zu.
Während die Konservatorien aus den ehemaligen Sowjetrepubliken teils noch mit russischen Professoren noch immer erstaunlich viele Talente hervorbringen, gibt es für diese wenig Chancen, sich auf dem westlichen Klassikmarkt zu etablieren. Das Festival mausert sich deshalb seit 2019 zu einer wichtigen Talenteschmiede für westliche Orchester. Das sei auch seine Message von Tsinandali, sagt der schwedische Musikmanager Martin Engström: Brücken zu bauen, Karrieren zu fördern und mit Musikveranstaltungen ein Zeichen zu setzen, wie er es schon in Verbier, im lettischen Ostsee-Kurort Jurmala oder der Sonderverwaltungszone Macao nahe Hongkong macht.
Mit Erfolg: Ein früherer Teilnehmer ist heute auf einer Vertretungsstelle bei den Wiener Philharmonikern. Grund genug für das georgische Ministerium für Kultur und Bildung, das von auswärtigen Musikmachern jetzt im zweiten Jahr auch zu unterstützen. Neben den Botschaften der Schweiz, Norwegen, Italien. Auch die Vorsitzende vom Kulturausschuss des Deutschen Bundestags war beim Eröffnungskonzert anwesend.

Wer nicht anwesend ist, aber doch ständig präsent – die russische Musikszene. Einzige Ausnahme, die Cellistin Vera Nebylova, weil sie in Deutschland studiert:
„Alle anderen sind nicht eingeladen worden wegen dem Krieg“, weiß sie. Alle seien sehr freundlich, die Teilnehmer aus der Ukraine redeten eher nicht mit ihr, aber es gehe ja um Musik. Trotzdem sei es komisch, wenn junge Musiktalente aus Russland ausgeschlossen seien und gleichzeitig russische Werke auf dem Programm stehen, wie Tschakowskis Sinfonie Nr. 4.

Oder Rachmaninov: Zum 150. Geburtstag des russischen Komponisten setzt das Festival auf einen berührenden, achtstündigen Werks-Marathon mit Interpreten wie dem hochgelobten Russen Alexander Malofeev und dem in Moskau geborenen Boris Giltburg, aber auch jungen georgischen Musikern.
Sein Kontakt zu Moskau sei nahezu abgebrochen, sagt Gianandrea Noseda, Ziehsohn von Valery Gergiev und lange Jahre am Mariinski-Theater in St. Petersburg Gastdirigent. Auch Initiator Martin Engström pflegte enge Kontakte zur russischen Musikszene, holte Gergiev nach Verbier und ist der einzige Nichtmusiker, dem 2015 der Dmitri- Schostakovich-Preis in Moskau verliehen wurde.
Ein schwieriger Spagat zwischen Russland und Europa auf einem georgischen Festival.

Tsinandali hat sich spätestens zur 5. Festivalausgabe nachdrücklich etabliert. In der Abgeschiedenheit können Weltstars und unbekannte Namen in mediterraner Atmosphäre neu entdeckt werden. Das reizt auch Weltorchester zu einem Besuch, wie Hauptsponsor Giorgi Ramishvili vor wenigen Tagen stolz verkündete: Im kommenden Jahr im Mai 2024 treten die Berliner Philharmoniker im Amphitheater auf.

tsinandalifestival.ge
pcyo.tsinandalifestival.ge
Übertragung der Konzerte und Mediathek auf Medici TV www.medici.tv
www.medici.tv/en/partners/tsinandali-festival

Werbung

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert