Die sensationelle Corinne Winters singt Katja Kabanova in Lyon

Tragödie eines ungelebten Lebens

Corinne Winters singt in Lyon Janaceks „Katja Kabanova“ und macht die Neuproduktion in der Regie von Barbara Wysocka zu einem überragenden Erfolg

Von Robert Jungwirth

(Lyon, 29. April 2023) Der Tod ist keine Überraschung für Katja. Er ist die unausweichliche Konsequenz eines ungelebten Lebens. Und er hat Katja schon längere Zeit begleitet. Schon bald nach Beginn der Oper steht sie an einem offenen Fenster in ihrem mehrgeschossigen Wohnhaus und überlegt, ob sie springen soll. Da ist ihre verbotene Liebe zu Boris noch gar nicht richtig in Fahrt gekommen. Regisseurin Barbara Wysocka zeigt Katjas Todessehnsucht in ihrer Inszenierung von Janaceks Katja Kabanova an der Oper Lyon klar und schonungslos.
Dennoch ist Katja keine schwache Frau. Und so will Wysocka sie auch verstanden wissen. Ihr Freitod sei nicht Eingeständnis ihrer Schwäche, sondern Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung, in der auch eine Befreiung liege. Deshalb darf Katja hier am Ende post mortem noch einmal über die Bühne gehen – die befreite Katja…ein im Kontext der Inszenierung durchaus starker Moment.

Trotz oder gerade weil es diese Hoffnungslosigkeit in Katjas Leben gibt, stürzt sie sich in die verbotene Liebe wie eine Ertrinkende. In den Armen von Boris erwacht sie zu neuem Leben, blüht auf, schöpft Hoffnung und zweifelt gleichzeitig. All das hört man in Janaceks Musik und man sieht und hört es in der überragenden Interpretation dieser Rolle durch Corinne Winters.

Die amerikanische Sopranistin hat die Katja mittlerweile in sechs verschiedenen Produktionen gesungen – bei den Salzburger Festspielen im vergangenen Sommer wurde sie dafür zurecht international bejubelt. Corinne Winters Katja Kabanowa ist schlichtweg sensationell, die Sängerin verschmilzt geradezu mit dieser Rolle und dieser Musik. Ein Stimmwunder, wie man es nur selten zu hören bekommt, und eine Schauspielerin, der man in jeder Minute einfach nur gebannt zusieht. Ihre Katja ist ein Ereignis, singulär und überwältigend – und dann sieht sie auch noch umwerfend aus.

Die vollkommene Übereinstimmung und Natürlichkeit von Musik und Darstellung in jeder Nuance, in jedem Ton, in jeder Geste, sind faszinierend. Dazu kommen die wunderbare Wärme und Fülle ihrer Stimme, die sich in ihrer Pein zwischen einer sie quälenden Umwelt und der Liebe zu Boris in tief empfundenen Seelentönen aussingt, aber auch zu emotionalen Ausbrüchen fähig ist, dies aber nie ausstellt, sondern natürlich durchlebt – unterstützt von einer sehr geschickten Personenführung der Regisseurin. Gebannt und erschüttert schauen und hören wir dieser Katja zu und sehen sie ihrem Ende entgegentaumeln. Dass sie auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung im Spagat zwischen ihrer unglücklichen Ehe und ihrer endenden Affäre nur mehr zuckend am Boden liegt und einen epileptischen Anfall bekommt – auch das wirkt völlig glaubhaft.

Wie überhaupt Barbara Wysocka für alle Rollen sehr genaue und auf den Punkt inszenierte Charakteristiken bereithält – nebst ein paar ergänzenden wirkungsvollen Projektionen. Eine tolle Idee ist zum Beispiel, dass Katjas sittengestrenge Schwiegermutter Marfa bei der ersten Gelegenheit mit einem Verehrer in die Kiste steigt – und wie ordinär sie sich dabei gibt. Während sie ihrer Schwiegertochter vorschreibt, wie sie zu trauern hat, wenn ihr Ehemann auf Dienstreise geht.

Natascha Petrinsky singt diese lustwandelnde Kratzbürste mit all der dafür nötigen Biestigkeit und angeschärften Stimme, die nicht wirklich Schönklang verströmt. Aber das wäre auch unpassend. Ganz hervorragend besetzt sind auch die übrigen Rollen in dieser Neuinszenierung in Lyon. Allen voran der emotional überschäumende Boris von Adam Smith, der auch noch praktischerweise der Ehemann von Corinne Winters ist – was die Liebesszenen vielleicht noch ein wenig natürlicher erscheinen lässt…
Ena Pongrac singt eine charmant backfischhafte Barbara, Oliver Johnston einen keineswegs nur tumben, sondern durchaus auch bösartigen Tichon (Katjas Ehemann), Willard White gibt einen etwas brüchigen Dikoi, Benjamin Hulett einen kräftigen Koudrjasch.

Was in Wysockas Inszenierung allerdings weniger überzeugt ist, das ist das Bühnenbild. Warum Barbara Hanicka die gesamte Oper in einem völlig abgeranzten Plattenbau des ehemaligen Ostblocks spielen lässt, den man so heute wohl nicht mal mehr im hinterletzten Sibirien findet, bleibt unklar. Mit der Geschichte hat das jedenfalls nicht viel zu tun, weil die Familie, in die Katja eingeheiratet hat, keine armen Leute sind. Es ist eben kein Armel-Leute-Drama, das Alexander Ostrowski mit „Gewitter“ geschrieben und Janacek 1921 zur Oper gestaltet hat. Nicht um ein Sozialdrama ging es Ostrowski und Janacek, sondern um ein Seelendrama, eine Psychostudie. Da sind Julia Kornackas Kostüme etwas näher an der Vorlage.

Auch in Elena Schwarz‘ Dirigat wird das leider nicht so deutlich wie man sich das wünschen würde. Zwar gelingt es der noch jungen Schweizer Dirigentin die emotionalen Höhepunkte herauszuarbeiten. Die nervöse Unruhe, die untergründige Spannung, das Ungewisse, das Bedrohliche in der Musik bishin zu den Naturschilderungen der Wolga und des Gewitters, das Janacek alles so unvergleichlich in seiner Musik einzufangen verstand, kommen bei ihr kaum zum Tragen. Janaceks Idiomatik, die prägnanten, kürzelhaften Motive, die schneidenden Ostinati bleiben bei ihr unterakzentuiert, mehr Puccini als Janacek. Es fehlt die bohrende Prägnanz, das Insistierende, leider manchmal auch die Präzision.

Nichtsdestotrotz – wer Gelegenheit hat, sich bis Mitte Mai nach Lyon aufzumachen, der sollte sich diese Aufführung auf keinen Fall entgehen lassen. Corinne Winters Katja ist schon jetzt legendär.

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