Parsifal als Lichtspieloper in Bielefeld

Die Erschöpfung der Welt

„Parsifal“ als Lichtspieloper in der Rudolf-Oetker-Halle Bielefeld

Von Bernd Feuchtner

(Bielefeld, 12. Mai 2023) Träge rollen die mächtigen Wogen des Meeres in Breitwand, während die ersten Töne des „Parsifal“-Vorspiels erklingen. „Genesis“ wird in eleganten, feinen Großbuchstaben eingeblendet. Ein geheimnisvoller quadratischer Lichtfleck erscheint, rote Linien ziehen sich über die Wasser. Die Doppelhelix dreht sich, ein feuriges Ei leuchtet magisch auf. Zellen teilen sich, Leben entsteht. Fantastische grüne Felslandschaften zeigen die Pracht der Natur.

„Parsifal“ ist ein gewaltiges Epos des Leidens und der Sehnsucht, eine Heldenreise durch die menschliche Existenz. Kein Wunder, dass auch Vincent Stefan aufs Ganze geht, wenn er die Gelegenheit bekommt, den ganzen „Parsifal“ mit seinen grandiosen Videos zu bebildern. Das Theater Bielefeld führt im Rahmen des 8. Sinfoniekonzerts in der Rudolf-Oetker-Halle die Gattung der „Lichtspieloper“ ein. Die konzertante Aufführung wird begleitet von Projektionen auf einen Breitwandschirm hinter dem Orchester und auf zwei kleine, quadratische Leinwände rechts und links davon.

Alexander Kalajdzic dirigiert die Bielefelder Philharmoniker mit ruhiger Hand und leidenschaftlicher Einfühlung. Und das Orchester realisiert die Farben und Nuancen von Wagners Partitur auf begeisternde Weise – es wird am Ende zu Recht frenetisch gefeiert. Die Sänger sind vor dem Orchester hinter Notenpulten aufgebaut – auch hier gibt es keine Schwachstelle. Einzig Parsifal kommt, in weißem Hemd, aus dem Saal und geht erst zögernd aufs Podium. Tenor Alexander Kaimbacher ist ein Glücksfall dieser Aufführung, da er die Partie auch wirklich singt und dazu noch lebhaft und frei spielt. Dieser Figur folgt man mit echtem Interesse.

Eigentlich widerspricht dieses offene Präsentation Wagners Idee vom unsichtbaren Orchester, und tatsächlich wirken die Klänge auf mich manchmal zu direkt (auch die Sänger müssten oft weniger Stoff geben). Von den Holzbläsern – außer von ihren betörend geblasenen Soli – bekomme ich nicht so viel mit. Auf der Habenseite steht die Faszination, den Musikern beim Verfertigen des Klangs zuzusehen und dadurch deutlicher zu hören. Wagner war nicht der Erfinder der Filmmusik: Sein Orchester erzählt die ganze Geschichte, die optische Seite darf nicht dominieren. Das passiert auch bei der „Lichtspieloper“ nicht. Da oben wird nicht die Handlung erzählt, sondern auf einer Metaebene fließen assoziative Bilder vorbei, die die Musik nicht dominieren wollen.

Der Videokünstler Vincent Stefan ist Musiker und hat Partitur und Text gründlich studiert. Man spürt, wie seine Videos genau dem Rhythmus der Komposition folgen, und der wandelt sich in oft erstaunlich raschen Stufen. Hier werden keine Bilder zum Schwelgen angeboten, so überwältigend ihre Schönheit auch ist. Als Gurnemanz (Bass Andreas Hörl erzählt seine Legenden lebhaft und dominiert damit den ersten Akt) die verschlafenen Waldhüter schilt, sehen wir schlafende Affen auf einem buddhistischen Tempel – Richard Wagner hat sich hier intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt; der „Parsifal“ ist kein nur christliches Drama. Wunderbar passt zu Gurnemanz‘ Raunzen die Szene einer erwachenden Affenmutter mit Kind. Beim Erscheinen des Amfortas (Frank Dolphin Wong als eindringlicher Leidensmann) hingegen sehen wir einen angeketteten Affen.

Das Auffinden der im Gebüsch schlafenden Kundry wird begleitet von archaisch-wilden Felslandschaften, und wenn vom „wilden Weib“ die Rede ist, erscheint ein Element aus langen Haaren – deren Erotik religiöse Männer so fürchten. Das Haarelement zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Videos. Mezzosopran Tuija Knihtilä verleiht der rätselhaften Frau dämonische Tiefe. Dass die von den Rittern Verteufelte aber auch eine weise Frau ist, zeigt sich an der kreisenden Formel des Heilmittels, das sie für Amfortas mitgebracht hat.

Neben wilden Landschaften aus allen Erdteilen erscheinen symbolische Bilder. Kein Gralstempel, sondern Bilder von Angkor Wat, dem mexikanischen Sonnentempel, von Mayapyramiden, gestaffelten Tempeldächern der Buddhisten usw. Zu den verzweifelten „Wehe!“-Rufen des Amfortas taucht auch Schlingensiefs berüchtigter Bayreuther Hase auf, nur lässt Vincent Stefan ihn nicht verwesen, sondern startet mit alten Geräten, die an Beuys erinnern, einen Wiederbelebungsversuch. „Liebesmahlmotiv“ wird projiziert. Zum Schluss erscheint auch das Kreuz. Chor und Extrachor, bestens einstudiert von Hagen Enke, intensivieren das Ende des ersten Aktes, der Kinderchor singt hinter dem Parkett vom Balkon. Und aus einem Fenster rechts über dem Orchester singt Marta Wryk die Stimme der Hoffnung: „Der reine Tor…“

Im zweiten Akt zieht der abgewiesene Parsifal durch schroffe Landschaften, prüft die Natur wie ein Wissenschaftler. Bienen – Ei – Honig stehen für das Leben. In den Videos tauchen neben den Naturaufnahmen auch ganz konkrete Dinge auf; da ist viel experimentiert worden im Studio. Und alles verwandelt sich im Kaleidoskop zu abstrakten Mustern, häufig auf den Seitenschirmen. Auch an mehrfachen Achsen erfolgt die Spiegelung und löscht so die Konkretion wieder aus. An bestimmten Stellen wird ein Video auch rückwärts abgespult: Die Mittel sind so vielfältig, dass keine Monotonie aufkommt. Der stimmstarke Bariton Yoshiaki Kimura (er hatte aus dem Hintergrund schon den Titurel gegeben) spielt sich als Klingsor frei – auch Kundry und Parsifal lassen sich nicht durch Notenständer behindern, sondern kommunizieren direkt miteinander. Auf Klingsors „Er ist schön, der Knabe“ erscheint ein griechischer Torso: Nicht nur Berechnung, auch Sehnsüchte treiben Kundry bei ihrem Verführungsversuch an.

Wenn Kundry, unterstützt von den brillant singenden Blumenmädchen, Parsifal zu becircen beginnt, tanzt eine bekränzte Frau im Wasser und es flammen bunte Blumen auf – denen aber in Gestalt toter Tiere Bilder des Verfalls antworten. Auf Parsifals Ausruf „Die Wunde“ antwortet ein rotglühender Lavastrom, dessen Schrecken sich aber in Schönheit verwandelt. Einen Speer schleudert Klingsor hier nicht, sondern die Lösung erfolgt in der Musik: Klaviaturen erscheinen und bilden Muster. Am Ende steht ein brennender Flügel im Studioraum.

Durch Eiswelten bahnt Parsifal sich den Weg in die erstarrte Gralssphäre. Rasende Zähler zeigen die sich verändernden Umweltbedingungen an, auch das Ei und seine Erscheinungsformen sind in Eisblöcken gefangen. Einzig die Klarinette spendet Wärme, als Parsifal naht, und beim Karfreitagszauber wird sie Honigsüße mit kernigen Farben mischen. Mit Kundry kehrt auf verdorrter Wiese auch die Tänzerin wieder, und in der Brandung dümpelt jetzt Plastikmüll. Zerstörungsfantasien begleiten das letzte Aufbäumen des Amfortas. Zum Schluss zieht das Leben sich wieder ins Wasser zurück und inmitten von Totholz liegt eine nackte Figur in Embryohaltung: Die Neugeburt des Menschen, ein Neubeginn nach der selbstverschuldeten Katastrophe.

Ein atemversetzender Abend, dem das Publikum in großer Anspannung folgte. Die Begeisterung entlud sich sogleich in Standing Ovations für alle Beteiligten.

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