Peter Stein bei den Usedomer Literaturtagen

Von Pēteris Vasks bis Boris Ljatoschynsky

Peter Stein bei den Usedomer Literaturtagen

Von Bernd Feuchtner

(Usedom, 3. Mai 2023) Kurt Masur war der erste, der das Usedomer Musikfestival seit seinem Start 1994 unterstützte und auch den Kontakt zu New York herstellte; im letzten Jahr hatten die New Yorker Philharmoniker eine Residenz in Peenemünde und regelmäßig stellen sich Preisträger des Wettbewerbs Young Concert Artists New York vor. Ein ständiger Gast ist der Cellist David Geringas, dessen spannende Programme auch baltische Musik umfassen. Seit fünfzehn Jahren hat dort die Baltic Sea Philharmonic unter Leitung des estnischen Dirigenten Kristjan Järvi ihren Sitz, die sich an den jedes Jahr wechselnden Länderschwerpunkten beteiligt. In diesem Jahr wird Lettland im Mittelpunkt stehen, und dazu gehört auch Richard Wagner, über dessen Riga-Aufenthalt seine Urenkelin Katharina Wagner sprechen wird.

Vor allem aber wird man dort Ende September und Anfang Oktober jede Menge lettischer Musik kennenlernen können, sowohl in Sinfoniekonzerten als auch in Kammerbesetzung an vielen idyllischen Orten, bis hin zu einer Präsentation der Lieder, Tänze und Geschichten der Liven, eines finnischen Stamms an der Nordostküste Lettlands. Ein Orchester aus lettischen, belgischen und ukrainischen Musikern stellt die Musik des ukrainischen Schostakowitsch-Zeitgenossen Boris Ljatoschynsky neben polnische Komponisten. Im Abschlusskonzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters dirigiert Mikko Franck die Erste von Sibelius neben einer sinfonischen Dichtung von Jāzeps Vītols, und Anna Vinnitskaya spielt das 1. Klavierkonzert von Rachmaninow.

In den Usedomer Literaturtagen hat das Musikfestival seit fünfzehn Jahren im Mai eine gar nicht mehr so kleine Schwester. „Zeitenwende“ lautet das passende Motto in diesem Jahr. Die junge finnische Schriftstellerin Sofi Oksanen erhält den Usedomer Literaturpreis. Die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ist nicht zum ersten Mal auf Usedom; sie liest aus ihrem tiefgründigen neuen Roman „Empusion“, einer sehr eigenen Art schlesischer „Zauberberg“. Und neben Thea Dorn und Ana Marwan war auch Peter Stein eingeladen, der legendäre Schaubühnen-Regisseur. Inzwischen 85 und immer noch aktiv, wollte er aus seiner Übersetzung der „Orestie“ des Äschylos lesen und dann mit Manfred Osten über die Ursprünge unserer Demokratie sprechen.

Die Stadt Athen hatte damals drei Autoren bestimmt, die im Wettstreit drei Tragödien präsentieren sollten. Äschylos schilderte in der dreiteiligen „Orestie“ eine große Krise: den Punkt, wo das Racheprinzip, das immer neue Opfer fordert, gebrochen wurde durch das Prinzip der demokratischen Entscheidung. Stein: Der Wahn sorge für den Ausbruch der Krise, in der die Dinge sich scheiden. Im Leiden lernten die Personen, so dass der Wahn zum Ausgangspunkt des Lernens werde.

Peter Stein trug die zentralen Passagen vor. Orest wird gejagt von den Erynnien, weil er seine Mutter getötet hat. Auf zwölf Stühlen sitzen sie um Orest herum, der damit verloren ist. Doch da fliegt Pallas Athene herein als Deus ex machina. Gegen den Chor, der Rache fordert, setzt sie ein ordentliches Gericht durch. Bei gleicher Stimmenzahl entscheidet ihre Stimme: in dubio pro reo. So wurde damals in Athen ein neues System eingerichtet, die Demokratie – unvollkommen, da es Sklaverei gab und die Frauen ausgeschlossen wurden. Die wichtigste Neuerung dabei für Peter Stein: Über die Staatsform kann diskutiert und entschieden werden. Die USA hingegen sind für ihn kein Vorbild der Demokratie, sondern eine Oligarchie.

Eigentlich sollte das Gespräch mit Manfred Osten sich noch weiter entfalten, doch dazu kam es nicht mehr. Die Veranstaltung hätte im Kaisersaal des Hotels Kaiserhof stattfinden sollen. Doch dort sprudelte plötzlich lautstark Wasser aus der Wand, so dass sie in die Villa Esplanade verlegt wurde. Eine halbe Stunde nach Beginn begann einer der modernen Scheinwerfer, seine eigene Farblichtshow zu entwerfen. Das war noch akzeptabel, doch nach einiger Zeit begann es auch noch brenzlig zu riechen. Dem Hausmeister blieb nichts anderes übrig, als den Saal zu räumen. Nüchtern stellte Peter Stein fest: „Nach der Wasserprobe hatten wir nun auch die Feuerprobe.“ Die „Zauberflöte hatte er 2016 an der Mailänder Scala inszeniert.

Musik ist für ihn nur ein Nebenfeld. Doch im Jahr 1997 arbeitete Claudio Abbado zweimal mit Peter Stein zusammen. Wie sich zeigte, aus gutem Grund. Das erste Werk war Alban Bergs „Wozzeck“, ein revolutionäres, aber nicht aufrührerisches Stück. „Es entstanden Szenen von einer Dichte, die den Zuschauer unmittelbar berührte“, schrieb ich damals in der Opernwelt. „Im Einklang mit der Musik läßt Peter Stein deutlich werden, wie die Welt immer unerträglicher wird für Wozzeck, wie das Gezänk von Doktor und Hauptmann (Kabinettstücke für Aage Haugland und Hubert Delamboye) schier seinen Schädel sprengt, die Eifersucht angesichts Maries Untreue ihn aus dem Gleis wirft und der Hohn des Tambourmajors vor den Kameraden bloßstellt. Auf konservative Art erzählt Peter Stein die Geschichte mit seinen bewährten Mitteln, und das funktioniert.“

Auch bei einem seiner programmatischen Konzerte in der Philharmonie zog Abbado Stein hinzu. „Wanderer“ hießen zwei dieser Konzerte, und dazu gehörte Beethovens „Egmont“-Musik: „Der umherschweifende Wanderer kehrt sich ab von der engen Zielstrebigkeit des Bürgers. Er sucht die Freiheit,“ schrieb ich in der FAZ. „Beethoven wusste noch, wohin die Wanderung geht. Auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Musik ging es in revolutionärer Romantik gegen den Tyrannen und vorwärts zum freien Volk. Damit das auch bemerkt wird und die Zuhörer bei der Schauspielmusik zu Goethes „Egmont“ nicht bloß in gläubiger Beethoven-Verehrung verharren, war Peter Stein dazu engagiert, das Drama zwischen den Stücken in Kurzform zu referieren; das hatte mitreißende Wirkung. Nicht nur durch die feurigen Märsche der Aufständischen – und die finsteren der spanischen Unterdrücker –, sondern vor allem durch die Vermenschlichung, die Stein Egmont zuteilwerden ließ.“

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