Serebrennikov Wiener Parsifal

Der gefangene Gralskönig

An der Wiener Staatsoper bewährt sich der „Parsifal“ von Kirill Serebrennikov und Philippe Jordan auch mit neuer Besetzung!

Von Roberto Becker

(Wien, 6. April 2023) Es hat etwas sympathisch Unzeitgemäßes, aber das Osterwochenende wird rein spielplantechnisch vielerorts wie etwas besonderes behandelt. Osterfestspiele in Salzburg und als jüngere Konkurrenz die in Baden-Baden. Diesmal mit einem aus München übernommenen „Tannhäuser“ hier und einer neu produzierten „Frau ohne Schatten“ im Zentrum dort. Das haargenau passende Osterei ist aber allemal Wagners „Parsifal“. Das musikalisch so einschmeichelnde Naturwunder, das Richard Wagner eingebaut und „Karfreitagszauber“ genannt hat, ist ein nützlicher Vorwand, um das Bühnenweihfestspiel zu Ostern auf den Spielplan zu hieven. Zumindest an Häusern wie der Staatsoper Wien, die das weihevolle Prunkstück aus dem Wagner-Kanon im Repertoire und das entsprechende Personal zur Verfügung haben, es angemessen zu präsentieren. In Wien gelingt diese Terminpunktlandung allerdings „nur“ Gründonnerstag. Am Karfreitag kommt man dort zwar in jedes Museum und jeden Konsumtempel, aber in kein Theater oder Opernhaus, denn die haben an diesem Tag ihre Pforten geschlossen.

In der Wiener Staatsoper ist „Parsifal“ ein Stammgast. Die Wiener Philharmoniker haben dieses Wagner-Hochamt quasi in den Genen. Und Philippe Jordan steuert vom Pult aus seine Erfahrung mit dem Bayreuther Orchester ebenso bei, wie die in Paris, wo er mit einem weiteren Weltklasseorchester in der Opera Bastille seinen Erfahrungspool im Umgang mit großen Stücken in großen Häusern aufstockte. Sein aktueller „Parsifal“ ist, wenn man so will aus einem Stück, zielt nicht auf jenseitige Verklärung, sondern folgt der weltzugewandten Sicht dieser Inszenierung.

Die szenische Neuerarbeitung bot gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum: es gibt dabei nur die Titelfigur doppelt, auch die Premiere fand im Grunde doppelt statt. Am 14. April 2021 mitten in der Lockdownzeit als Streamingpremiere im Netz. Was neben den Nachteilen, die das hatte, wenigstens den Vorteil eines freien Zugangs für alle, die das wollten, bot. Im Dezember dann hob sich auch für ein Publikum vor Ort der Vorhang für diese Neuinszenierung. Die ist in mehrfacher Hinsicht das Gegenteil ihrer Vorgängerin. 2017 hatte Alvis Hermanis die Gralswelt noch in einem (prachtvoll ausgestatteten) Jugendstil-Exzess erstarren lassen.

Die Inszenierung von Kirill Serebrennikov (53), die nicht nur seinerzeit am Bildschirm einen starken Eindruck hinterließ, sondern auch live, im Saal ihre Spannung hält und Wirkung entfaltet, lebt nicht nur von ihrer dramaturgischen Grundidee, sondern auch von ihrer detailfreudigen Personenregie, die den Protagonisten auch erhebliche darstellerische Intensität abverlangt.

Zudem ist der Russe Serebrennikov nicht nur mit Haut- und Haaren ein leidenschaftlicher Theatermann. Seine Arbeit ist auf solitäre Weise mit den Verwerfungen unserer unmittelbaren Gegenwart verbunden. Inszeniert hat er diesen „Parsifal“ (ebenso wie z.B. seine Zürcher „Cosi fan tutte“, die jetzt gerade an der Komischen Oper in Berlin als Auftakt für seinen DaPonte-Zyklus übernommen wurde) nämlich noch vom Moskauer Hausarrest aus.

Vor einem Jahr, im April 2022, konnte er der politischen Repression gegen aufmüpfige Künstler (und der homophone Hysterie in seiner Heimat) entkommen und lebt seit dem in Berlin. Für die Pariser Bastille- Oper bereitet er gerade einen „Lohengrin“ zur Eröffnung der nächsten Spielzeit vor.

Heute hält es Serebrennikov geradezu für einen Glücksfall, dass der Prozess gegen ihn, bei dem er 2020 zu drei Jahren bedingter Haft verurteilt worden war, noch vor dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine stattfand, so gegenüber dem Wiener „Falter“. Bezogen auf seine Ausreise meinte er, dass man wahrscheinlich „alle Leute loswerden wollte, die kritisch denken, die zu Protest neigen, die unangenehme Dinge in ihrer Kunst ausdrücken und auf deren Loyalität das Regime nicht zählen kann.“

Betrachtet man die Welt, in die Serebrennikov als sein eigener Ausstatter den Gral verlegt hat, dann wird klar, was er damit meint. Hier ist die Welt, in die wir eintauchen, ein Gefängnis, in dem auch der Gralskönig Amfortas nur ein wenn auch prominenter Gefangener ist. In seiner – ganz und wortwörtlich – körperbetonten Personenregie zeichnen die Gefangenen beim Hofgang ein filmreifes Porträt einer geschlossenen (besser hinter Schloss und Riegel verschlossenen) Gesellschaft. Mit Hierarchiestrukturen, latenter Gewalt, Machoverhalten und einer Flucht in irgendeine Art von Erlösungssehnsucht, die sie sich – vom Speer bis zum Kelch – von Gurnemanz auf die Haut tätowieren lassen. Kundry ist hier kein Zauberwesen, sondern eine Besucherin von außen. Eine, die nach Motiven für ihr Magazin sucht und es in Parsifal findet.

Bei Serebrennikov gibt es den als sich erinnernden, wissenden, aber am Ende dennoch letztlich ratlos resignierenden, allein zurückbleibenden Gralskönig ohne Krone und Volk, und als jungen Burschen, der nicht nur in diese trostlose Welt hinein gerät und für Kundry zum Objekt der Begierde wird, sondern der sich auch schuldig macht. Im parallel zur und über der Bühnenhandlung ablaufenden, gut gemachten Film, sieht man, wie sich dieser Parsifal (Nikolay Sidorenko) vor dem (nun ja mit Klischees aufgeladenen) Gang in die Dusche als Selbstschutz eine Rasierklinge auf die Zunge legt. Damit wehrt er aber, wie im Affekt, die Annäherung eines albinohaften Jünglings mit tätowierten Schwanenflügeln auf dem Rücken ab. Er schneidet dem sich ihm nur zaghaft aber zärtlich Nährenden mit dieser Klinge die Kehle durch, so dass der verblutet. Man kann das einerseits als einen Exkurs zur eskalierenden, mit dem Segen der Kirche versehenen Homophobie in Russland lesen. Es fügt sich aber auch in die Logik dieser Inszenierung.

Auch Kundry erwehrt sich hier des Machtanspruches von Klingsor mit Gewalt. In der Redaktion ihres Magazins macht sie „ihren“ speziellen Gefangenen auf Freigang (oder befreiten? egal) zum Star-Modell für ihre Fotostory, will dann aber mit vorgehaltener Waffe mehr erzwingen. Doch sie reißt, ganz thrillerlike, im letzten Moment die Waffe herum und erschießt Klingsor. Im dritten Aufzug schließlich wird die letzte Gralsenthüllung zu einem Akt der großen Befreiung für alle. Wohin sie ihr Weg führen wird, bleibt freilich ungewiss. Ob es eine Erlösung für die Befreiten gibt, mag ja sein. Dass es die erlöste Welt nicht gibt, in die sie strömen, sieht man dem Parsifal am Ende an.

Bei der ersten Vorstellung der kleinen Parsifal-Serie um Ostern 2023 war Klaus Florian Vogt der Parsifal. Die Wiener Staatsoper ist eins der wenigen Häuser, die sich vorn anstellen können, wenn es um die Besetzungen geht, also wenn sich Jonas Kaufmann in Salzburg am Tannhäuser versucht, dann eben Vogt aufbietet. Der auf den Lohengringlanz abonnierte Vogt hat in letzter Zeit schon des öfteren damit geglänzt, dass er zum hellen Glanz auch gereifte vokale Substanz und Gestaltungskraft hinzuzufügen vermag. Sein Parsifal jedenfalls ließ alle diesem Sänger zugeschriebenen Vorzüge aufscheinen, fügte denen aber eine neu gewonnene Reife hinzu.

Als Kundry brauchte auch Ekaterina Gubanova nicht allzu lange, um mit ihrer vollklingenden, runden Stimme restlos zu begeistern und das für Elina Garanca maßgeschneiderte Rollenporträt mit ihrer eigenen Attraktivität auszufüllen. Franz-Josef Selig setzte mit seiner profunden Ausstrahlung szenisch eigene Akzente als höchst eloquenter aber nie aktionistischer Gurnemanz. Derek Welton bot Klingsorformat, ohne dabei ins Monströse abzudrehen. Michael Nagy profilierte einen leidenden Amfortas als Erster unter Gleichen. Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen waren handverlesen auf Staatsopernniveau besetzt. So fügte sich alles zu einem Gesamtkunstwerk, das nichts von einem Ersatzgottesdienst, aber viel mit den Gefährdungen unserer Welt zu tun hatte. Diese Inszenierung mag für Wiener Operngourmets zwar eine ziemlich Herausforderung sein; die Geschichte ihrer Entstehung sicherte aber ein viel größeres Publikum. Für Serebrennikov ist das keine schlechte Pointe. Und für die Wiener Staatsoper auch nicht.

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