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Sciarrinos Stradella-Oper in Berlin

Alles nur Theater?

Musikalisch ist die Uraufführungsproduktion von „Ti vedo, ti sento, mi perdo“, der neuen Oper von Salvatore Sciarrino, ein Triumph an der Berliner Staatsoper

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 7. Juli 2018) Salvatore Sciarrino ist ein Meta-Musiker. Er hat die avancierten Klänge unserer Zeit nicht weniger im Blut als Helmut Lachenmann, aber er ist auch fasziniert von der Musik des Barock und der Renaissance. Vor allem von den seltsamen Schicksalen der Komponisten jener Zeit – allen voran Gesualdo Fürst von Venosa, der als Mörder seiner Frau und von deren Liebhaber berühmt wurde, nun aber auch von Alessandro Stradella, der nach einem ausschweifenden Liebesleben einem Mord zum Opfer fiel. Und schon einigen romantischen Opern als Held diente, so bei Friedrich von Flotow.

Seine Oper „Ti vedo, ti sento, mi perdo – In attesa di Stradella“ (Dich sehen, dich spüren, mich verlieren – Warten auf Stradella) wurde im November 2017 an der Mailänder Scala uraufgeführt in der Inszenierung von Jürgen Flimm, Ex-Intendant der Lindenoper; Lindenopern-GMD Daniel Barenboim war bis 2017 auch Musikdirektor der Scala, und so kam die Uraufführungs-Produktion nun auch nach Berlin. Die musikalische Leitung lag in den Händen des jungen Franzosen Maxime Pascal. Er hält die Fäden des fragilen Gespinstes wunderbar zusammen, das Sciarrino aus gegenwärtigen und alten Klängen, für die Staatskapelle im Graben und deren Solisten in den Proszeniumslogen und die Sänger auf der Bühne im wahrsten Sinne des Wortes „komponiert“ hat. Der Abend atmet ein und atmet aus, haucht, hält die Luft an – und singt dann auf einmal aus vollem Hals.

Vor allem singt Laura Aikin, sie ist die Sängerin auf der Bühne, die eine Aufführung Stradellas probt. So lange der mit diversen Damen beschäftigte Komponist Stradella nicht auftaucht, singt sie eben andere Sachen – schon alleine wie sie diese umfangreiche Partie nicht nur durchhält, sondern auch mit Leben erfüllt, ist bewundernswert. Sie trällert und kokettiert, singt schmiegsame Melodien und schüttet ihr Herz aus – und wartet immer wieder neu auf Alessandro Stradella. Den ganzen Abend vergebens. Am Ende wird die Todesnachricht sie niederschmettern: Stradella wurde ermordet.

Die Konstellation auf der Bühne gleicht der von „Capriccio“ von Richard Strauss: Ein Musiker und ein Dichter verplaudern die Wartezeit, während sie der Diva mehr oder weniger Aufmerksamkeit schenken. Mit dem Bariton Otto Katzameier als Literat hat Laura Aikin einen erfahrenen Sciarrino-Kämpen an ihrer Seite, der sehr genau mit dem Sciarrino-Stil vertraut ist und gerade erst in Lübeck wieder den Herzog in „Luci mie traditrici“ gesungen hat (siehe klassikinfo.de vom 6. April 2018). Die gestauchten, wie im Schock ausgestoßenen Laute werden bei ihm Ausdruck einer beredten Sprachlosigkeit. Nicht weniger virtuos geht der Tenor Charles Workman mit der Partie des Musikers um, die beiden sind ein kongeniales Paar.

Auch einen sechsköpfigen Chor hat die Sängerin bei sich, um die Zeit zu überbrücken. Gleich am Anfang finden sich in dieser Plauderei gängige Sciarrino-Hausnummern wie Cato, Borromini, Caravaggio, Orpheus, Sirenen. Natürlich geht es um den Ur-Musiker Orpheus, dessen abgeschlagenes Haupt noch auf den Wellen des Meeres sang – dieses Bild wird am Ende, nach der Todesnachricht des „neuen Orpheus“ Stradella auftauchen – und um die todbringenden Anti-Sängerinnen der Sirenen. Alles Ur-Topoi der Oper, immer wieder gut zum Erinnern: Vom „Echo des Begehrens“ singt die Sängerin und trifft damit sehr gut den Charakter von Sciarrinos Bühnenwerken, ja den Kern seiner Musik.

Für weitere Plaudereien zum Zeittotschlagen sind die fünf Diener (Sónia Grané, Lena Haselmann, Thomas Lichtenecker, Christian Oldenburg und Emanuele Cordaro) zuständig. Hemmungslos ziehen sie über die Herrschaften und die Zeitläufte her. Doch um was geht es eigentlich in dieser Oper über einen abwesenden Komponisten? „Schlaft, Augen, schlaft,“ mit diesen Worten singt ein „Junger Sänger“, kostümiert wie man sich im Barock einen Orpheus vorgestellt haben mag, das Requiem für den toten Komponisten, „und wenn innerer Krieg manchmal euch aufsperrt, den Tränen nur öffnet die kranken Pupillen.“ David Ostrek aus dem Opernstudio und als Einziger nicht schon in Mailand dabei, singt die traurige Botschaft nicht nur vom Tod eines Komponisten, sondern vom Tod der Musik mit Wärme.

Das Regieteam hat die fragmentierte Handlung fraglos werktreu umgesetzt. Ursula Kudrna hat alle Beteiligten in opulente Barockkostüme gesteckt (die Schau sind die Bühnenarbeiter, die in langen schwarzen Kutten mit weißen Halskrausen auftreten). George Tsypin hat ein Barockbühnchen bauen lassen, das von vier Tsypin-typischen Glassäulchen umrahmt wird. Und darum herum gibt es noch ein unglaubliches Gewimmel an Dekorationen, Menschen und Aktionen (sogar eine als Ballettratten verkleidete Kinderkomparserie tapst über die Bühne), für die es nur eine einzige Erklärung gibt: Horror vacui. Das Theater führt seine Mittel vor: Wie oft haben wir das schon gesehen.

Nur in wenigen Momenten entsteht Verzauberung, aber auch die wirkt gemacht und wird ausgewalzt, etwa wenn zu einem pompösen Barockmarsch zweimal Konfetti in den Graben gestreut wird, obwohl das für die Musiker gewiss schon einmal zu viel gewesen sein muss. Geht es in Sciarrinos neuer Oper denn tatsächlich nur um selbstreferentielle Betrachtungen von Theaterleuten? Geht es am Ende gar um den Tod des Theaters schlechthin? Weniger wäre hier mehr gewesen für das zarte Gewebe, das der Komponist gesponnen hat. So freuen wir uns auf eine zweite Produktion, die den Traumklängen Sciarrinos mit mehr Einfühlungsvermögen folgt, weniger konventionelle Wege geht und nicht auf die wohlfeilsten Lacher setzt – wo immer sich eine Bühne dafür finden mag.

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Schostakowitschs Die Nase an der Komischen Oper Berlin

Tod der Nase

Barrie Kosky und Ainars Rubikis lassen bei Schostakowitschs „Nase“ die Sau raus. Und das Publikum ist begeistert.

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 16. Juni 2018) War je ein Mensch glücklicher als Platon Kusmitsch Kowaljow? Endlich kann er wieder in der Nase bohren! Einen schrecklichen Tag lang war die Nase weg gewesen. Ein unmöglicher Zustand. Nicht gesellschaftsfähig, äußerste Erniedrigung! Jetzt sitzt sie wieder mitten im Gesicht. Und sogleich fällt Kowaljow zurück in seine alten Unarten, als wäre nie etwas gewesen. Günther Papendell spielt diesen Niemand, der sich plötzlich, von Panik gepeitscht, durch die Untiefen der russischen Gesellschaft gejagt sieht, mit vollem Einsatz. Ständig auf der Bühne, führt er mit Selbstverleugnung einen Seelenstriptease vor, stöhnt, grunzt, furzt mit seiner Stimme, die doch sonst so edel klingt (was sie aber trotzdem manchmal tut an diesem Abend), trägt die Aufführung mit totaler Hingabe. Er darf sich zu Recht feiern lassen am Ende dieses Abends in der Komischen Oper, nach zwei pausenlosen Stunden, in denen „Die Nase“ am Publikum vorbeigerast ist.

Kaum zu glauben, dass ein Zwanzigjähriger die Idee zu dieser Oper hatte, ein Zweiundzwanzigjähriger sie vollendete – Schostakowitschs Opernerstling wurde im Januar 1930 in Leningrad uraufgeführt. Der Komponist liebte Gogols surrealistische Erzählungen, und „Die Nase“ schien ihm ganz besonders geeignet, mit dem bürgerlichen Opernplunder aufzuräumen, der immer noch die sowjetischen Bühnen beherrschte. Folglich schrieb er eine Musik, die sich von allen Gefühlsduseleien frei hält und alleine die Theatermechanik bedient. Bei den Herrschenden kam das nicht gut an, die wollten das Publikum lieber eingelullt wissen statt wach. „Die Nase“ verschwand für vierzig Jahre und wurde auf abenteuerliche Weise wiederentdeckt und erst 1974 an Boris Pokrowskis Moskauer Kammeroper aufgeführt; Dirigent war Gennadi Roshdestwenski. Diese Produktion, die im Oktober 1978 auch in Westdeutschland und Luxemburg gastierte, spulte die zehn Bilder auf offener Bühne ab und die Darsteller bedienten sich bei den Rollenwechseln an den Kleiderständern, die rechts und links von der Spielfläche standen – neben einem Dutzend Solisten, die mehrere Rollen übernehmen, verlangt die Partitur noch 16 Chorsolisten, die ebenfalls in verschiedenste Kostüme schlüpfen.

Auch Barrie Koskys Inszenierung, die nach London und Sydney nun nach Berlin kam (und noch nach Madrid weiterwandert), hält es nicht anders: den Albtraum, der Kowaljow widerfährt, kann man nur als Revue der gesellschaftlichen Schreckensszenen zeigen. Schostakowitsch war ja ein großer Mussorgski-Verehrer, und Kosky hatte unlängst mit gutem Grund die gleiche Revueästhetik an dessen „Jahrmarkt von Sorotschintzi“ angewandt. Otto Pichlers wilde Tanzboys geben die Stimmung vor, in Korsett und Straps, mit Perücke, mit Kopftuch, mit Bart, wie es gerade sein darf. Höhepunkt ihres wahnwitzigen Treibens ist eine Steptanznummer der Nasen. Und Kowaljows entlaufene Nase in ihrer Mitte – der kleine Lion Sturm läuft und läuft und läuft und ist nicht zu fangen. Und steppen kann er auch: fabelhaft! Gesungen wird die Nase, wenn sie in der Kathedrale inbrünstig betet und sich dann jeden Kontakt mit ihrem Besitzer verbietet, von Alexander Lewis, der auch als Kowaljows Kumpan Jaryschkin und als Eunuch eine gute Figur macht.

Klaus Grünberg und Anne Kuhn haben ein Bühnenrund aus großen blaugrauen Platten gebaut, das jeden Gedanken an Gegenständlichkeit ausschließt. Zum Zuschauerraum hin wird er durch eine Blende abgeschlossen, die die Szenen heran- und wegzoomen kann. Ein riesiger Tisch mit Stickdecke symbolisiert die Privatheit, in der man sich wähnt, hierauf steht der Küchentisch, auf dem die wütende Praskowja Ossipowna (Rosie Aldridge ist auch als Verkäuferin der Bubliki-Schmalzkringel eine Furie mit Durchschlagskraft) im Brotteig eine Nase findet und Iwan Jakowlewitsch verdächtigt, er habe sie beim Rasieren einem Kunden angeschnitten. Den singt der große Jens Larsen als hinreißende Charakterstudie, ebenso den umständlichen Leiter der Anzeigenredaktion, wo Kowaljow vergeblich eine Verlustanzeige aufzugeben versucht, und den gerissenen Arzt, der die wiedergefundene Nase zwar nicht wieder ankleben kann, sie aber gerne in Spiritus mitnähme.

Ein heutiges, zumal westliches Publikum würde die konkreten Anspielungen, die im Libretto vorhanden sind, gar nicht verstehen. Deshalb finden die Szenen im Irgendwo statt, und auch dort verstehen wir sie nur zu gut. Die deutsche Übersetzung spielt mit Wörtern wie „Entnasifizierung“, „Fake-News“ oder „Lügenpresse“ treffend mit. Das Verschwinden wie das Auftauchen der Nase an den verschiedensten Orten fördert menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Zustände zutage, und das ist das eigentliche Thema der Oper. Deshalb geht es nicht um Gefühle, sondern um Mechanik. Aus gutem Grund hat Schostakowitsch in etlichen Szenen Fugati geschrieben, auch in jenem legendären Zwischenspiel für neun Schlagzeuger, das erste reine Perkussionsstück der Musikgeschichte (vor Varèse!).

Die Sänger haben da nur die Aufgabe, Typen zu zeigen, und das tun sie allesamt großartig: Ursula Hesse von den Steinen als Pelageja Grigorjewna, die nur eines im Sinn hat: ihre Tochter an den Mann zu bringen, und wenn es sein muss, eben an Kowaljow, und Mirka Wagner als eben jene zickige Tochter. Caren van Oijen ist die alte Gräfin, Tom Erik Lie ihr Diener, Alexander Kravets macht ein Kabinettsstückchen aus dem irrsinnig hoch liegenden Tenor des Polizeihauptmeisters, Ivan Tursic ist der freche Diener Kowaljows, Christoph Späth Pjotr Fjodorowitsch – und alle brillieren auch noch in weiteren Rollen.

Schon an ihnen konnte sich Buki Shiff mit ihren witzig-bunten Kostümen austoben, aber den Vogel schießt sie in der großen Szene im Freien im dritten Akt ab, wo alle nur denkbaren Arten von Charakterfiguren zur Hetzmeute werden und darauf lauern, die Nase zu erspähen und womöglich totzuschlagen. Die Nase war nur der Auslöser, die Menschen demaskieren sich schon von selbst.

Deshalb ist in dieser Oper der subjektive Ausdruck verboten, auch für das Orchester. Ainārs Rubikis, der neue Musikchef der Komischen Oper, hat gut verstanden, dass es hier nicht auf Wohlklang ankommt, sondern auch Tempo, Koordination und Drastik. Er gibt dem Abend die Dynamik vor und das Orchester scheint daran richtig Spaß zu haben. Doch es regiert nicht nur der Wahnwitz. Beim dritten Zwischenspiel bleibt der blaue Vorhang hinter der Linse unten und das Orchester kann sich ganz auf diese wunderbare Musik konzentrieren, in der sich auf einmal alles Elend materialisiert. Und auch in der folgenden Szene spart Barrie Kosky seine Zauberdinge ein. Nach den Klischeegefühlen des Balalaikalieds seines Dieners bricht in Kowalkow die Verzweiflung durch und er gerät in jnen existentiellen Notstand, in dem man in der Oper wahrhafte Töne singen darf. Schostakowitschs Sarkastik veräppelt die Menschen nicht, sondern spielt ihnen ihre eigene Melodie vor, in der Hoffnung, den Verblendungszusammenhang zu durchbrechen. Für einen Moment ist Kowaljow das gelungen. Doch sobald seine Nase wieder an ihrem Platz sitzt, ist alles vergessen.

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Waltershausens Oberst Chabert in Bonn

Implosion des Leidens

Roland Schwab und Jacques Lacombe gelingt eine fulminante Wiederbelebung der Balzac-Oper „Oberst Chabert“ von Hermann Wolfgang von Waltershausen

Von Bernd Feuchtner

(Bonn, 17. Juni 2018) Der Höhepunkt liegt im Quintett am Ende des zweiten Aktes. Oberst Chabert wird nun klar, in welchen Widerspruch er mit seinem Anspruch geraten ist, nach zehn Jahren Verschollenheit wieder unter den Lebenden zu erscheinen und das junge Familienglück seiner Witwe zu zerstören; sein alter Korporal ist erfüllt von der Treue zu seinem Oberst und zum Kaiser; Rosine will das Leben ihrer Kinder schützen und den geliebten Mann nicht verlieren; Ferraud ahnt, dass er gegen Rosines ersten Mann keine Chancen hat und seine Liebe zu ihr nicht retten kann; Anwalt Derville versteht die Tragik des Konflikts und ahnt, dass es keine Lösung geben wird. In dieser Musiknummer von Beethoven‘scher Luzidität und Tiefe fasst Hermann Wolfgang von Waltershausen das Innenleben seiner Figuren auf geniale Weise zusammen – der Konflikt gerinnt zum Bild.

Kein Wunder, dass die Zeitgenossen „Oberst Chabert“ 1912 feierten – der Erfolg war dem des „Rosenkavaliers“ 1911 durchaus ebenbürtig und Hermann Wolfgang von Waltershausen konnte sich eine glänzende Karriere als Opernkomponist ausmalen. Mit Balzacs Novelle „Comtesse à deux maries“ hatte er eine Vorlage gewählt, die einen starken Konflikt auf nahezu kafkaeske Weise durchdekliniert und bezwingend steigert. Und dem jungen Grafen Ferraud legte er jugendstilige Linien in die Stimme, die dem Strauss‘schen Octavian an Geschmeidigkeit in nichts nachstehen. Peter Tantsits verleiht ihnen jene Eleganz, die nicht nur dem Ohr schmeichelt, sondern auch die unbeschwerte Adelswelt charakterisiert, in der er sich sicher fühlt, nicht erst seitdem er die Witwe des Kriegshelden Graf Chabert geheiratet hat und zum Peer von Frankreich aufgerückt ist.

Der Oberst lebt in einer anderen, härteren Klangwelt – Bariton Mark Morouse, pausenlos auf der Bühne, gibt ihr intensiven Ausdruck. In Bonn befindet er sich auch in einer anderen Bühnenwelt. Wenn der eiserne Vorhang wummernd aufgeht, sehen wir nichts als schwarze Trümmer. Hier haust der abgerissene Kriegsinvalide (Kostüme Renée Listerdal), hier will er heraus. David Hohmann hat eine überaus bildkräftige Metapher gefunden, die dem Publikum mit dem Grundkonflikt zugleich dessen Ursache vor Augen führt. Im Hintergrund agieren die Kanzleiangestellten, die sich mit dem Fall Chabert befassen müssen – Martin Tzonev und David Fischer jonglieren mit den Akten so leichthändig wie mit ihren Gesangslinien. Der Advokat Derville wirbelt herein wie der selbstverliebte Professor Börne und bemerkt dann doch als erster, womit er es in Wahrheit zu tun hat – Giorgios Kanaris macht diese Figur zur spannenden Charakterstudie. Die Projektion der Aktenregale im Hintergrund fängt leicht zu rotieren an, und wenn der Oberst energisch sein Recht einfordert, wechselt die Ansicht zu einer zerstörten Stadt, wie wir das aus Syrien kennen; die Penetranz des Eindringlings in die Pariser Wohlfühlwelt wird den Zuschauern unter die Haut getrieben (Video: Janica Aufmwasser, Niclas Siebert, David Sridharan).

Die ganze Last aber wird der Frau aufgeladen. Wie soll sie sich denn entscheiden? Dass sie ihre Kinder schützen und den geliebten Mann nicht aufgeben will, ist nachvollziehbar – dem Zuschauer stehen da einige Wechselbäder bevor. Denn es stellt sich heraus, dass sie schon am Hochzeitsmorgen jenen ersten Brief Chaberts erhalten hatte, in dem er – allerdings nicht mit eigener Hand – von dem unwahrscheinlichen Wunder seiner Rettung berichtet hatte. Sollte sie damit ihren Bräutigam verschrecken? Als der zweite Brief kam, war das erste Kind geboren, und danach begann Chaberts Weg durch die Irrenhäuser. Nun, nach zehn Jahren, kommt er selbst und fordert sein Recht. Sopranistin Yannick-Muriel Noah gestaltet die Seelennöte der jungen Frau aufs eindringlichste und findet immer wieder auch zarteste Töne. Damit macht sie sich mehr und mehr zur eigentlichen Hauptfigur der Oper (was sie bei Balzac ja auch war) und widerlegt damit Denis Scheck, der im Programmheft schreibt: „Ihre Liebe gilt allein ihrem Vermögen.“ Waltershausens Musik geht einen anderen Weg als Balzacs bissige Erzählung.

Die Stärke von Roland Schwabs Inszenierung liegt darin, dass er alle Ambivalenzen offen hält und jede Figur zu ihrem eigenen Recht kommen lässt – das beschert der Bonner Oper einen überaus spannenden Abend. Mit dem Dirigenten Jacques Lacombe, der schon die Berliner Ausgrabung 2010 geleitet hatte, ist er sich darin einig, dass Waltershausens Figuren leuchten müssen, wenn seine die Oper ihre Wirkung entfalten soll. Indem Schwab die Pariser Lebewelt mehr und mehr in Chaberts Wüstenei hineinzieht, wo die Menschen buchstäblich den Halt verlieren, implodiert ihre Sicherheit. Jeder denkt nur noch an sich, vor allem die beiden Grafen, die Rosine mit ihren Ansprüchen überschütten und von ihr die Entscheidung verlangen, Sklaven der Ehre, die sie sind. Chabert hatte sie als 17-jähriges Ding an sich gebunden und war schon nach einem halben Jahr in den Krieg gezogen – wie hätte sie da anfangen können, ihn zu lieben? Dann kam Ferraud mit seiner glühenden Liebe – wie hätte sie ihm widerstehen können?

Franz Schuberts Oper „Der Graf von Gleichen“ behandelt einen ähnlichen Konflikt. Als der Graf auf dem Kreuzzug in türkische Gefangenschaft gerät, bewahrt seine Frau ihm die Treue. Die Tochter des Sultans verliebt sich in ihn, wird Christin und verhilft ihm zur Flucht. Nach seiner Rückkehr stellt die Gräfin die junge Türkin zur Rede – und schlägt eine Ehe zu dritt vor, zu der dann sogar der Papst seine Zustimmung gibt. Bei Waltershausen wird eine Lösung jedoch nicht einmal angesprochen, es muss zwangsläufig und absehbar zur Katastrophe kommen. Die Schuld wird in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig der Frau aufgebürdet, die keine Chance hat, außerhalb der Ehe selbstständig zu überleben.

Waltershausen lässt Chabert zur Pistole greifen, um wieder aus einem Leben zu verschwinden, in dem er nur noch als Eindringling betrachtet wird. Angesichts seiner Leiche erkennt Rosine seine Größe und nimmt Gift. Wir würden diese seltsame Form eines Liebestodes klaglos akzeptieren, wenn sie musikalisch so grandios beglaubigt würde wie der von Wagners Isolde – oder wie in jedem Quintett im zweiten Akt. Doch hier folgen die beiden Tode musikalisch etwas zu beiläufig aufeinander. Der schale Nachgeschmack eines Frauenopfers in der Männerwelt bleibt. Hermann Wolfgang von Waltershausen war ein Konservativer, der in diesem Konflikt wohl keine andere Lösung sah. Dass seine Oper später dem Vergessen anheimfiel, hatte nicht nur mit dem Weltkrieg zu tun, der zwei Jahre nach der Uraufführung ausbrach und das ständige Beschwören Napoleons durch die Marseillaise auf deutschen Bühnen unmöglich machte, sondern auch mit einem geänderten Blick auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft.

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Oper Antikrist als Erstaufführung in Mainz

Erlösung der Menschen von Dummheit und Verführbarkeit

Das Staatstheater Mainz präsentiert zum ersten Mal in Deutschland Rued Langgaards eindrucksvolle und originelle Oper „Antikrist“ – komponiert zwischen 1923 und 1930, doch erst 1999 uraufgeführt

Von Bernd Feuchtner

(Mainz, 3. Juni 2018) Am Anfang war die Einheit. Gott und Mephisto, weiß und schwarz, sind ineinander verschlungen wie Ying und Yang. „Movibile. Angelico“ hat Rued Langgard die kanonartige Streichermusik überschrieben, die im Vorspiel auf die Auftaktfanfare folgt. Nach einer kurzen Schlagzeugpause folgt das Gleiche in den Holzbläsern noch einmal. Für die deutsche Erstaufführung der Oper „Antikrist“ am Staatstheater Mainz zog Regisseur Anselm Dalferth daraus die Konsequenz, den biblischen Antichrist nicht als eine eigene Figur auf die Welt loszulassen, sondern als die Folge der Teilung von Gut und Böse darzustellen. In den fünf Bildern seiner einzigen Oper hat Langgaard ohnehin „das Irrlicht“, „die Hoffart“, „die Hoffnungslosigkeit“, „die Begierde“ und den „Streit aller gegen alle“ als Allegorien des Antichrist gestaltet. Nachdem die Welt in heilloses Chaos gestürzt ist, beendet Gott das Experiment und vereint sich wieder mit seiner dunklen Hälfte.

Rued Langgaard ist ein gutes Beispiel für die gesellschaftliche Verflechtung der Kunst. Geboren wurde er 1893, vier Jahre vor Erich Wolfgang Korngold – beide waren kompositorische Wunderkinder. Doch während Korngold unter der Kandare seines Vaters engstens in die Wiener Tradition eingehegt war, brach für Langgaard mit dem Ersten Weltkrieg die gute Verbindung des Kopenhagener Bürgersohns mit Berlin ab. In Dänemark hatte er keine Chance gegen seinen einzigen Gegner Carl Nielsen, der das Musikleben beherrschte, seine Werke wurden samt und sonders verhöhnt. Vor allem in Karlsruhe fand er noch ab und zu ein Echo, doch im Wesentlichen war er isoliert und entwickelte sich zum Sonderling, der sich von der weiteren Entwicklung der europäischen Musik abkoppelte und keinem Streit aus dem Weg ging. Mit 47 Jahren bekam er endlich eine feste Stelle als Domorganist in einer dänischen Provinzstadt, wo er mit 58 Jahren auch starb. In all diesen Zeiten komponierte er eine gewaltige Menge an Werken, die allesamt ungewöhnliche Wege gingen – manchmal regressiv im Verhältnis zur internationalen Entwicklung, manchmal progressiv in exzentrischen Neuerungen.

Das Libretto schrieb Langgaard sich selbst – auch dies bedeutete die Ausschaltung einer gesellschaftlichen Kontrollinstanz. So war der Künstler seinem eigenen Furor vollständig ausgeliefert, und dieser speicherte sich offenbar nicht nur aus der Wut über eine als feindselig und oberflächlich empfundene Umgebung, sondern auch aus anderen, verdeckten Frustrationen. Nach dem Tod der Mutter heiratete er mit 33 Jahren das Mädchen, das diese schon früher zu seiner Versorgung ins Haus genommen hatte – eine Liebesheirat war das nicht. Die Verteufelung der Fleischeslust im vierten Bild hat für die Entstehungszeit schon wunderliche Züge, vergleicht man sie etwa mit der gleichzeitig entstandenen Dreigroschenoper.

Andererseits verdankt das Werk dieser Isolation eben auch seine Einzigartigkeit. Der Mainzer GMD Hermann Bäumer war darauf aufmerksam geworden und setzte sich mit Energie für die Realisierung ein. Und was für eine farbensprühende, originelle Partitur ist das! Langgaard hat damals in Berlin offenbar die Partituren von Richard Strauss gut studiert und nutzt harmonische und instrumentale Raffinesse des Orchesters noch kräftiger als dieser – als Farbvaleurs. Es geht ihm nicht um Originalität oder darum, die Nase vorne zu haben, sondern um den Ausdruck – man könnte seine klanglichen Mutwilligkeiten mit den schrillen Farben von Max Klinger vergleichen, die die Sinnlichkeit reizen sollten. Das Staatsorchester bringt das großartig zum Klingen, verdeutlicht aber auch, dass Langgaard in weit gespannten Bildern denkt, also eigentlich eine statische Musik schreibt, wie ein Relief, in das andere Materialien eingelagert sind.

Im Prolog entpuppt Luzifer (Peter Felix Bauer) sich als Sänger, während Gott (Ivica Novacovic) nur ein paar Worte zu sagen hat – die Konstellation erinnert verblüffend an Schönbergs „Moses und Aron“. Im ersten Bild zwitschern Alexandra Samouilidou und Saem You charmant und unschuldig von paradiesischen Gefilden. Irrlichternd verwirren sie die Menschen, die in hohe Türme entführt werden, von denen aus Gott und Luzifer das Geschehen beobachten. Ralph Zeger hat eine Bühne geschaffen, die schlicht aussieht, aber viel kann – die fünf Türme können einzeln stehen, sich aber auch zur Wand formierten, auf die projiziert wird; hier etwa aufblühende Rosen, die sich dann aber wieder schließen: „Nebel verhüllen unseren Garten, die Nacht kommt bald.“ Langgaard gab genaue szenische Anweisungen, doch das Regieteam entschied sich für eine bunte Menschenwelt von heute mit einfachen Tischen und Stühlen, womit sich gleichwohl farbenfrohe und eindrucksvolle Bilder schaffen ließen. Die raffinierten Kostüme von Mareile Krettek haben hohen Schauwert.

Sopranistin Nadja Stefanoff ist dann mit Eloquenz und gleißender Klangpracht der Mund, der große Worte spricht, also die Hoffart. Im grauen Anzug agitiert sie die Menge, als Kopf trägt sie einen großen Ballon, auf dem ein rotes Lippenpaar unermüdlich in Bewegung ist. Für dieses Bild gab der Komponist Luca Signorellis Gemälde im Dom von Orvieto als szenische Vorlage an. Und wieder ist vom „Kirchen-öden-Lärmen“ die Rede, begleitet von der Reibung eines Dur- an einem Moll-Akkord in einem kurzen Erinnerungsmotiv, womit offenbar das Versagen der Kirche nicht nur in jener Endzeit gemeint ist, in der Langgaard sich zu befinden wähnte. Mainz war ja bis zu Napoleon ein katholischer Kirchenstaat und wenn man im Mainzer Dom die prunkvollen Grabdenkmäler der Bischöfe betrachtet, hat man den Eindruck, diese wären vor allem mit ihrer eigenen Unsterblichkeit beschäftigt gewesen, aber weniger mit dem Heil der Menschen. Langgaards Oper ist die richtige Wahl für diese Stadt.

Für die dritte Szene „Der Missmut“ stellte sich der Komponist Dürers „Melancholie“ vor, während in Mainz die Sopranistin Geneviève King bildmächtig ihre Strippen über den Bühne gespannt hält, mit denen sie die Menschen einfängt, wiederum eine eindrucksvolle Sopran-Leistung zu tänzerisch-verlockender Musik, deren mechanische Wiederholungen die Blindheit derer anprangern, die darauf hereinfallen. Äußerst verlockend ist auch der Fleischberg, in dem die Große Hure steckt. Aus ihm löst sich das „Tier in Scharlach“ – Lars-Oliver Rühl kommt als rote Schweinehälfte daher und preist die Genüsse des Lebens ebenso wie das Töten beim Tanz. Vida Mikneviciute aber hat mit der Großen Hure die attraktivste und ausschweifendste Partie der Oper ergattert und erfüllt sie auch dann noch mit Wohlklang, wenn sie gegen das lauteste Wettern des Orchesters ansingen muss.

In der fünften Szene kommen noch die Lüge und der Hass hinzu, um den Streit aller gegen alle anzufachen – Alexander Spemann als tenoral-scheinheiliger Bürger am Stock und Michael Mrozek im grau vergipsten Anzug machen fabelhafte Charakterstudien daraus. Aber es folgt noch ein sechstes Bild „Die Verdammnis“. „Gott ist tot,“ ruft eine Stimme, im katholischen Mainz ist es Luzifer. Doch Gott ist stärker, lässt Luzifer ans Kreuz nageln und versammelt darunter die Menschen zu seinem Lobgesang: Es ist eben jene unendliche englische Streicher-Melodie aus dem Vorspiel, zu der die Menschen jetzt ihr Preislied singen.

Langgaard hatte genaue Vorstellungen, wie sein Endzeitepos auf der Bühne aussehen sollte: „Es ist eine Sage über Gotteshass, über Macht, Lust, Illusion und Blendwerk, über Gesetzlosigkeit, die sich selbst verzehrt, über Gottlosigkeit, die ein schlechtes Ende findet, und über den Menschensohn, der als Licht kommt, um über die Menschheit zu richten. Diese biblischen Szenen sind keine weltfremden Fantasien, sondern zeigen die Realität, so wie sie ist. Sie zielen über die Automobile, das Radio und Figuren des alltäglichen Lebens hinaus in das Lebensdrama unserer Zeit hinein.“ Natürlich hätte man auch noch den Atompilz, den Holocaust und das Bienensterben als Illustration menschlicher Verblendung zeigen können, doch bei so bildkräftiger Musik ist das gar nicht nötig. Musik und Text können durchaus für sich sprechen. Und für das Schlussbild ist dem Regieteam ebenfalls etwas eingefallen, was die Erlösung leicht ironisiert: Der Himmel überm Kreuz wölkt blau-rosa wie auf einem barocken Altar, und es entsteht eine Pierre-et-Gilles-Bild wunderbaren Kitsches. An eine so traumhafte Erlösung der Menschen von Dummheit und Verführbarkeit mag man dann gerne glauben.

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Das Ural Philharmonic Orchestra zu Gast in Berlin

Geigen fetzten wie im Wahnsinn

Das Ural Philharmonic Orchestra gastiert erstmals in der Berliner Philharmonie – und begeistert das Publikum mit Werken von Schostakowitsch, Borodin, Rimsky-Korsakow und Mussorgsky

 

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 22. Mai 2018) Schostakowitschs Zehnte riss das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin – doch auch mit einem populären, ausschließlich russischen ersten Konzertteil und mit der Gast-Sopranistin Olga Peretyatko überzeugten die russischen Musiker. Mit dem Ural Philharmonic Orchestra stellte sich eines der besten russischen Orchester zum ersten Mal in der Berliner Philharmonie vor. Der Klangkörper aus Jekaterinburg wird seit 1995 von Dmitry Liss geleitet, der es zu einem ungewöhnlich homogenen Ensemble geformt hat. Welcher Rang ihm in seiner Heimat zugemessen wird, lässt sich schon daran ablesen, dass es im neuen Konzertsaal des St. Petersburger Marien-Theaters eine eigene Konzertreihe hat.

Mit den explosiven „Polowetzer Tänzen“ von Alexander Borodin als Auftakt hatte das Orchester die Zuschauer auch gleich gewonnen: Weiche und Eleganz standen ihnen ebenso zur Verfügung wie Brillanz und Energie. Die Marfa in Rimsky-Korsakows „Zarenbraut“ hatte Olga Peretyatko zum ersten Mal an der Berliner Staatsoper gesungen – die Wahnsinnsarie der Titelfigur brachte sie jetzt auch konzertant sehr berührend dar. Ihre kostbar timbrierte Stimme, der in allen Lagen ausgeglichene Klang, das Aufblühen der Melodik, die lebhafte Deklamation, die sprechenden Hand- und Armbewegungen, der Einsatz des ganzen Körpers, all das lud das Publikum zur Anteilnahme ein. Auch Rachmaninows „Vocalise“ gestaltete sie mit wunderbarem Legato als wehmütigen Ausdruck einer verletzten Seele. Ihr Auftritt war der einer Hollywood-Diva, doch eigentlich entführte sie uns tief ins 19. Jahrhundert, zu dessen Frauenbild und Romantik.

So stimmungsvoll Mussorgskys „Morgendämmerung an der Moskwa“ auch ist, so ahnungsvoll wird doch gleichzeitig deutlich, dass sich in dieser wunderbaren Landschaft gleich ein grausames und blutiges Drama entrollen wird. Dmitry Liss und sein Orchester ließen in ihrer klugen Interpretation keinen Zweifel offen an der Liebe zu ihrem Heimatland, rissen aber auch den Hintergrund auf, den der Komponist meinte: das Leben könnte so schön sein, wenn nicht immer wieder Dummheit und Machtgier die Menschen ins Unglück stürzen würden. Zwei Arien und die Ouvertüre aus Michail Glinkas „Russlan und Ludmilla“ ergänzten dieses Panorama der russischen Musik des 19. Jahrhunderts aufs Beste. Die Musiker bewiesen für jeden Komponisten das richtige Stilgefühl und beglückten ihr Publikum. Wenn man diese populären Stücke auf solchem Niveau hört, weiß man auch wieder, dass sie aus gutem Grund populär wurden.

Olga Peretyatko bedankte sich mit zwei Zugaben für den großen Applaus, die sie auch auf dem Album „Russian Lights“ mit diesem Orchester eingespielt hatte, wobei das Publikum wohl am meisten über die schöne Arie aus Schostakowitschs Operette „Moskau-Tscherjomuschki“ überrascht war.

Die eigentliche Überraschung kam jedoch nach der Pause. Jetzt konnte man die Interpreten nicht mehr nur für ihr superpräzises Zusammenspiel, ihre breite Farbpalette und ihre Identifikation mit der Musik bewundern, sondern vor allem das Formbewusstsein des Dirigenten, der Schostakowitschs Zehnte Symphonie zu einem Hörerlebnis werden ließ. Der erste Satz kann mit seinen etwa 22 Minuten sehr lastend und fordernd sein. Auch hier entwickelte sich die symphonische Struktur tragisch aus dem schwermütigen langsamen Streicheranfang hin zu dem Gewaltausbrüchen des Blechs mit dem Schlagzeug, doch man verfolgte mit äußerster Spannung die Entwicklung einer Tragödie von Shakespeare’schem Format. Jedes Detail war genau durchgestaltet, die Geigen fetzten wie im Wahnsinn durch ihre peitschenden Passagen, die Bassgruppe setzte deutliche Kontrapunkte. Die Partitur bildete sich in größter Deutlichkeit im Raum ab wie eine Skulptur. Und dank der überlegenen Tempodisposition von Dmitry Liss flog der Satz vorbei im Nu und ließ die Zuhörer so aufgewühlt wie beglückt zurück.

Der wilde, gewalttätige zweite Satz ist ein Virtuosenstück für das Orchester, das es mit Bravour absolvierte. Man dichtet hier gerne ein Portrait des gerade gestorbenen Diktators Stalin hinein, doch das ist gar nicht nötig. Schostakowitsch hat in jedem Stück Geschichten versteckt, die er niemals preisgab und die man auch gar nicht erraten muss. Diese Geschichten sind in der Zehnten sicherlich auch politisch, aber nicht nur, wie der dritte Satz zeigt, in dem sich das Signum des Komponisten – d-es-c-h – mit dem seiner damaligen Angebeteten verbindet. Dieser Satz war der Ort, an dem sich die ausgezeichneten Solisten des Orchesters präsentieren konnten, das human-rhetorische wie verschmitzt-humoristische Fagott ebenso wie die empfindsame Oboe, die beredsame Klarinette und die virtuos-klangvolle Flöte.

Wenn sich im Finale das „D.Sch.“-Motiv lautstark gegen das Wiederheraufziehen der Gewaltmusik wirft, dann ist das ein Befreiungsschlag, dem ein immer enthusiastischerer „D.Sch.“-Jubel bis zum Schluss folgt. „Ich habe den Terror überlebt! Ich bin Ich geblieben und kein Rädchen im Getriebe“, könnte das heißen. Wie auch immer – die sinfonische Struktur, wenn sie so klar und deutlich aufgeblättert wird wie hier, überzeugt und begeistert das Publikum. Und wenn die Musik dann auch noch in all ihren Temperaturen und Schattierungen so wunderbar ausformuliert wird, dann wird sie zum Ereignis.

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Frankenstein als Oper in Hamburg

Ein reizendes Monster

Philipp Stölzl präsentiert in Hamburg ein szenisches Ungetüm nach Mary Shelleys epochalem Roman „Frankenstein“ als Oper mit der Musik von Jan Dvořák – ein langwieriges Unterfangen

Von Bernd Feuchtner

(Hamburg, 20. Mai 2018) Eine Szene wie von Caspar David Friedrich: Hoch auf den Bergen, neben Gipfelkreuz und Felsen, überdenkt Viktor Frankenstein die Lage: Sein Geschöpf hat gemordet und er muss es finden, bevor Schlimmeres geschieht. Der Hazer pustet Nebel über die Bühnenlandschaft und das Orchester bereitet mit einem Crescendo den Höhepunkt dieser grandiosen Szene vor: Hier trifft das Monster endlich auf seinen Schöpfer. Unter wilden Schlägen der großen Trommel samt Donnerblech findet der Showdown statt. Das Monster leidet unter seiner Einsamkeit, es winselt um Liebe, und dafür soll Frankenstein ihm eine Frau schaffen. Viktor hat nicht bedacht, dass er das Monster mit übermenschlicher Kraft ausgestattet hat – er kann es nicht besiegen. Das Gipfeltreffen endet mit einem Patt, und damit wird das Publikum auf Kampnagel in die Pause entlassen.

Vor 200 Jahren erfand die 19-jährige Mary Shelley in der Schweiz Frankenstein und sein Monster, das die meisten Menschen wohl aus dem Schwarzweiß-Film mit Boris Karloff kennen. Wenn ein Film-Meister wie Philipp Stölzl („Goethe!“, „Der Medicus“) Regie führt, mag man nun auch eine Interpretation erwarten, die mit den Mitteln des Films spielt. Filmschnittartig rollen sich zahllose Szenen ab, die präzise choreographiert sind, mit Slow Motion ebenso spielen wie mit Freeze, die mit einer Unzahl von Requisiten und Period Costumes ausgestattet sind — und in denen viele Filmmusik-Klassiker anklingen.

Der Clou ist aber das Monster selbst, eine gigantische Puppe. Mit seinem Totenschädel und den Hühnerbeinen sieht es tatsächlich zum Gruseln aus. Und wie die drei Puppenspieler es bedienen, ist phänomenal: Es kann ebenso tiefen Anteil erwecken wie furchtbaren Schrecken verbreiten. Natürlich überwiegt der Schrecken, und wahrscheinlich aus diesem Grund ist die Bühne (Heike Vollmer) von einem Drahtkäfig umgeben. Eigentlich müsste die Oper „Frankensteins Monster“ heißen, denn bei dieser Produktion der Hamburgischen Staatsoper beginnt die Geschichte mit jener Erzählung des Ungeheuers, die es auf dem Alpengipfel an Frankenstein gerichtet hatte, und endet mit seiner Erklärung gegenüber dem Kapitän, dass es sich am Nordpol einen Scheiterhaufen errichten werde, damit der brausende, frische Wind seine Asche weithin über das endlose Meer trage. Die Schauspielerin Catrin Striebeck gibt ihm auf einem Gerüst hoch über dem Käfig ihre Stimme, fauchend, kalt, winselnd, schreiend, entschlossen.

Vor vier Jahren kam diese Produktion in Basel als Schauspiel heraus, und auch dort waren die Zuschauer überwältigt von der Perfektion der Schau. Jan Dvořák war damals Dramaturg und hatte mit Stölzl gemeinsam den Text eingerichtet, jetzt hat er die Bühnenmusik zu einer Oper erweitert. Johannes Harneit leitet das Orchester mit großer Suggestionskraft durch Dvořáks flirrende und farbenreiche Klanglandschaften, von denen einige in der Erinnerung haften bleiben, etwa das Streicher-Idyll zu Frankensteins Bericht an den Kapitän. Emotion steuert die Musik jedoch nur in ganz wenigen ariosen Momenten bei; dieses Aufbäumen der Gefühle liegt dann aber näher beim Sondheim-Musical als etwa bei der Glass-Oper (und prompt wird der Text dann unverständlich). Sonst singen die Menschen eine Art Sprechgesang, wie ich sie noch nicht gehört habe: Sie folgen einfach und lakonisch der Sprachmelodie. Dies ist eine Form von Verfremdung, von Überhöhung der Äußerungen der Menschen im Gegensatz zum Monster, das sich mit einfacher Sprache begnügt.

Die Sänger meistern diese Aufgabe mit großem, überzeugendem Engagement, allen voran Viktor Rud als verquälter Viktor Frankenstein. Aber auch Andromahi Raptis als dessen Braut Elisabeth, und Alin Anca als Elisabeths Vater und als Kapitän hinterlassen einen starken Eindruck. Die übrigen haben weniger Chancen zur Profilierung, da sie in den lebenden Bildern kaum mehr sein dürfen als Puppen für Kathi Maurers Kostüme. Mehrfach formieren sie auch einen Hintergrundchor, der zusätzliche atmosphärische Elemente beisteuert.

Er habe die Geschichte in Mary Shelleys Geist erzählen wollen, erklärt Stölzl im Programmheft, und das war es auch, was neugierig gemacht hatte auf diese Oper. Mary Shelley wollte zweierlei: erstens über die Entstehung des Lebens philosophieren, angeregt durch die Gespräche mit Lord Byron über die Schöpfung und über Darwins Experimente. Wenn wir dem Monster zuhören, wie es sich frech herausredet auf seine schlimmen Erfahrungen, die ihm das Recht gäben auf seine bösen Taten, dann erfassen wir sofort die Aktualität der Geschichte: Was ist mit der Verantwortung, mit dem freien Willen, und was wird die künstliche Intelligenz mit uns wohl alles anstellen? Ist es in Mary Shelleys Geist, diese Fragen von vor 200 Jahren stehen zu lassen? Was meinte man damals, wenn man davon sprach, das Monster rege sich „maschinenmäßig“? Stölzl und Dvořák vertrauen offenbar auf den mündigen Zuschauer, der fähig ist, selbst weiterzudenken.

Zum andern wollte Shelley eine Gespenstergeschichte schreiben. Gegenüber ihrem raffiniert verschachtelten Roman erzählt die Oper die Sache linear aus der Sicht des Monsters. Natürlich leiden wir dann mit ihm, wenn ihm aufgeht, dass sein Schöpfer es für ein Ungetüm hält, natürlich nehmen wir ihm seine Ausreden ab – denn eigentlich ist es doch ganz reizend.  Durch die Musik ist der Abend nicht kürzer geworden, und wenn der Zuschauer die Geschichte so ohne jede Überraschung verfolgt, dann können dreieinviertel Stunden schon arg lang werden. Freilich neigen auch Filme in letzter Zeit zum Ausufern. Das Hauptgewicht bei diesem szenischen Ungetüm liegt auf dem Abliefern von Text. Der Abend malt die Geschichte akkurat aus, aber weder Gesang, noch Musik, noch Szene fügen aus eigener Kraft etwas hinzu. Wenn Stölzl schon den Hollywood-Realismus vom Film aufs Theater überträgt, warum dann nicht auch in 90 Minuten?

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Uraufführung einer Oper über Paulus in Osnabrück

Saulus und Paulus

Sidney Corbett erlöst in Osnabrück Pier Paolo Pasolinis Apostel Paulus mit seiner neuen Oper „San Paolo“

Von Bernd Feuchtner

(Osnabrück, 4. Mai 2018) Es ist nicht unbedingt die Frohe Botschaft, was Paulus da predigt. Er hangelt sich virtuos durch das unfertige Haus, das sich auf der Bühne dreht, springt von Raum zu Raum beim Versuch, nicht von der Drehscheibe abzukommen, und wettert dabei gegen Unzucht, Frevel, Ungläubige und noch so einiges. Offenbar will er damit auch seinen neuen Bewunderer Timotheus beeindrucken, aber der steht nur da und weiß nicht, was er sagen soll. Immerhin, der Parcours gelingt und Timotheus geht mit ihm – „aber erst muss ich dich beschneiden“. Droben im Zimmer krümmt Paulus sich vor Schmerzen zusammen. Er ist ein Schmerzensmann auch ohne Folter, denn er wird von Innen zerrissen, darauf liegt der Schwerpunkt von Alexander Mays Inszenierung.

Und das sagt auch die Musik von Sidney Corbetts neuer Oper „San Paolo“, dissonante Klänge von hoher Intensität, scharf-lastende Geigenstriche, dumpf-hohle Posau-nenpranken, hartes Schlagen samt Ölfässern, Sandpapier, Kettenrasseln. Statische, eckige Musik, so eckig wie die Wände und Rahmen der Hausruine, eine männliche Eckigkeit wie das Patriarchat, dem der biblische Paulus verhaftet war; bei seinem Schiffbruch auf Malta, auf dem Weg nach Rom, hätte er sich anschauen können, dass das Matriarchat nierenförmige Tempel errichtet hatte. Aber das interessierte Pier Paolo Pasolini nicht bei seinem Plan, einen Paulus-Film zu drehen, den er fünfzehn Jahre lang unerbittlich verfolgte und doch nicht vollenden konnte. Ralf Waldschmidt hat daraus das Libretto für Sidney Corbett destilliert, der damit nach dem „Großen Heft“ seine zweite Uraufführung in Osnabrück hatte.

Wolf Gutjahrs Bühnenbau symbolisiert natürlich die Kirche, deren Bau zwar Petrus (Rhys Jenkins als kraftvoller Revoluzzer mit Bart und speckiger Jacke) ankündigt, deren geistige Konstruktion aber von Paulus stammt. Auf die weißen Wände wird vieles projiziert, vor allem die bebrillten Gesichter des kindlichen Saulus, des Paulus als alter Mann sowie in seinem Bühnenalter; manchmal dreht der Bau sich auch virtuell weiter, wenn er real schon aufgehört hat zu rotieren. Auch Pasolini taucht mitunter kurz auf. Er ähnelt dann ein wenig Jan Friedrich Eggers, der den Apostel mit Brille als Intellektuellen zeichnet: stets auf der Bühne, stets präsent mit männlich-festem Tenor, im Anzug predigend, was ihn immer absetzt von den Menschen, mit denen er sich konfrontiert sieht und die einem bestimmten Zeitstil zugeordnet sind (Kostüme Katharina Weissenborn). Empathie ist nicht seine Stärke, denn er hat eine Botschaft, und damit ist der Konflikt vorgegeben. „San Paolo“ ist ein Stationendrama, dessen Szenen Pasolini aus der Antike in seine Gegenwart verlegt hatte, in die Zeit und an die Orte des Faschismus, des Widerstands und des Kapitalismus. Der Chor steht dann wie ein lebendes Bild bereits formiert, wenn der Spielraum sich hereindreht und löst sich erst aus dem Freeze, wenn die Musik der Szene beginnt. Und Paulus muss Position beziehen: Schuld auf sich laden, wenn er zum Mittäter bei der Ermordung des Stephanus wird, seine Bekehrung begründen, wenn die Widerstandskämpfer ihn als früheren Faschisten erkennen, die Ausdehnung der Mission auf die Heiden propagieren, wenn seine jüdischen Landsleute darauf beharren, dass der Messias nur dem auserwählten Volk erschienen sei.

Einmal predigt er die Liebe, die alle Menschen einschließen müsse, die Universalität des Evangeliums, dann aber fällt er wieder zurück in die Vorurteile des Patriarchats, verbietet den Frauen das Wort und die Entscheidungsfreiheit, verteufelt die Sexualität. Pasolini, der den Paolo ja im Namen trug, interessierte sich für die Konflikte des Paulus, nicht für seine Heiligenlegende, und das war es auch, das Sidney Corbett fas-zinierte. Sein Paolo ist kein aus eigenem Antrieb Handelnder, sondern ein Getriebener, das Drama ist statisch, tritt auf der Stelle. Die Musik legt einen Nebel über die Handlung, durch den die Menschen blind irren. Und in dem sie seit Jahrtausenden die gleichen Kämpfe ausfechten. Daniel Inbal leitet das Orchester mit unerbittlicher Präzision durch diese bleiernen Zeiten und in die unvermeidlichen Gefechte. Auch der von Markus Lafleur einstudierte Chor beeindruckt durch hohe stimmliche und szenische Präsenz.

Gesungen wird großartig an diesem Abend; der Komponist weiß, wie die Sänger am besten wirken. Susann Vent-Wunderlich schleudert Paulus mit beeindruckend dra-matischem Sopran Widerstand entgegen, Genadijus Bergorulko ist ihm ein ver-ständnisvoll baritonaler Begleiter. Und Lina Liu ist mit leuchtendem Sopran die Stimme Gottes, grundiert vom Kinderchor (samt Dornenkronen) und begleitet von zahlreich projizierten (Frauen-)Augen. Diese antipaulinischen Setzungen der in italienischer Sprache gesungenen Oper sind die wenigen Augenblicke der Ruhe auf diesem schwer belasteten Weg. Ach ja, zwei weitere Momente der Schönheit gibt es, wenn zu einem Orchesterzwischenspiel der kleine Junge Saulus in der Geborgenheit der Eltern gezeigt wird, und später bei einer Flötenmelodie, die sich dann auch in die Singstimme einschleicht. Geborgenheit und Ruhe kannte der bekehrte Paulus jedoch nicht, er musste seinen Kampf kämpfen, dessen Getöse durch die Jahrtausende bis zu uns nachhallt und dessen Krämpfe aus der Zeit Pasolinis heute zu uns zurückzukehren scheinen. Das Publikum dieser zweiten Vorstellung zeigte sich beeindruckt von der eineinhalbstündigen Oper, die ihm doch einiges zumutet, und besuchte auch das Nachgespräch zahlreich.

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Theater Lübeck beeindruckt mit Sciarrino-Oper

Crescendo im Pianissimo

Sciarrinos „Luci mie traditrici“ am Stadttheater: Lübeck zeigt eine brillante Produktion

Von Bernd Feuchtner

(6. April 2018) Die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos einaktiger Oper „Luci mie traditrici“ 1998 in Schwetzingen war ein Schock – solche Klänge hatte man noch nicht gehört. Aber was für ein herrlicher Schock! Man verließ das Rokoko-Theater beglückt, weil diese Musik radikal neu klang – nicht weniger als Nonos „Prometeo“ – und gleichzeitig überaus schön, sobald man sich hineingehört hatte in diese neue Klangsprache. Und der Inhalt war ja auch schockierend: Herzog Malaspina tötet seine Frau aus Eifersucht – weil er es darf.

Vor zwanzig Jahren wurde diese Oper von Spezialisten für neue Musik uraufgeführt. Jetzt zeigt das Theater Lübeck, dass es auch von einem normalen Stadttheater auf höchstem Niveau realisiert werden kann. Und die Inszenierung von Sandra Leupold tut alles, damit das Interesse auf die Musik gelenkt wird. Das fängt bei einem Ritual an: Wenn das Publikum in den Saal kommt, ist der Orchestergraben hochgefahren. Die Musiker und der Dirigent treten auf, verbeugen sich wie bei einem Konzert und nehmen Platz. Nun fährt der Graben nach unten und sechs als Bühnenarbeiter verkleidete Statisten ziehen ein feinmaschiges Netz darüber, das nur ein kleines Fenster zwischen Dirigent und Bühne hat. Und dann geht mit einem Schlag das Licht aus und der Vorhang öffnet sich. Eine Stimme ertönt aus dem Dunkel mit einer Renaissance-Elegie von Claude Le Jeune über den Verlust der Liebe – die Sopranistin Caroline Nkwe singt das berührend schlicht. Dann öffnet sich zwei Meter über dem Bühnenboden ein Quadrat und wir sehen La Malaspina und Il Malaspina in ihrem Garten.

Einen seltsamen Tanz führen die Malaspinas aus. In äußerster Langsamkeit umkreisen sie sich und erörtern, wie eine Rose zu brechen sei. Im ganzen Stück siezen sie sich und sprechen sich mit „Duchessa“, „Signora“, „Excellenza Vostra“ bzw. „Duca“, „o mia vita“ oder „Signore“ an. Jeder der mit äußerster Höflichkeit und mit ebensolcher Zurückhaltung ausgestoßenen Sätze ist wohlbedacht und scheint obendrein eine hintergründige Bedeutung zu haben. Otto Katzameier ist seit vielen Jahren vertraut mit dieser Methode, eine Phrase anzusingen und dann etwa in einem extrem gestauchten Doppelschlag enden zu lassen. Es klingt, als habe Sciarrino Melodiefragmente aus der Renaissance ausgeschnitten und dann gefaltet – Hintergrund des Dramas ist ja der Mord des Komponisten Carlo Fürst von Venosa an seiner Gattin und deren Liebhaber. Und genauso ist er mit dem Drama „Der Verrat aus Ehre“ von Giacinto Andrea Cicognini vorgegangen. Die Sopranistin Wioletta Habrowsky hat sich diesen gepressten Stil nicht weniger stark erkämpft, beide Sänger sind völlig frei in der Darstellung. Und es klingt sehr gut so!

Als seine Frau sich an einer Rose in den Finger sticht, fällt der Herzog in Ohnmacht. Hinter den gemalten Busch. Denn auf der Bühne von Martin Kukulies stehen fragmentarisch bemalte Kulissen: der Busch, eine Statue, im Hintergrund die Treppe samt Grünzeug. Mehr braucht man nicht zum Theaterspielen – Sandra Leupold ist ja eine Meisterin des Minimalismus, ihr Heidelberger „Don Giovanni“ oder ihr Mainzer „Parsifal“ sind legendär. Letztes Jahr hat sie für ihren reduzierten Lübecker „Don Carlos“ den FAUST bekommen. Die schönen Kostüme von Mechthild Feuerstein allerdings sind korrekt in der Renaissance verortet. Kulissen und Kostüme wechseln von Szene zu Szene, aber auch das bemerkt der Zuschauer erst langsam.

Das Quadrat schließt sich kurz, und ein Lichtband blendet das Publikum, während das Orchester einen leisen Nachhall spielt. Wieder hat man Zeit, genau hinzuhören, wie die 21 Musiker ihre Klänge hauchen. Sciarrino erreicht damit etwas ähnliches wie Luigi Nono in seiner „Tragödie des Hörens“, wie er „Prometeo“ genannt hat: eine Musik am Rande des Schweigens, die den Hörer, der sonst dem Überwältigungsklang der Romantik ausgeliefert ist, mit neuen Ohren für unerhörte Feinheiten des Klanges konfrontieren. Oft streichen die Geigen nur im höchsten Flageolett und spielen mit den Obertönen, oft atmen die Bläser nur in ihr Instrument und versuchen dabei ein Crescendo vom pppppp zum ppppp zu gestalten. Was ihnen fabelhaft gelingt. Dieter Holm hat die Orchesterpartie so präzise mit ihnen einstudiert, dass auch sie jetzt so frei sind, die Partitur nicht nur wiederzugeben, sondern wirklich künstlerisch zu gestalten. Holm leitet Musiker und Sänger unangestrengt zu einer auch musikalisch begeisternden Aufführung.

In der zweiten Szene kommt Malaspina zwar wieder zu sich, doch nun wird das Ehepaar von einem Diener belauscht, der sich zu seinem Unglück in die Herzogin verliebt hat, und damit die Tragödie ins Laufen bringt – Tenor Stefan Kubach. Erst einmal gibt es aber ein instrumentales Intermezzo, Sciarrino verfremdet die Elegie von Le Jeune nur leicht, die Musik ist noch gut erkennbar. Mit dem Fortschreiten der Tragödie erklingt sie als „Intermezzo II“ wie gefroren und vor der abschließenden Mord-Szene als „Intermezzo III“ schließlich gänzlich blutentleert. Die Herzogin nämlich lässt sich im Garten auf ein erotisches Spiel mit einem Gast ein: Der vorzügliche junge Countertenor Christian Rohrbach nähert sich ihr mit vorsichtigstem Begehren und löst im Herzen der Malaspina ein Inferno aus. Dem ist ihre Widerstandskraft nicht gewachsen, und in der vierten Szene beobachtet der verliebte Diener das Liebespaar.

In der fünften Szene – Sandra Leupold lässt sie im Kostüm des 19. Jahrhunderts vor einer fragmentarischen Bücherwand spielen – informiert der Diener den Herzog über die Liebschaft seiner Gemahlin. Der Diener begründet sein Tut mit Diensteifer, und der Herzog sieht sich dadurch zum Handeln gezwungen: Die folgenden Szenen spielen vor roten, gemalten Himmelbetten. Die Herzogin versichert Malaspina ihrer Liebe und hofft auf Vergebung. Doch immer deutlicher wird, dass sie nicht mehr viel Zeit haben wird. Während des dritten Intermezzos lässt Sandra Leupold auf die große Bühne umbauen. Je heller es im Hintergrund wird, desto deutlicher sehen wir dort den nackten, blutverschmierten Leichnam des Gastes. Und auch der Diener ist tot. Jetzt zückt Malaspina den Dolch: Dieser Dorn sticht kräftiger als die Rose.

Im gut verkauften Haus ist während der Vorstellung kein Mucks zu hören. Nach dem ersten Schreck gewöhnen sich die Zuschauer an Sciarrinos eigenwillige Sprache und lassen sich in die faszinierenden Vorgänge hineinziehen. Am Ende gibt es starken Beifall für alle Beteiligten.

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Uraufführung einer Hannah-Arendt-Oper in Regensburg

Heidegger entzaubert

Das Regensburger Theater hat mit Ella Milch-Sheriffs „Die Banalität der Liebe“ eine spannende Uraufführung über Martin Heidegger und Hannah Arendt realisiert

Von Bernd Feuchtner

(Regensburg, 4. April 2018) Eben noch ein Opernheld mit strahlendem Tenor und nun dies: Martin Heideggers größte Schmach, musikalisch raffiniert zubereitet von Ella Milch-Sheriff. Das Orchester intoniert eine Parodie des sarkastischen Trauermarsches aus Mahlers Erster Sinfonie – allerdings zur Melodie „Deutschland, Deutschland über alles“ – und vom Himmel regnet es gelbe Judensterne, auch über dem Parkett. In seiner Freiburger Rektoratsrede hatte der berühmte Philosoph 1933 Adolf Hitler als den Erfüller von Deutschlands Zukunft gefeiert. Die junge Hannah Arendt schaute entsetzt zu. Sie war seine Geliebte.

Hannah Arendt war nicht die erste Studentin, die sich in ihren Professor verliebt, und nicht die letzte. Und Heidegger nicht der erste verheiratete Professor, der sich auf eine Liebschaft mit einer jungen Studentin einlässt, und nicht der letzte. Dennoch beschwört er die dämonische Notwendigkeit dieser Leidenschaft, ganz gemäß seiner Existentialphilosophie. Nein, nein, sagt der Librettist Savyon Liebrecht, das war eine ganz banale Liebe wie jede andere. Und die Komponistin Ella Milch-Sheriff unterstreicht das mit einer Musik, die ständig mit anderen Zungen redet. Im Auftrag des Theaters Regensburg hat sie eine bemerkenswerte Oper geschrieben, die viele Fragen aufwirft und gar nicht erst vortäuscht, sie auch zu beantworten.

Schon die Einleitung droht mit einem Walking Bass, als käme gleich der Weiße Hai. Milch-Sheriffs Musik schafft Atmosphären, die der Zuschauer gleich einordnen kann. Etwa wenn „America“ aus der West Side Story erklingt und wir daran sofort erkennen, dass wir jetzt in der New Yorker Universität sind, in der Hannah Arendt wegen ihrer umstrittenen Berichterstattung vom Eichmannprozess boykottiert wird. Als Buchhalter des Todes hatte sie ihn beschrieben, der einfach tat, was gerade zu tun war und ihn weiterbrachte. Er hatte sich nie dazu entschieden, er hatte nie die Wahl, entweder gut oder böse zu sein, er tat es letztlich aus Gedankenlosigkeit. Das Böse ist nicht dämonisch, sondern meistens geschieht es aus Gedankenlosigkeit: Es ist banal. Heidegger wäre gerne dämonisch gewesen, aber auch er war nur banal. Deshalb war er auch nicht fähig, nach 1945 seinen Fehler zu erkennen, zu benennen und zu bereuen.

Als die 18-jährige Hannah Arendt 1924 zu Heidegger an die Marburger Universität kam, war sie fasziniert von der Brillanz seiner Seinsphilosophie. Und dann auch von dem Mann, der ohne große Umschweife in einer verborgenen Waldhütte ein Verhältnis mit ihr begann. Die Hütte gehörte Hannahs Freund Rafael Mendelssohn, der in sie verliebt war. Doch das nahm sie nicht wahr, sie lieferte sich Heidegger ganz und gar aus. Sara-Maria Saalmann als junge Hannah singt und spielt die Unbefangenheit des jungen Mädchens ebenso überzeugend wie Vera Semeniuk die alte Arendt, die nachdenklich das Handeln ihres damaligen Alter Ego beobachtet. Und Seymur Karimov als Raphael Mendelssohn (der Heideggers Vortrag auf der Mandoline begleitet) hat scheinbar die einzige authentische Musik des Abends, als er von Nazis mit deutschen Schäferhunden malträtiert wird, während die Bücher deutscher Autoren verbrannt werden.

 

 

Heidegger hat Milch-Sheriff zu einem Tenor gemacht, und auch das ist Teil seiner Schmach. Es war eben auch einfach der Tenor, auf den die junge Sopranistin abgefahren ist. Ein wenig steif bleibt Angelo Pollak als junger Mann, der seine Wirkung kennt. Doch das passt gut zu dieser Partie: Heideggers Wirkung war zu großen Teilen auch eine Projektion auf die deutschen Sprachungeheuer, die er aus einer falsch verstandenen Romantik gebar und die nahtlos in die Anbetung Hitlers weitergeführt werden konnte. Nach dem Krieg begegnet Hannah Arendt ihrem einstigen Geliebten noch einmal: Adam Kruzels Gesicht als alter Heidegger (nun ein Bariton) ist blutverschmiert, aber sie reicht ihm am Ende die Hand. Der Geliebte und der Nazi, das sind zwei verschiedene Gesichter des gleichen Menschen. Zu Tode erschrocken war sie damals, als Heidegger Rafael als „Jud“ bezeichnet hatte, und da war ihr bewusst geworden, dass dieser Stempel jetzt auch auf ihrer Stirne saß.

In dem jungen Journalisten, der sie 1975 interviewt, erkennt sie erst spät Rafaels unversöhnlichen Sohn – Matthias Laferi singt ihn mit schönem, klarem Tenor geradeaus und spielt ihn gnadenlos. Auch aus dem Chor (von Alistair Lilley trefflich einstudiert) treten zahlreiche Solisten hervor; die anderen sitzen paffend als lauter Hannah Arendts auf Stühlen herum und beobachten die Vorgänge. Vier schwarze Wände mit Leuchtsockeln bilden das Bühnenbild, das Florian Etti auf der Drehbühne in die verschiedensten Positionen bringt, um die rasch wechselnden Spielorte anzudeuten. Konkretes bietet nur ein abgesägter Baumstamm, der für die vergewaltigte Natur steht – Heidegger hielt sich viel zugute auf seine Bodenständigkeit und entwickelte seine Ästhetik bekanntlich anhand der Bauernschuhe auf einem Bild von van Gogh; er philosophierte an ihnen über die Scholle und über das Wesen des Bauern, wie es im Kunstwerk zum Ausdruck kommt, doch es waren leider nur die Schuhe des Malers …

Der israelische Regisseur Itay Tiran bringt die vom Librettisten schön verschachtelte Geschichte ohne Schnörkel auf die Bühne. Er lässt so Theater spielen, dass es im vollbesetzten Haus beim interessierten Regensburger Publikum ankommt, auch wenn man nicht Heidegger gelesen hat. Milch-Sheriffs Oper lässt uns sinnlich spüren, was da vorgeht mit den Figuren auf der Bühne, was in ihnen stimmt und was nicht. Dirigent Tom Woods lässt das Orchester stimmungsvoll begleiten. Und noch einen ganz besonderen Effekt hat die Komponistin sich ausgedacht: Heidegger beginnt zur Parsifal-Musik zu dozieren, er spielt den Erlöser. Dabei zwingt er Hannah Arendt in die Rolle der Kundry. Die Musik macht unmissverständlich klar, dass Kundry eine von Wagners Judenfiguren ist, die Erzteufelin, die schon den Heiland auf seinem Weg zum Kreuz ausgelacht hat. Sie darf nur noch dienen und am Ende sterben – an der Erlösung hat sie keinen Teil. Hannah Arendt hört in diesem Moment aber auch noch einen Tristan-Moment. Wäre sie bereit gewesen zu sterben für diese Liebe? Das wäre dann doch zu banal gewesen.

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Adam’s Passion von Pärt und Wilson im Konzerthaus Berlin

Traurige Schönheit

Robert Wilsons Rätselbilder begleiten Arvo Pärts Klagegesänge

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 28. März 2018) Es ist vielleicht kein Zufall, dass Arvo Pärt 1976 nach acht Jahren des Schweigens mit dem Klavierstück „Für Alina“ seinen ganz eigenen Weg des musikalischen Minimalismus begann, während im gleichen Jahr Robert Wilson gemeinsam mit Philip Glass die erste Oper der Minimal Music schuf. Beide wurden Meister der Ruhe und einer spirituellen Kunst. Eine Oper konnte man von Arvo Pärt nicht erwarten. Immerhin war nun ein Bühnenwerk von ihm zu erleben. Es verdankt sich der Begegnung von Pärt und Wilson bei einer Audienz von Papst Benedikt für Künstler in der Sixtinischen Kapelle im November 2009, bei der sie eine Zusammenarbeit vereinbarten. Und im Frühjahr 2015, im Jahr von Pärts 80. Geburtstag, war es dann so weit: In einer ehemaligen U-Boot-Fabrik in Tallinn wurde „Adam’s Lament“ uraufgeführt, eine 90-minütige Inszenierung von Robert Wilson zu vier Kompositionen von Arvo Pärt. Nur das Einleitungsstück „Sequentia“ für Streichorchester und Schlagwerk wurde für diesen Anlass neu komponiert. „Adam’s Lament“ war konzertant schon 2010 in Istanbul uraufgeführt worden, und mit „Tabula rasa“ (1977) und „Miserere“ (1989) folgten zwei Klassiker des estnischen Komponisten.

Im Konzerthaus Berlin, wo die Produktion jetzt an drei ausverkauften Abenden gastierte, war das Orchesterpodium schwarz abgehängt, im Hintergrund hing die Opera-Folie für die Lichtinstallation. Ein Steg führte vom Podium bis in die Mitte des Parketts. Für seitliche Gassen blieb wenig Platz, was für die vorderen Reihen viel Einblick in die Vorbereitungen der Darsteller für ihren Auftritt bot. Zur rein instrumentalen „Sequentia“ wurde in der Bühnenmitte vor der sich langsam erhellenden Leuchtwand – das Farbspektrum beschränkte sich den ganzen Abend über auf Schattierungen von Blau – Adam sichtbar, so wie Gott ihn schuf. Der Schauspieler Michalis Theophanous wird sich dann kaum wahrnehmbar in Bewegung setzen, bis er das Ende des Steges im Saal erreicht hat. Dort nimmt er einen Zweig auf, den er auf dem Rückweg auf dem Kopf balanciert.

Die stilisierten Handhaltungen von Adam werden nur für kurze Momente durch entschlossene Bewegungen unterbrochen. Dabei kommt es zur Kommunikation mit der strengen Frau im langen weißen Kleid und mit der Haarhaube, die Lucinda Childs mit der gewohnten Präzision darstellt. Da sie nicht im Evakostüm aufgetreten ist, könnte sie Gott sein oder der Erzengel, der Adam aus dem Paradies vertrieben hat. Denn davon handelt Adams Klage: „Aller Friede wich von der Erde, und seiner Sünde wegen war die Liebe verloren.“ Auch den Tod Abels durch die Hand seines Bruders Kain musste er mitansehen, und er rief: „Aus mir werden Völker hervorgehen und sich vermehren, aber sie werden in Feindschaft leben und einander töten.“

Zwei schwere Männer treten auf, zwei Erdenklöße, die einen plumpen Tanz aufführen. Zwei lächelnde Frauen kreuzen den Weg Adams. Und ein kleiner Junge, bewundernswert in den langsamen Bewegungen seines Auftritts, schreitet den Steg entlang vorwärts und beginnt mit Bausteinen zu hantieren. Ein Hausmodell und eine Leiter kommen dazu – mit Adam begann auch der männliche Weg unserer Zivilisation. Aber ist das so gemeint? Was die Andeutungen beim Zuschauer auslösen, bleibt diesem überlassen. Auch die Texte helfen ihm nicht weiter, wenn er sie nicht vorher im Programmheft gelesen hat, denn sie werden auf Russisch oder auf Lateinisch gesungen.

„Tabula rasa“, 1977 uraufgeführt von Eri Klas, Gidon Kremer und Tatjana Grindenko, wird im Spiel von Sayako Kusaka, Johannes Jahnel (Geigen) und Angela Gassenhuber (präpariertes Klavier) zur intensiven musikalischen Erfahrung. Beim „Miserere“ zeigen sich dann allerdings die Einschränkungen des Ortes, denn die trockene Akustik des neoklassischen Saales ist der Pärt-Musik nicht unbedingt förderlich, und die nackte Fabrikhalle war sicherlich auch optisch ein günstigerer Rahmen. Vielleicht hatte der Dirigent Tönu Kaljuste mit seinem eigenen Ensemble in Tallinn auch einen besseren Kontakt als mit den Musikern des Konzerthausorchesters, denn bei ruhigen Stellen bricht die Musik ein. Wunderbar der Klang des Estnischen Philharmonischen Kammerchores, der den Sinn hat für diese Musik.

Dennoch bietet der Abend einen grandiosen Eindruck und große Schönheit. Robert Wilsons Bilder tragen die Musik von Arvo Pärt auf Händen und bilden gleichzeitig einen spannungsreichen Kontrapunkt dazu. Nichts wird illustriert, beide Ebenen stehen für sich. Das Publikum war sehr still und konzentriert – es gibt ein Bedürfnis nach dieser Schönheit, die die Musik und das Theater heute so selten liefern wollen. Dabei haben Pärt und Wilson doch gezeigt, dass die traurigsten Dinge auch in größter Schönheit gesagt werden können, ohne dass die Wahrheit verraten wird. Auf der DVD mit der Aufzeichnung aus Tallinn kann man sich davon überzeugen.

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Toshiro Mayuzumis Oper Kinkakuji beeindruckt in Strassburg

Die nutzlose Schönheit

Toshiro Mayuzumis staunenswerte Oper „Kinkakuji“ von 1976 wird in Strassburg zum Ereignis – ein großartiger Erfolg für das Theater, dessen Mut zum Ungewöhnlichen mit einer sehr gelungenen Produktion belohnt wird

Von Bernd Feuchtner

(Straßburg, 24. März 2018) Das Ende steht von Anfang an fest. In antiker bzw. Brecht’scher Manier stellt uns der Chor das kleine, niedergedrückte Menschlein vor, das ein neuer Herostrat werden will – dieser hatte den Arthemistempel von Ephesus angezündet, eines der sieben Weltwunder, weil er berühmt werden wollte.
Seit 600 Jahren steht der goldene Tempel des Shoguns Yoshimitsu, der ihn bauen ließ, als er abdankte und Mönch wurde. Seitdem gilt der Pavillon als Inbegriff des schönen Bauwerks. Doch dem Novizen Mizoguchi will es nicht gelingen, diese Schönheit zu erkennen. Deshalb hat er beschlossen: Der Kinkakuji muss brennen!

Toshiro Mayuzumi gehörte zu den prominentesten japanischen Komponisten und war ein Freund von Toru Takemitsu. Zudem war er ein Freund des Schriftstellers Yukio Mishima, der 1970 öffentlich Harakiri begangen hatte, nachdem sein rechtsradikaler Putschversuch im Generalshauptquartier ins Leere gelaufen war. Mishima und Mayuzumi hatten sich im Nachkriegsjapan mehr und mehr radikalisiert, weil ihnen die traditionellen Werte des Kaiserreichs verloren zu gehen und durch die Kultur der Yankees ersetzt zu werden schienen. Die Folge waren desorientierte junge Männer wie Mizoguchi.

Die reale Tat hatte im Jahr 1950 ungeheures Aufsehen erregt und Mishima 1956 zu seinem Roman „Kinkakuji“ inspiriert. Die Deutsche Oper Berlin hatte bei einigen Japan-Gastspielen gute Kontakte zu japanischen Musikern geknüpft und so kam es zu dem Kompositionsauftrag an Toshiro Mayuzumi. Dramaturg Claus H. Henneberg verarbeitete Mishimas Roman zu einem Opernlibretto und 1976 kam das Werk unter dem Titel „Der Tempelbrand“ in Berlin mit großem Erfolg auf die Bühne. Jetzt wurde es an der Opéra National du Rhin in Straßburg unter dem Titel „Le Pavillon d’or“ aufgeführt, wiederum in deutscher Sprache.

Paul Daniel leitete die Straßburger Philharmoniker durch eine aufregende, vielschichtige Partitur. Es ist das Orchester, das den Erzählstrang entwickelt. Es kann stürmen und säuseln, Aufruhr anzetteln und Zärtlichkeit anbieten. Es kann sogar lachen. Und dabei zwischen Auslachen und Auflachen unterscheiden! Die Farbpalette ist überwältigend und die rhythmischen Modelle sind raffiniert. Mayuzumi hatte in Tokio und Paris studiert und sich vor allem mit elektronischer Musik beschäftigt. Doch dann kam die Bekehrung: „Im Jahr 1959 wurde ich plötzlich konservativ. Am Vorabend des Neujahrsfestes hörte ich die Tempelglocken. Sie berührten mich so stark, dass ich die Avantgardemusik vergaß und mich in das Studium der traditionellen Musik und Ästhetik zu vertiefen begann. Ich studierte den Shintoismus und den Buddhismus, nicht nur Zen, sondern alle Formen des Buddhismus.“ Nun wandte Mayuzumi die avantgardistischen Techniken auch auf alte japanische Instrumente an und schrieb Musiken für das Nationaltheater. Mit seinem Essay für Streichquartett komponierte Mayuzumi 1963 eine Hommage an Mishima und dessen ultranationalistische Bestrebungen, bei dem die westlichen Instrumente gewissermaßen lernten, japanisch zu sprechen.

Für den Berliner Kompositionsauftrag entstand eine jener hybriden Partituren, die asiatische Klangvorstellungen mit europäischen mischen und auf dem rein westlichen Instrumentarium eines Opernhauses realisieren. Tempelgongs, ein Glockenspielklavier und eine besonders aparte Episode mit einer Shakuhachi-Flöte sind die weitestgehenden Zugeständnisse. Die Flöte erklingt vergeblich, Mizoguchi ist auch für diese Schönheit unzugänglich: „Die nutzlose Schönheit. Nachdem die Melodie verklungen ist, bleiben wir zurück, du mit deinen Klumpfüßen, ich mit meinem verkrüppelten Arm.“

Mizoguchi hat sich wegen seiner Behinderung nie getraut, mit einem Mädchen zärtlich zu werden, er hat die heimlich Angebetete (Fanny Lustaud) mit seiner rüden Art verstört. Dabei zeigt ihm sein falscher Freund Kashiwagi (Paul Kaufmann), wie man aus einer Behinderung auch erotisches Kapital schlagen kann bei den Frauen. Der verachtet die Frauen und überlässt seine Freundin gerne Mizoguchi – der aber versagt und wird wiederum ausgelacht. Er hatte seine Mutter (Michaela Schneider) einmal zusammen mit einem Liebhaber überrascht, da der Vater (Yves Saelens) seit langem krank und schwach war. Deshalb hält er alle Frauen für treulos.

Mayuzumis Orchester kann auch Swing. Wenn ein amerikanischer Soldat mit einer japanischen Hure auftritt und Mizoguchi auffordert, sie in den Bauch zu treten. Sie verliert dabei ihr Kind und verklagt das Kloster. Tsurukawa (Dominic Große), den einzigen Menschen, der ihm freundschaftlich gegenübertritt, belügt er darüber – als die Wahrheit ans Tageslicht kommt, bringt Tsurukawa sich um. Reue empfindet Mizoguchi nicht, er möchte auch noch seine Mutter umbringen. Und Buddha töten. Dann wäre er frei.

Diese Sicht auf die japanische Jugend war eine Reaktion auf die für soldatische Männer schwer zu verkraftende Niederlage Japans im 2. Weltkrieg und auf die „Amerikanisierung“ Japans. Mayuzumi schloss sich in den 1970er Jahren immer stärker nationalistischen und militaristischen Bewegungen an; er sah sich wohl als der moralische Erbe Mishimas. In der Musikszene isolierte er sich durch seinen Extremismus allerdings zunehmend.

Wie aber charakterisiert man einen so unterentwickelten Charakter wie Mizoguchi, der keine echten Gefühle kennt? Auch dafür hat Mayuzumi eine überzeugende Lösung gefunden. Der Gesang des Protagonisten (Simon Bailey ist großartig in dieser undankbaren Funktion) verbindet sich nicht mit dem Orchester, sondern ist strikt dagegen gesetzt. Das weckt den Eindruck von Sprechgesang, was aber auch nicht zutrifft. Es ist der regredierte Ausdruck eines Ausdruckslosen.

Der Regisseur Amon Miyamoto hat noch ein Element hinzuerfunden. Da wir die Handlung ja als Rückblende erzählt bekommen in dem Moment, als Mizoguchi sich entscheidet, den Tempel anzuzünden, gesellt er dem Sänger ein Tänzer-Double (Pavel Danko) bei, das die früheren Stadien durchlebt, während der Sänger ihn dabei beobachtet – oder, wenn nötig, auch selbst eingreift. Nur zweimal bricht dieser Schatten wirklich in Tanz aus: zu Beginn des dritten Aktes bei dem Taifun, von dem Mizoguchi hofft, er werde die Schönheit des Tempels zerstören und ihm die Tat ersparen, und am Schluss, wenn der martialische Strudel der bösen Tat entfesselt und Mizoguchi zum Brandstifter wird.

Miyamoto bedient sich beim Brecht-Theater ebenso wie bei Nô und Kabuki und sorgt damit für ein durchstilisiertes szenisches Hybrid, das der Partitur genau entspricht. Boris Kudlicka hat eine graue Box bauen lassen, in der alle Vorgänge sich anschaulich darstellen lassen. Die Kostüme von Kaspar Glarner mischen Japanisches mit charakteristischen Fantasien. Aus den Seiten fahren einzelne Szenenbilder wie Regale heraus und im Hintergrund sieht man Projektionen des Tempels oder eine goldene Wand, auf die Projektionen geworfen werden (Video: Bartak Macias). Eine ausgefeilte Lichtregie (Felice Ross) sorgt dafür, dass jeder Vorgang ins richtige Licht gesetzt wird. Der Chor tritt als graue Schicksals-Masse ebenso prägnant auf wie als Mönche, die ihre Sutren chanten. Sandrine Abello hat den Chor vorzüglich auf diese nicht einfachen Klänge vorbereitet.

Insgesamt entfaltet Mayuzumis Musik einen intensiven Sog und eine prachtvolle Farbpalette, die sich aus der Erfahrung der Avantgarde und der Pariser Spektralistenschule speist. Man möchte diese Musik gerne noch einmal hören, denn beim ersten Mal kann das Ohr sie bei weitem nicht ausschöpfen. Wie intensiv Paul Daniel mit allen Beteiligten gearbeitet hat, zeigte sich in der zweiten Vorstellung, die in keiner Weise eine typische Zweite war, in der die Spannung etwas durchhängt. Im Gegenteil: Die scheinbar zeitlich und räumlich so ferne Psychostory rückte uns ganz schön auf den Leib, denn die Beschwörung der reinen heimatlichen Kultur und das Beklagen einer jungen Generation, die nicht mehr in der Lage ist, diese Schönheit zu erkennen, das erleben wir als Politstory ja jeden Tag.

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