Neue Suche

Suchergebnis nicht zufriedenstellend? Versuche es mal mit einem Wortteil oder einer anderen Schreibweise

130 Suchergebnisse für: Feuchtner

122

Doppelabend Weinberg/Korngold

Küchendrama und Hollywoodglück

Das Theater Heidelberg kombiniert die Scholem Alejchem-Komödie „Mazel Tov“, die Mieczysław Weinberg vertont hat, mit „Der Ring des Polykrates“, den das 17-jährige Wunderkind Erich Wolfgang Korngold 1914 komponierte. Jedes Werk ist für sich schon ein Geniestreich.

Von Bernd Feuchtner

(Heidelberg, 28. Mai 2017) Eben hat der Traumtenor noch übermütig sein Glück hinaustrompetet und sein Hollywood-Frauchen in den Himmel gelobt, da trübt sich plötzlich das Licht ein und im ersten Stock taucht ein einarmiger Pianist auf, der mit der Linken eine weit weniger euphorische Musik spielt. Auf der Treppe erscheint der jüdische Geiger aus dem ersten Stück, nur mit Clownsnase statt Schnapsnase. Und auch die anderen Figuren aus „Wir gratulieren!“ stehen plötzlich wie Gespenster mit Frack und Geige vor der Terrasse der Villa. Der Retro-Spuck vergeht nach wenigen Minuten und die Komödie geht weiter. Was hat das zu bedeuten?

Scholem Alejchem, der später in den USA mit dem Milchmann Tewje („Anatevka“) einen so nachhaltigen Erfolg haben sollte, schrieb 1899 die jiddische Komödie „Mazel Tov“. Als sie 1921 in Moskau zum ersten Mal gespielt wurde, hatte die Oktoberrevolution die jüdische Kultur für eine kurze Frist befreit und nicht nur Russland verändert. Der Wiener Komponist Erich Wolfgang Korngold war zu diesem Zeitpunkt schon ein gemachter Mann: Seine Jugendopern „Der Ring des Polykrates“ und „Violanta“ hatte Bruno Walter mitten im Krieg in München uraufgeführt und 1920 hatte „Die tote Stadt“ seinen Ruhm auch international verbreitet. Doch nach dem Anschluss Österreichs führte für den Juden Korngold aus Hollywood kein Weg zurück nach Europa. Anknüpfungspunkte gab es also zwischen beiden Stücken – aber auch Trennendes: der alte Weinberg schrieb seine Oper „Wir gratulieren“ 1975 als wehmütige Erinnerung, während der junge Korngold 1914 voller Übermut war.

Regisseurin Yona Kim greift in Heidelberg die Biografien Alejchems und Korngolds auf, indem sie beide Stücke im gleichen Haus (Bühne und Kostüme Margrit Flagner) spielen lässt. Zuerst steht es im vorrevolutionären Russland, dann im Hollywood der 1930er Jahre. Das verschachtelte Haus ist eine Projektionsfläche nicht nur im übertragenen Sinn: Bilder von Chagall, russischer Folklore und Agitprop begleiten Weinberg, Filmplakate und alte Fotos von L.A. schaffen bei Korngold Illusionsatmosphäre. Die soziale Ebene spielt in beiden Stücken eine Rolle: bei Korngold spiegelt sich der Konflikt des hohen Paares, nur etwas dämlicher, im Dienerpaar, während Weinberg „Downton Abbey“ vorwegnimmt und überhaupt nur unter den Dienstboten in der Küche spielt.

Die Köchin Bejlja suhlt sich hühnerrupfend etwas zu sehr im Selbstmitleid, während ihre Madame es sich auf der Terrasse gutgehen lässt. Mit ihrer Arie gibt die Mezzosopranistin Elisabeth Auerbach wunderbar melancholisch die Stimmung vor für die Weinberg-Komödie: Nach „Die Passagierin“ und „Der Idiot“ wird in Deutschland endlich auch die einzige lustige Oper des jüdischen Polen aufgeführt, der in der Sowjetunion Asyl fand und Schostakowitschs Freund wurde. Es ist auch kein Zufall, dass er mit der Komposition nach dem Tod seines Freundes begann, denn der hatte eine Leidenschaft für jüdische Musik, weil sie zeigte, wie unterdrückte Minderheiten ihre Würde wahren. Und damit ist sie tatsächlich auch Chagalls gemalten Traumwelten nicht fern.

Und Träumer sind sie alle, die jüdischen Dienstboten im Souterrain. Die beiden Frauen träumen von einem Mann – aber würden das niemals zugeben. Sopranistin Gloria Rehm zwitschert das zarte Täubchen, das zielstrebig seinem Verehrer Chaim (Ipča Ramanović mit draufgängerischem Bariton) einheizt, bis der ihr endlich den Heiratsantrag macht. Aber auch Bejlja hat ihren Verehrer, der sie in der Küche besucht, den fliegenden Buchhändler Reb Alter. In Heidelberg tritt er aus dem Schrank heraus, einem Zauberkasten, der neben Chaim auch noch eine Ladung revolutionärer Bücher hervorbringen wird (dies eine Zutat der Regie). Als Bejlja scheinbar aus Versehen ihr Kapital von 200 Rubeln erwähnt, gerät Reb in Fahrt und wittert Geschäftsmöglichkeiten – Tenor Winfrid Mikus hat für die kauzigen Seiten des Hausierers ebenso die richtigen Töne wie für die leidenschaftlichen. Auch diese Verbindung wird, nicht zuletzt dank ausgiebigen Wodkagenusses, ihr glückliches Ende finden: Wir gratulieren!

Bei Alejchem/Weinberg ist von revolutionärem Elan freilich nichts zu spüren, und Weinbergs schweres Schicksal legte Liebe zum Kommunismus auch nicht nahe. „Wir gratulieren“ ist ein wehmütiger Rückblick auf die untergegangene jiddische Kultur, andererseits aber auch der Versuch, sie erneut zu etablieren. Weinbergs Musiksprache hätte das vermocht, die offizielle Kulturpolitik ließ es aber nicht zu. Das verleiht dem Stück eine ganz besondere Stimmung: als seien den lustigen Klängen die Flügel gestutzt.

Ganz anders bei „Der Ring des Polykrates“: Mit virtuosem Feuer wird aus einem dramatischen Nichts (der Glückspilz folgt dem Rat des Pechvogels, à la Schillers Gedicht die Liebe durch ein Opfer aufs Spiel zu setzen) Gold geschlagen. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses allerdings als Katzengold, denn der Plot ist ungefähr so tiefsinnig wie „Susannens Geheimnis“ von Busoni oder „Von heute auf morgen“ von Schönberg – ernsthafte Leute hatten damals offenbar keinen Humor. Aber wenn Irina Simmes, die schon als keifende Madame in „Wir gratulieren“ die Kraft ihrer Stimme hatte spüren lassen, den Glamour einer Diva verströmt und Alexander Geller mit blendendem Aussehen und strahlendem Tenor den Stardirigenten gibt, dann glaubt man gerne an das maßlose Glück der Beiden.

Ipča Ramanović beeindruckt auch als der Pechvogel, der sich im Gegensatz zu seinem Studienfreund nicht vorm Krieg hatte drücken können (aber das ist wieder ein Zusatz der Regie), und nach dem Vorbild Paul Wittgensteins nun als einarmiger Pianist weitermachen muss – tatsächlich hatte Korngold in Wittgensteins Auftrag ein Klavierkonzert für die linke Hand geschrieben, aus dem der Pianist Stanislav Novitsky die Intermezzi spielt (auch sie eine Zutat der Regie). Tatsächlich hätte sonst die Gefahr bestanden, dass nach „Wir gratulieren“, bei dem die Vorlage wie die Komposition aus echter Lebensnot entstanden sind, „Der Ring des Polykrates“ als Luxusproblem verantwortungsloser Künstler wirkt.

Yona Kim hat für jedes der beiden Stücke überzeugende szenische Lösungen gefunden und die Charaktere wunderbar lebendig werden lassen. Die Verknüpfung nimmt allerdings jedem Stück ein wesentliches Element. Und mit dreieinviertel Stunden Dauer wird dieser Komödienabend dann doch recht anstrengend. Das Heidelberger Publikum hat sich davon nicht entmutigen lassen, sondern begeisterten Beifall gespendet. Das lag natürlich auch an dem neuen jungen Kapellmeister Olivier Pols, der für jedes der beiden Stücke einen eigenen Ton gefunden und das Philharmonische Orchester auf den Geschmack gebracht hat. Dass er bei Korngold mehr in seinem Element ist als bei Weinberg, ist verzeihlich. Weinbergs Musiksprache ist uns noch nicht so vertraut. Deshalb wäre es auch komödiengemäßer gewesen, sie auf Deutsch statt auf Russisch zu singen. Vor allem aber wollen wir jetzt auch seine Sinfonien im Konzert erleben.

123

Infinite Now

Die Fortdauer des Unerträglichen

Chaya Czernowins „Infinite Now“ über Krieg und Kriegserfahrungen nach Remarque am Nationaltheater Mannheim bietet eine Grenzerfahrung in Raum, Zeit und Klang mit fabelhaften Darstellern und Musikern, denen das Äußerste abverlangt wird.

Von Bernd Feuchtner

(Mannheim, Mai 2017) Im Hamburger Thalia-Theater brachte Luk Perceval 2014 sein Theaterstück FRONT heraus, eine Collage aus Erich Maria Remarques Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mit authentischen Briefen und zeitgenössischen Texten. Jetzt hat er es zum Libretto für Chaya Czernowins drittes Musiktheaterstück „Infinite Now“ (Immerwährendes Jetzt) erweitert, das er als ein „Pandämonium der Geräusche, Stimmen und der Stille“ bezeichnet und an der Flämischen Oper Antwerpen sowie am Nationaltheater Mannheim inszeniert hat. Hinzugekommen sind Ausschnitte aus der Erzählung „Homecoming“ der chinesischen Autorin Can Xue, die in den FRONT-Text hineingeschnitten sind. Dennoch umfasst das Libretto nicht mehr als sieben Seiten.

So kurz das Libretto, so lang die Aufführung: über zweieinhalb Stunden bewegen sich sechs Sänger (drei Frauen und drei Männer) und sechs Schauspieler (eine Frau und fünf Männer) in kaum merklichem Tempo über die nahezu kahle Bühne (das starke Bühnenbild gestaltete Philip Bußmann). Im ersten der sechs Akte geschieht nichts, als dass die zwölf an der Rampe aufgereihten Darsteller die Hände vom Gesicht nehmen – nur Rainer Süßmilch als Sprecher von Remarques Paul Bäumer schaut direkt ins Publikum. Jeder Akt beginnt mit Hammerschlägen aus dem Off. Danach singt die Altistin Noa Frenkel in englischer Sprache von den Erfahrungen einer Frau, die in ein Haus an der Steilküste gelangt ist und nicht wieder herausfindet, während ihr Hauswirt bald anwesend, bald im Meer ertrunken ist. Paul Bäumer spricht auf Deutsch vom Grabenkrieg und seine belgischen Gegner drücken auf Flämisch und Französisch ihren Hass auf die vertierten Boches aus. Später wird eine Krankenschwester von dem Entsetzlichen berichten, das sie im Lazarett erlebt.

Das Schlagen, Dröhnen, Flüstern, Donnern, Rauschen, Knirschen, Bohren, Heulen begleitet den Abend wahrlich nicht als Soundtrack, sondern schafft ein Kontinuum des Grauens, in dem die stillen Momente und die gesprochenen und gesungenen Texte umso stärker wirken. Die Klänge, die aus dem Graben kommen, sind dabei nicht menschlicher als die aus den im Saal verteilten Lautsprechern – Carlo Laurenzi hat sie im Pariser IRCAM aus realen Geräuschen montiert. Dirigent Titus Engel hat über lange Strecken nichts zu tun, um dann wieder die Musiker des Orchesters des Nationaltheaters zu präzisen Klangaktionen zu animieren: Auch sie müssen oft lange darauf warten, wieder einen Ton produzieren zu dürfen. Am Vorabend hatten sie bei „Elektra“ zeigen können, wie sie auf der Höhe ihres Könnens klingen, dies aber ist kein Abend der Sinnlichkeit. Auch die vier Instrumentalsolisten (Gitarre, E-Gitarre, zwei Celli) seufzen eher als dass sie singen.

So wird eine Meditation über den Krieg zelebriert, die erst in der Dauer ihre Wirkung entfaltet. Der Zuschauer wird gezwungen, über vieles nachzudenken, während die schwarze Wand an der Rampe zunächst ihre fünf Lamellen öffnet und dann schrittweise nach hinten schwingt in den weißen Raum. Ja, auch zum Zählen hat der Zuschauer Zeit. Es sind vier Männer mit nackten Füßen. Vier Frauen tragen knöchellange Röcke – Ilse Vandenbussches Kostüme sind in einem ungefähren Jahrhundertbeginn angesiedelt, mit Uniformanmutung bei den Remarque-Schauspielern. Interaktion gibt es nur beim Ergreifen eines Deserteurs (man werde ihn wieder zusammenflicken, berichtet die Krankenschwester, damit er an die Wand gestellt werden kann) und beim Niedersinken der Frau und ihres Hauswirts Rücken an Rücken. Sonst bewegen sich die Darsteller frei auf der Fläche, jeder in seinen eigenen Albtraum verwickelt.

Die Komponistin, der Regisseur und die Autorin, die Harvard-Professorin, der Theaterstar und die Nobelpreiskandidatin teilen sich das Geburtsjahr 1957. Ihre Großväter mögen den Ersten Weltkrieg noch miterlebt haben, die Väter den Zweiten. Und was hat sich in diesen 100 Jahren geändert? Die Welt ist voll von Kriegen, deutsche Soldaten sterben wieder im Ausland, Waffengeschäfte sichern unseren Wohlstand, den wir gegen Kriegsflüchtlinge verteidigen. Das Musiktheater wird daran nichts ändern, es kann nur die Fortdauer des Unerträglichen formulieren und uns für einen Abend aus unserer Ruhe reißen. Dass einige Premierenabonnenten damit nichts anfangen konnten und das Theater vorzeitig verließen, war abzusehen. Sie haben nicht nur das schöne Solo des Counters Terry Wey kurz vor Ende verpasst, sondern offenbar hat für sie das ganze Exerzitium nicht funktioniert.

Auch der Bassist David Salsbery-Fry trug mit seinen bohrenden Einlassungen zum profunden musikalischen Eindruck bei. Doch bei ihm wie bei der Sopranistin Karen Vourc’h hatte sich schon nach der Vorstellung die Klarheit darüber verflüchtigt, welche Partien aus welcher Sphäre sie beitrugen. Gab es ein System, nach dem Sänger und Schauspieler auf FRONT und „Homecoming“, auf Realismus und Surrealismus verteilt wurden? Oder sollte das alles verschwimmen zu einem immerwährenden, ununterscheidbaren Elend?

Die surrealistische Erzählung vom Haus an der Steilküste wirkte neben den realistischen Kriegsgräueln recht harmlos. Der darin enthaltene Surrealismus vermochte seinen Widerstand gegen den Rationalismus des Krieges nicht zu entfalten – das Konkrete und das Abstrakte schwächen sich gegenseitig und vermitteln Beliebigkeit. Wurde wieder für die bereits Bekehrten gepredigt? Gab es eine musikalische Substanz, die das Überleben des Stücks sichert? War es eine Avantgardeshow für Avantgardefans, eine Kopfgeburt, statt der sinnlichen Verführung zum Widerstand? Darüber wurde nach der Vorstellung viel diskutiert.

124

Interview Georgina Ginastera

Wir haben doch alle diese Ungeheuer in uns

Die Tochter des Komponisten Alberto Ginastera erinnert sich an die Zeit, als die Oper „Bomarzo“ entstand, deren ersten Aufführungen und an die Wandlungen des Komponisten.

Interview: Bernd Feuchtner 

KlassikInfo: Wie kam Ihr Vater auf die Idee, den Roman „Bomarzo“ zu vertonen?

Ginastera: Manuel Mujica Lainez hatte seinen Roman „Bomarzo“ kaum veröffentlicht, als er 1962 auch schon mit dem wichtigsten argentinischen Literaturpreis gekrönt wurde. In unserer Familie war unsere Mutter diejenige, die las, und sie sagte zu meinem Vater gleich: „Das ist fantastisch, das musst du lesen!“ Sie war ganz begeistert. Dabei hatte mein Vater gar keine Zeit, denn er war mit Unterrichten und Organisieren an der Katholischen Universität vollauf beschäftigt. Aber er schrieb die Kantate „Bomarzo“ – die ich nicht so mag, weil es dort nur den Erzähler, den Tenor und ein kleines Ensemble gibt, was nicht so gut passt. Das fühlten auch Mujica Lainez und Ginastera. Dann gab ihm die Oper von Washington den Kompositionsauftrag.

KlassikInfo: Aber wie formt man einen langen Roman mit all den Kriegen, Päpsten und Renaissancegeschichten zu einer kompakten Opernhandlung um?

Ginastera: Zuerst wählte meine Mutter einige Stellen aus und dann arbeiteten sie zu dritt daran weiter. Nicht einfach war es auch, Sänger dafür zu finden. Ich glaube, dass der „Wozzeck“ mit seinen kurzen Szenen für Ginastera das Vorbild war. Das Neue hingegen war der Flashback, der Rückblick im Angesicht des Todes, aus dem die Geschichte erzählt wird. Deshalb gibt es in der Oper nicht einen, sondern viele Bomarzos, das Kind, den jungen Mann, den Alten, der stirbt. Am Anfang ist er ein unschuldiges Kind, am Ende ist er ein Mörder, ein Bad Guy, ein Gewalttäter, ein übler Sünder. Und sein Wahn von der Unsterblichkeit erfüllt sich darin, dass er diese Ungeheuer im Park geschaffen hat. Wenn man dort im „Heiligen Park“ ist, dann spürt man wirklich den Geist Bomarzos. Ich war zweimal dort.

KlassikInfo: War Ihr Vater auch dort?

Ginastera: Das Verrückte ist, dass er die Oper schrieb, ohne die Ungeheuer zu kennen. So musste er sich die Monster selbst schaffen, mit seiner Musik. Aber wir haben doch alle diese Ungeheuer in uns – wir alle sind Bomarzo! Bomarzo hat keinen schlechten Charakter, es passiert ihm nur so vieles Ungeheuerliches, dass er selbst zum Ungeheuer wird.
KlassikInfo: War Ihr Vater an Kunst und Literatur interessiert?

Ginastera: Als ich ein Kind war, lagen im ganzen Haus Kunstbücher herum. Ich erinnere mich, dass ich so früh Picasso, Dalí und die anderen modernen Künstler gesehen habe. Und meine ersten musikalischen Erinnerungen sind Strawinsky, Boulez, Xenakis, also die musikalische Gegenwart. Erst dann ging ich zurück in die Vergangenheit, über Ravel und die Romantik bis zum Barock. Für mich war es immer einfacher, zeitgenössische Musik zu hören als alte Musik, zu der ich viel schwerer den Zugang fand. Letztes Jahr machte die Trinity Church in New York zum 100. Geburtstag meines Vaters ein Festival mit Musik des späten Beethoven und des späten Ginastera. Das war eine tolle Erfahrung!
Und doch hat er zum Schluss auch wieder argentinische Klänge verwendet, so im „Popol Vuh“.
Ja, er schrieb mir aus Genf, „Weißt du, Georgina, ich gehe zurück zu meinen Wurzeln.“ Das „Popol Vuh“ ist wie eine „Cantata para América mágica“ ohne Worte, die mir aber doch noch besser gefällt und vielleicht sein bestes Werk ist. Kürzlich sprachen wir über die Brüche im Werk von Komponisten, wie etwa bei Strawinsky. Von Bernstein will jeder die „West Side Story“ hören, von meinem Vater „Estancia“, aber man will nicht verstehen, warum sie sich geändert haben.

KlassikInfo:
Wie verstand man sich denn damals in Buenos Aires im Verhältnis zu Europa?

Ginastera: Jetzt habe ich hier mein Handy und das Internet und kann alles erfahren, aber damals gab es nur das Telefon und Briefe. Jedes Jahr fuhren meine Eltern nach Europa und in die USA und kauften dort Partituren. Im Radio konnte man kaum Neues erfahren. Mein Vater interessierte sich für die Zukunft. Anfangs war er zufrieden, ein lateinamerikanischer Komponist zu sein, doch später genügte ihm das nicht mehr, er wollte einfach ein Komponist sein. Er war zwar in Buenos Aires geboren, suchte aber nach Universalität. Man kann nicht immer nur Malambo schreiben, während die Welt sich weiterentwickelt.

KlassikInfo: Was war Ginastera wichtig?

Ginastera: Er konnte vieles gleichzeitig. Zunächst mal war ein guter Vater, das war sehr wichtig für mich. Und er liebte seine Freunde. Die Ausstattung des Hauses war sehr persönlich und in seiner Kleidung war er fast kokett. Er war sehr höflich, aber auch ein Perfektionist, bei der Arbeit, mit seinen Kindern, in seiner Musik. Er ging gern ins Theater, las Bücher und mochte Bilder. Er hatte eine unglaubliche Energie: ich brauche acht Stunden Schlaf, aber ihm genügten vier. Für mich gab es zwei Ginasteras: den mit Brille und den ohne Brille. Der Ginastera ohne Brille war mein Vater, der hatte ausdrucksvolle Augen, die auch traurig wirkten. Der Ginastera mit Brille hatte keine Augen, sondern war eine öffentliche Figur, die Distanz um sich erzeugte.
Er war ständig aktiv. Nur für vier Wochen im Urlaub spannte er aus, da gab es auch keine Musik. Wir fuhren in einen kleinen Ort am Meer, wo er die Natur genoss und schwimmen und fischen ging. Aber viel gelesen hat er dort schon. Er hatte auch viele moderne Bilder zuhause an der Wand. Mein Lieblingsbild besitze ich noch heute, zwei rosa Katzen von Nicolás García Uriburu, einem argentinischen Maler, der letztes Jahr starb. Nächste Woche fliege ich nach Mallorca, und zwar zu zwei Zielen. Zuerst auf den Spuren von Chopin und Georges Sand und dann auf denen von Ginastera: Bei Formentera gibt es einen kleinen Strand, an dem sich so zu erholen versuchte, wie er es in Buenos Aires getan hatte.

KlassikInfo: Welche Komponisten bewunderte Ginastera am meisten?

Ginastera: Er sagte einmal zu mir: Strawinsky ist wie Picasso. Der kann alles, auch sich ständig verändern. In der Oper liebte er Verdi, davon gab es auch im Colón genug. Gestern fand ich in der Generalprobe, dass das Finale wie Verdi ist: Mord, Gift und alle sind tot.

KlassikInfo: Wie kam der Perfektionist Ginastera mit seinen Interpreten zurecht?

Ginastera: Er hatte eine großartige Zusammenarbeit mit Julius Rudel oder Leonard Bernstein. Im Teatro Colón gab es Antonio Luis Tauriello, der bei Gieseking und Ginastera studiert hatte und bei „Bomarzo” die Sänger vorbereitete. Rudel war ein großartiger Musiker. Zu mir kam er einmal und sagte, „Georgina, komm, lass uns Kaffee trinken gehen, wie in Wien.” Mein Vater hatte zu seinen Werken eine klare Haltung: Ein Werk muss seinen eigenen Weg selbst gehen. Wie ein Kind. Als Plácido Domingo vor der Uraufführung von „Rodrigo“ zu ihm sagte: „Maestro, ich kann das so nicht singen,“ sagte mein Vater zu ihm: „Darauf kommt es nicht an, singen Sie es so, wie Sie es können.“ Er hatte Vertrauen zu seinen Interpreten und gab ihnen Freiheit. Auch zu mir war er so. Als ich ihm sagte, dass ich keine Musikerin werden wolle, obwohl ich gut Klavier spielte, sagte er, ich solle das tun, was ich für richtig halte. Als ich in Paris lebte, wurde mir meine Familie wichtiger. Ich habe zwei Kinder und vier Enkel, das bedeutet mir etwas. Mein älterer Sohn Julian feiert heute in Buenos Aires Geburtstag und wir tauschen fleißig WhatsApp-Messages aus.

KlassikInfo: Wie sehr wurden Sie von den Wendungen in der Musik Ihres Vaters überrascht?

Ginastera: Die zweite Periode war die eigentliche Wendung. Das erste Klavierkonzert ist ganz anderes als die Drei Tänze, viel mehr sophisticated. Die Änderung geschah mit der Gründung des Di-Tella-Instituts, als er dort 1962 das CLAEM-Studio gründete. Dort lehrten Boulez, Nono, Xenakis, aber auch die Studenten schrieben neuartige Musik. Ich selbst liebe weniger das „Popol Vuh“ oder die Stücke aus der Genfer Zeit, wie das zweite Klavierkonzert oder das dritte Quartett, sondern „Bomarzo“. Ginastera war leidenschaftlich, aber auch zart – Sie haben die zarten Momente in „Bomarzo“ ja gehört, wie etwa im Gesang der Julia Farnese.
Als ich noch klein war, lag Ginasteras Studio mit dem Klavier neben meinem Zimmer. Da hörte ich ihn immer arbeiten und erlebte seine Werke, als sie in der Werkstatt entstanden. Ich weiß noch, dass ich eines Abends – ich war vielleicht vier – seine Tür öffnete und sagte: „Ich kann dabei nicht schlafen, was machst du denn da?“ Er zog mich zum Klavier und sagte: „Das ist meine Arbeit. Siehst du die Noten dort? So was mache ich. Ich schreibe Musik, ich bin ein Komponist.“ Ach so, er arbeitet! Nun war ich ganz beruhigt, weil ich wusste, dass er arbeitet und alles in Ordnung ist.

KlassikInfo: Wie hat Ginastera die Zensur bei „Bomarzo“ beeindruckt?

Ginastera: Das war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Es war ja nicht die Musik, gegen die sie etwas hatten, sie waren gegen Astrologie und gegen Bisexualität. Mujica Lainez selbst machte aus seiner Homosexualität keinen Hehl, er hatte immer seinen „Sekretär“ bei sich. Einmal sagte er zu meinem Vater: „Mein Sekretär ist nicht mehr der vom letzten Mal, ich habe einen neuen.“ Mein Vater lachte und antwortete: „Es ist mir egal, welchen „Sekretär“ du mitbringst, ihr seid immer willkommen in meinem Haus!“ Vor allem hatte mein Vater aber auf einmal das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Nicht nur vom Militärregime, auch von der Kirche oder an der katholischen Universität. Kunst musste frei sein, Moral und Religion sind Privatsache. So katholisch und streng er privat war, so frei war er in der Kunst. Schauen Sie sich nur die Opern an: In „Rodrigo“ beginnt er mit einer Vergewaltigung, in „Bomarzo“ gibt es Homosexualität, in der dritten Oper Inzest und Missbrauch – was würde in der vierten Oper noch alles passieren!
Es kränkte ihn sehr, dass seine Opern am Teatro Colón bis 1972 nicht gespielt wurden. Da komponierte er auch nicht mehr. Meine Eltern ließen sich scheiden, ich lebte in Paris. 1970 kam er nach Paris und sagte: „Komm mit nach Kiel, lass uns ‚Bomarzo’ anschauen.“ Dort gestand er mir, dass er sich allein fühlte. Er brauchte die Liebe. Ein halbes Jahr später trat Aurora in sein Leben ein. Darüber war ich sehr glücklich.

KlassikInfo: Und wie war „Bomarzo“ in Kiel?

Ginastera: Oh, das war eine sehr expressionistische Aufführung mit viel Gewalt! Aber ich mochte sie sehr. Später sahen wir „Bomarzo“ in Zürich, und dort war es ganz statisch. Es fiel mir schwer zu verstehen, wie die gleiche Oper so verschieden sein kann.

125

Krenek Opern Frankfurt

Zwischen Bürgerschreck und Lebensreform

Die Frankfurter Oper stellt drei Einakter von Ernst Krenek zur Diskussion und zeigt, was ein Ensemble-Haus alles kann
Von Bernd Feuchtner
(Frankfurt, 2. Mai 2017) Im Jahr 1928 mag es die Bürger noch schockiert haben, wenn in den heiligen Hallen statt Wagner-Weihrauch oder Verdi-Staatsaktionen plötzlich ein Schwergewichtsboxer in einem Leichtgewichts-Stück präsentiert wurde. Heute provoziert das nur noch wenige Zuschauer zum Türenknallen (außerdem waren selbst diese in Frankfurt so nett, die Türe leise zuzuziehen). Bei dem 1926 entstandenen Einakter „Der Diktator“ von Ernst Krenek ist die größte Unwahrscheinlichkeit die, dass der Machtmensch Urlaub in der Schweiz macht – Mussolini hätte sich das nie getraut (der Austrofaschismus gab den Anstoß zu dem Stück). 1927 ließ der österreichische Komponist „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ folgen, eine Reaktion auf die Äußerung des deutschen Botschafters, die Sportler seien die wahren Botschafter der Nationen. Und die Figur des Boxers Ochsenschwanz ist Max Schmeling nachempfunden, obwohl dieser weder in Sport- noch in Liebesdingen eine so jämmerliche Figur gemacht hat wie sein Operndouble.
Diese beiden kurzen Stücke sind zwar albern, wurden in Frankfurt aber höchst ernsthaft besetzt. Bariton Davide Damiani, ständiger Gast des Hauses, glänzte als psychopatischer Kriegstreiber, und Juanita Lascarro war seine nicht weniger prägnante und koloraturensichere, verzickte Frau. Tenor Vincent Wolfsteiner hingegen durfte sich als Kriegsopfer quälen, dem das Giftgas und die Verschüttung das Augenlicht geraubt haben. Dessen Frau hasst den Diktator hingebungsvoll (Sara Jakubiak), wird von seinem stechenden Blick aber immer mehr in den Bann gezogen – zuerst will sie ihn erschießen, dreimal trifft sie, dreimal überlebt er. Dann verfällt sie ihm. Erschossen wird sie am Ende von der eifersüchtigen Frau des Diktators. Natürlich stand auch Freud Pate bei diesem Todesquartett.
Beim „Schwergewicht“ mimt das ehemalige Ensemblemitglied Simon Bailey den Preisboxer, der ein wenig die Kontrolle über seine Frau (Barbara Zechmeister) verloren hat. Diese treibt es nämlich lieber mit dem Tenor (Michael Porter mit feiner, durchschlagskräftiger Stimme und dem nötigen Schalk). Die Mezzosopranistin Nina Tarandek gibt Anna Maria Mitterhuber, die es sich in den Kopf gesetzt hat, Ärztin zu werden und zu promovieren, mit dem geforderten Trotz („Mein Unterbewusstsein ist zu stark“) – dass Krenek sich über dieses Frauenlos lustig machte, ist kein Ruhmesblatt für ihn. Michael McCown nimmt dem Boxer ein blödsinniges Interview ab, Ludwig Mittelhammer gibt Vater Himmelhuber – und als seien fünf Darsteller nicht genug, lässt Regisseur David Hermann auch noch den Diktator mit seiner Frau im Publikum Platz nehmen und statt dem Boxer in die neue Trainingsmaschine spannen. Dort trifft ihn am Ende des Boxers Bombe.
Zwischen den beiden Szenen des „Diktators“ hatte ein schönes, nachdenkliches Intermezzo aufhorchen lassen: Lothar Zagrosek entlockt Kreneks Partituren mit dem Museums- und Opernhausorchester wundersame Blüten. In den ersten beiden Einaktern dominieren sonst Jazzanklänge, Filmmusik, Klassikzitate – alles wild gemixt und durch den Kakao gezogen. Zagrosek hatte schon 1992 in Leipzig Kreneks Jazzoper von 1927 „Jonny spielt auf“ wiederaufgeführt und auch dessen Sinfonien eingespielt, sowie „Symeon der Stylit“ in Salzburg und „Orpheus und Eurydike“ bei den Berliner Festwochen dirigiert. Nach der Pause legt er bei dem Einstünder „Das geheime Königreich“ noch eins drauf. Aller Quatsch ist vergessen und es entrollt sich ein Märchen, dessen musikalische und szenische Erzählung den Zuschauer keinen Augenblick aus seinem Bann entlässt.
Hier hat Jo Schramm einen geborstenen Betonbunker gebaut, in dem sich der verzagte König versteckt hält (Davide Damiani gibt ihm nun verzweifeltere, anrührendere Töne). Als seine machtgeile Frau funkelt die Amerikanerin Ambur Braid, giftgrün aufgebretzelt (Kostüme: Katharina Tasch), mit ihren Koloraturen (sie singt in Frankfurt sonst die Königin der Nacht). Beide werden verfolgt von Peter Marsh als dem Rebellen, der angeblich das Volk an die Macht bringen will, aber nur selbst nach Blut und Macht giert. Gelassen ist der Narr; bei ihm ist der Kronreif sicher, bis er ihn beim Kartenspiel verliert (er ist halt doch nur ein Narr). Sebastian Geyer verkörpert diese zentrale Rolle mit hinreißender Lässigkeit und edlem Legatogesang – sein Bariton bietet das größte Sängerglück des Abends. Nach wiederum einem wunderschönen Intermezzo zeigt Bühnenbildner Jo Schramm uns einen grünen Wald, in dem das Machtspiel sein Ende findet. Die Königin verwandelt sich auf der Flucht vor dem Rebellen in einen Baum, und der Narr löst dem König das Rätsel: Nicht sein Kronreif, sondern das Auge des Tieres ist das runde Wunderding, in dem sich das Wesen dieser Welt offenbart.
Als Paul Bekker diese drei Einakter 1928 bei den Wiesbadener Maifestspielen uraufführen ließ, sorgte er für die entsprechende Aufregung. In Frankfurt schien es, als hätte nur der letzte der drei seine Energie bewahrt und alle beteiligten Kräfte zu voller Entfaltung gebracht. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, nur „Das geheime Königreich“ zu wählen und mit Hindemiths Einakter „Das Nusch-Nuschi“ zu kombinieren, dann hätte man einen Opernabend gehabt, in dem Fragen der Macht und der Liebe märchenhaft und ironisch verhandelt werden. Erstaunlich, dass es die Klangwelt von Mahlers Achter wäre, die diese Kombination auch musikalisch beglaubigt.
Beim herzlichen Schlussapplaus wurden die zahlreichen Beteiligten begeistert gefeiert – mit dieser Besetzung hätte man auch leicht die „Zauberflöte“ aufführen können. Lothar Zagrosek wärmte beim „Geheimen Königreich“ das Herz: Krenek pendelte in Wien noch zwischen Sozialdemokratie und Lebensreform unentschlossen hin- und her. David Hermann hatte einen roten Faden erfunden, der die drei Stücke verband und sorgte im „Geheimen Königreich“ auch szenisch zu einer sicheren Ankunft – dieses Stück ist sicherlich aktueller als der scheinbar so zeitgemäße „Diktator“.

126

Bomarzo

Sex and Crime in der Renaissance

Das Teatro Real in Madrid bringt endlich wieder einmal Alberto Ginasteras existenzialistische Oper „Bomarzo” zur Aufführung. Musikalisch hat sich das auf jeden Fall gelohnt.
Von Bernd Feuchtner
(Madrid, April 2017) Einen argentinischen „Wozzeck“ wollte Alberto Ginastera nicht schreiben, als er „Bomarzo“ komponierte, sondern eine Oper von universalem, humanem Wert. Mit dem Roman von Manuel Mujica Lainez (1910 – 1984) als Grundlage wäre das auch gar nicht anders möglich gewesen, denn der argentinische Schriftsteller hat ihn in Italien angesiedelt. 1963 wurde er dafür mit dem Großen Literaturpreis Argentiniens ausgezeichnet. „Bomarzo“ war ein internationales literarisches Ereignis und stand den Romanen des magischen Realismus nicht so fern: Der Herzog von Bomarzo, Schöpfer des berühmten „Gartens der Ungeheuer“, erzählt darin sein Leben in den Zeiten Michelangelos, weiß seltsamerweise aber genauso Bescheid über Toulouse-Lautrec und die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Wie verwandelt man ein solch vielfach aufgefächertes Epos von über 600 Seiten in ein Opernlibretto? Die Arbeit der Reduktion übernahm Mujica selbst, in enger Abstimmung mit Ginastera. In seiner Todesstunde sieht der Herzog von Bomarzo die Schlüsselszenen seines Lebens an sich vorüberziehen. Dieses Leben war fürchterlich: Als Buckliger geboren, wurde er als Kind misshandelt – wenn beispielsweise sein älterer Bruder mit ihm Herzog und Herzogin spielte, war er es, der vom Vater dafür hart bestraft wurde. Von seiner Frau mit seinem Bruder betrogen, wurde er zum Mörder und driftete in einen Wahn ab, der ihn im heiligen Hain seiner Residenz den berühmten Garten der Ungeheuer bauen ließ. Auf die überzeitlichen Aspekte verzichtet das Libretto ebenso wie auf die positiven Lebenserfahrungen des Herzogs, der im Roman immerhin in Benvenuto Cellini einen freien Menschen und Künstler trifft, der ihm vorlebt, dass es noch etwas anderes gibt als die adelsstolze und gewalttätige Atmosphäre seiner Familie. Man hat „Bomarzo“ in die Tradition des Manierismus gestellt – in dessen Zeit er ja spielt – doch es waren vor allem Kafka und Beckett, die Pate standen bei Ginasteras existenzialistischer Revue der Grausamkeiten.
Der Kompositionsauftrag an Ginastera erging zwar von der Washington Opera, die Uraufführung sollte jedoch 1967 im Teatro Colón in Buenos Aires stattfinden. Die argentinische Militärdiktatur verhinderte dies – nicht die atonale, zwölftongeprägte Musik Ginasteras missfiel ihnen, sondern die Szenen von Gewalt, Impotenz und angedeuteter Homoerotik wollte ihre heuchlerische Moral nicht dulden. Die Uraufführung kurz darauf durch Julius Rudel in Washington war ein großer Erfolg, und schon 1970 kam die Oper in Kiel auf die Bühne, wo mit Joachim Klaiber ein Intendant wirkte, der mit Theodor W. Adorno befreundet war und für einen aufgeweckten Spielplan sorgte.
Im Teatro Real bleibt der Vorhang noch zu, wenn die Musik sich aus dem leisen Rasseln des Schlagwerks zu entwickeln beginnt. Heraus tritt der Tenor John Daszak, Darsteller des Herzogs, im modernen schwarzen Anzug und starrt mit offenem Mund ins Publikum – offenbar ein Hinweis auf das berühmteste Monster in seinem Park, den aufgesperrten Schlund des Höllentors. Dieser Gesichtsausdruck wird ihm leider bleiben. Der Vorhang geht auf und Pier Francesco Orsini taumelt in eine Black Box, wo sich ihm die Gestalten seines Lebens nähern. Der Astrologe (mit seiner Haube sieht er aus wie eine Krankenschwester) hat ihm ewiges Leben prophezeit und will ihm nun ein Elixier verabreichen, das aber durch seinen Neffen vergiftet wird, so dass er stirbt. Nun spult sich der Film seines Horrorlebens ab.
Die finsteren Klänge fließen wie ein Dauerschmerz, wozu das schwarze Lavafeld passt, das nun von der Hinterbühne nach vorne fährt. Daraus krabbelt Orsinis Großmutter (Hilary Summers) hervor, die klingt wie ein Mann und aussieht wie eine Drag Queen – die Einzige in der Familie, die ihm bedingungslose Zuneigung schenkte. Regisseur Pierre Audi vermeidet jeden Realismus und lässt die Figuren wie im Traum erscheinen und wieder verschwinden. Was in der Handlung nur angedeutet ist, lässt er explizit werden: aus einem halbnackten Liebespaar, das die Hilflosigkeit des Missgestalteten gegenüber seiner eigenen Frau spiegelt, wird ein nacktes; sein älterer Bruder Girolamo (der Bariton Germán Olvera) präsentiert seinen perfekten Body ebenfalls splitternackt, bevor er beim Baden im Tiber verunglückt, was hier zu einem gemeinsamen Mord durch Orsini und seine Großmutter wird. Aus Orsinis ergebenem Negersklaven Abul (eine stumme Figur) wird sein lederbehoster Liebhaber, und wenn er seine Frau mit seinem Bruder erwischt, ersticht nicht Abul den Bruder, sondern Orsini selbst tötet die beiden Liebenden. Das alles degradiert „Bomarzo“ zur Travestieschmonzette, wo es doch um Schönheit, Vergänglichkeit, Seelenpein und das Wesen des Menschen geht.
Der Lichtdesigner Urs Schönebaum hat diesmal das gesamte Bühnenbild gestaltet. Neben der Lavabank arbeitet er vor allem mit enormen vertikalen und horizontalen Neonbändern und mit gigantischen Videoprojektionen der Fantasmen, die Orsini umtreiben. Der chaotische optische Überfluss macht es nicht immer leicht, sich auf die Musik Ginasteras zu konzentrieren, die feiner gestrickt ist, als es hier den Anschein hat. Vor allem die instrumentalen Zwischenspiele lassen aufhören, aber auch verfremdete Chöre, ein schräges Dies irae und verzerrte Renaissance-Tänze. Wenn man freilich dabei die Allerweltsgymnastik des Bewegungschores in Goldhöschen sieht, denkt man mit Wehmut an die witzigen Choreografien, mit denen Amir Hosseinpur früher Barockopern illustriert hat. Überhaupt versteht man häufig, was auf der Bühne gemeint war, ohne dass sich die entsprechende Theatermagie einstellt.
Die stärkste Figur auf der Bühne ist zweifellos Milijana Nikolics lustvoll gesungene und gespielte Kurtisane, und Nicola Beller Carbone gelingt eine zarte Darstellung von Orsinis schöner Frau. Am wenigsten versteht man, warum es für „Bomarzo“ keine spanischsprachigen Sänger geben soll – die italienische Sprachmelodie stört doch sehr, vor allem bei einem Werk, das intensiv mit Sprechgesang und rezitativischem Singen arabeitet, wie das in der Literaturoper der 1960er Jahre ja generell beliebt war. Auch hätte es eines stärkeren Kontrasts der Stimmfarben bedurft, um etwa zwischen Orsini und seinem Vater und seinen Brüdern eine Spannung entstehen zu lassen.
Chor und Orchester des Teatro Real leisten Großartiges an diesem Abend, Ginastera hat sie mit reichem Material versehen. Der unsichtbare Chor prägt manche Szene genauer als die Bühne. Und was David Afkam mit dem Orchester im gesamten Bereich zwischen Geräusch und Sonorität gestaltet, lässt immer wieder erstaunen. Bei aller Schwärze und Kargheit gibt es keine Beliebigkeit, sondern genau auf die jeweilige Szene ausgehörte Klangsensationen. „Bomarzo“ erweist sich als genuiner Beitrag zur Oper des 20. Jahrhunderts und auf der Höhe einer Zeit, die das Individuum zerbrechen sah unter dem gesellschaftlichen Druck, auch wenn dieser sich gespiegelt sieht in jener fernen Epoche, in der es sich zu entdecken begonnen hatte.
Aufführungen bis 7. Mai
http://diarioliricoes.blogspot.de/2017/04/bomarzo-de-ginastera-llega-al-real.html

127

Alberto Ginastera

So klingt Buenos Aires

Alberto Ginasteras 100. Geburtstag im Jahr 2016 fand nicht viel Nachhall in Europa. Volker Tarnow hat eine fulminante Monographie über den argentinischen Alban Berg geschrieben, von der man nun einen starken Anschub für dessen große Musik erhoffen möchte.
Von Bernd Feuchtner

(April 2017) Die Geschichte Amerikas ist die Geschichte der Grausamkeit und Gier christlicher Eroberer. Von den Einwohnern der „Neuen Welt“ ließen sie ebenso wenig übrig wie von deren Kultur. Amerikanische Kultur ist deshalb die Kultur von Eroberern. Volker Tarnows Buch über den argentinischen Komponisten Alberto Ginastera beginnt daher mit einem Panorama des Verlusts. Das Interesse der Kolonisten etwa an der Musik der nordamerikanischen Indianer und der lateinamerikanischen Völker war gleich Null, und das Wissen ihrer Nachkommen ist bescheiden. Als sie allmählich selbst Künstler hervorbrachten, konnte es nicht ausbleiben, dass diese auch neugierig wurden auf das Wenige, das von der indigenen Kultur übrig geblieben war. Wer dort aufwuchs, nahm diese Eindrücke als Teil seiner Lebenswelt wahr und begann auch damit, sie in seine Kunst zu integrieren. Ginastera, geboren am 11. April 1916, war der erste namhafte argentinische Komponist, der nicht im Ausland, vorzugsweise in Paris, studiert hatte, sich vor allem als Argentinier fühlte und argentinische Musik schreiben wollte. Die Klänge der Hauptstadt Buenos Aires und der Pampa hallen in seiner Musik ebenso wider wie Elemente der Musik der Ureinwohner.

Wäre er dabei geblieben, müsste es diese Monographie nicht geben. Zusammen mit dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos und dem Mexikaner Carlos Chávez gelang es Ginastera jedoch, aus der europäischen Kunstmusik und lateinamerikanischen Traditionen ein elaboriertes Hybrid zu entwickeln, das auch neue Formen ausbildete. Wo Villa-Lobos seine „Choros“ schrieb, da schuf Ginastera seine „Pampeanas“. Tarnow leuchtet die Spuren der Vorgänger nicht weniger detailreich aus als die rhythmischen, melodischen und harmonischen Schätze der indigenen Musik, die für Ginastera folgenreich wurden. Das ergibt ein faszinierendes Fresko hunderter vorüberjagender Eindrücke, die der Leser anhand von 400 Quellennachweisen nach Belieben und Interesse vertiefen kann. Da die al-fresco-Manier durch flotte Ausdrucksweise aufgelockert wird, nimmt man dem Autor die Überfülle ab.

Immer wieder werden einzelne Werke aufgegriffen, um an ihnen die Besonderheiten von Ginasteras Musik zu zeigen. Als Leitstern erkannte der Komponist mit der Zeit Alban Berg, wozu sicher auch die Bekanntschaft mit Erich Kleiber betrug, der den Wozzeck und die Lulu-Suite in Berlin uraufgeführt hatte. Wie Fritz Busch war Kleiber vor den Nazis nach Argentinien ausgewichen; beide taten viel für die Entwicklung der lateinamerikanischen Musik und förderten Ginastera entschieden. Weniger hilfreich waren für den Komponisten und seine Kollegen jedoch die verschiedenen profaschistischen Militärregimes, die sie ein ums andere Mal aus ihren Jobs herauswarfen. Ginastera leistete viel Aufbauarbeit im Musikleben seines Landes, was teilweise seinen nicht sehr umfangreichen Werkkatalog erklärt, aber auch einen bürgerlich-behaglichen Lebensstil garantierte. Warum es zu Konflikten mit dem argentinischen Mussolini Peron führte, wird auch deutlich erhellt.

An einem Werk wie der Cantata para América mágica für dramatischen Mezzosopran und ein Orchester von 53 Schlaginstrumente wird nicht nur die Kompositionsweise Ginasteras erklärt, sondern Tarnow wehrt auch politische Vereinnahmungen durch ideologische Kolonialismuskritik ab: „Dagegen behauptet sich die Cantata para América mágica als autonomes und zukunftweisendes Kunstwerk, weil sie die Autonomie, die Unantastbarkeit antiker Kulturdokumente thematisiert, weil sie die unaufhebbare Grenze zwischen jenem Einst und unserem Heute nicht konservativ-nostalgisch oder politisch-ideologisch negiert Diesem Zweck dient die Verfremdung durch moderne Stilmittel.“ Neben der feinen Durcharbeitung der Musik betont Tarnow die Gewaltsamkeit und Sinnlichkeit von Ginasteras Musik – er war eben tatsächlich nicht Hindemith nahe, sondern eher Varèse. Eine Musik, die nicht transzendiert, die sich mit l’art pour l’art bescheidet, war Ginastera ein Gräuel. Dies war es wohl vor allem, die auch europäischen und nordamerikanischen Musikern seine besonderen Qualitäten früh erkennen ließ. Mit Folklorismus hat Ginastera nichts zu tun.

Heute ist Ginastera in europäischen Konzertsälen kein häufiger Gast. Warum nicht mal sein traumhaftes Klavierkonzert statt Brahms’ Zweitem? Warum nicht seine instrumentale Vertonung des Maya-Schöpfungsmythos Popol Vuh? Das Buch bringt so viele Beweise der hohen Qualität und Besonderheit von Ginasteras Musik (er integrierte sogar Mikrotonalität und Zwölftonmusik souverän in seinen Stil), dass der Leser Lust auf ihr Erklingen und Wut auf die Trägheit der Konzertdramaturgen bekommt. Aber auch auf die der Opernintendanten: in dem detaillierten Werksverzeichnis des Buches finden sich auch drei bemerkenswerte Opern. Don Rodrigo (1963/64) erzählt eine verbreitete Liebesgeschichte aus der Zeit der Kämpfe zwischen Westgoten und Arabern, Bomarzo (1966/67) lässt den Schöpfer des berühmten Monster-Gartens südlich von Rom über seine Obsessionen nachdenken und Beatrix Cenci (1971) schildert das Schicksal eines vom Vater missbrauchten Mädchens.

Wie im Wozzeck besitzt jedes Bild von Don Rodrigo eine autonome musikalische Form und eine Zwölftonreihe bildet das frei gehandhabte Gerüst der leidenschaftlichen Oper, als deren tragischer Titelheld Plácido Domingo auf der Bühne der New York City Opera bei deren Eröffnung 1966 stand. Gewiss, das Werk ist dicht und ständig unter Hochspannung, doch nicht dichter und erregter als Aribert Reimanns Lear, mit dem man es durchaus vergleichen kann. Ginasteras zweite Oper Bomarzo wurde 1967 vom Junta-General Onganía persönlich verboten, weil der Saubermann Sex, Gewalt und Halluzination nicht auf der Bühne dulden wollte – wie Ginastera betonte, hätte er dann allerdings 98 Prozent des Opernrepertoires verbieten müssen. Die erfolgreiche Uraufführung fand dann in Washington statt. Herzog Orsini, der die steinernen Ungeheuer in seinem Garten schaffen ließ, ist ein Geistesverwandter des Alviano Salvago, dessen Orgien den Ausgangspunkt von Franz Schrekers Die Gezeichneten bilden. Die Erinnerungen des Herzogs in seiner Todesstunde liefern die Bilder der Oper. Ebenfalls in Washington wurde 1973 seine dritte Oper nach Shelleys romantischer Tragödie Beatrice Cenci uraufgeführt.

Ginastera war 1971 zu seiner zweiten Frau nach Genf gezogen, wo er am 25. Juni 1983  starb. So kurz die Liste seiner 55 Opera auch scheinen mag, seine Werke sind dicht und vielgestaltig. Tarnows Buch hätte man noch einen tabellarischen Lebenslauf und eine Literaturliste gewünscht, was sich ja vielleicht bei der zweiten Auflage ergänzen lässt. Die Knappheit des Buchs ist seine Tugend, denn es entlässt den Leser mit dem dringenden Wunsch nach einem Mehr, das er in den Werken des Komponisten finden wird.

[zur nächsten Buch-Rezension]

128

Rudolf Barschai ist tot

Der Freund der Komponisten

Der Dirigent, Bratscher und Bearbeiter Rudolf Barschai ist tot

Eigentlich war er schon ein Pionier der historischen Aufführungspraxis, bevor es sie gab – in Russland war die Barockmusik bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts völlig vergessen. Erst ein Gastspiel des Münchner Kammerorchesters von Wilhelm Stross elektrisierte den jungen Geiger Rudolf Barschai so, daß er diese Musik auch für seine Heimat zu neuem Leben erwecken wollte. Und da er sie sich aus eigener Anschauung der Noten ganz selbständig erarbeitete, hatte sein Moskauer Kammerorchester nicht nur in der Sowjetunion durchschlagenden Erfolg, sondern erntete auf internationalen Tourneen und mit vielverkauften Schallplatten auch Weltruhm.

Den Eigensinn und die Selbständigkeit hatte er sich unter den Umständen des Stalinismus früh antrainiert – 1948 erlebte er den Ketzerprozeß gegen Prokofjew, Chatschaturjan und seinen Lehrer Schostakowitsch, als die besten sowjetischen Komponisten als "Formalisten" verurteilt und aus ihren Ämtern gejagt wurden. Gemeinsam mit seinen Mitschülern reichte er einer Konservatoriumsprofessorin, die ein Übermaß an Anpassung leistete, einen Zettel aufs Podium der Versammlung: "Wann haben Sie gelogen – heute hier oder bei uns im Unterricht?" Vor allem aber lernte er da, was Musik vermag. Er verstand die Doppelbödigkeit von Schostakowitsch und begriff, daß die Musik für viele Menschen ein Bereich war, in den die tägliche Lüge nicht eindrang – solange die Interpreten sich um die Wahrheit bemühten, was freilich auch nicht immer der Alltag war.

Daß die Musik für Rudolf Barschai eine existentielle Sache war, hatte sich relativ spät gezeigt; er war schon dreizehn, als sie ihn in der Schule überfiel, und man erklärte ihm, daß das viel zu spät sei, um noch Geige zu lernen. Doch dank seines Eigensinns brachte er es immerhin dazu, daß man ihn in die Moskauer Spezialschule für Musik aufnahm und daß er schließlich beim besten aller russischen Geigenprofessoren in die Lehre gehen konnte, bei Lew Zeitlin. Und doch wurde es nicht die Geige, auf der er ein weltweit geschätzter Solist wurde, sondern die Bratsche. Der Student Barschai hatte nämlich entdeckt, daß er ein Quartettmensch war, und weil sich für sein Streichquartett kein ebenbürtiger Bratschist finden ließ, übernahm eben er dieses Instrument; das war übrigens die Geburtsstunde des Borodin-Quartetts, das noch heute mit dem Cellisten der ersten Stunde, Valentin Berlinsky, um die Welt tourt.

Im Moskauer Kammerorchester entwickelte Rudolf Barschai sich in den 50er Jahren schließlich zum Dirigenten. Der Reichtum des Moskauer Musiklebens der 60er Jahre ist kaum vorstellbar: Zu Barschais Partnern gehörten nicht nur die sagenhafte Marina Judina, die vor allem bei Mozart Wert darauf legte, als Klaviersolistin nicht übergangen zu werden, sondern auch David Oistrach, Swjatoslaw Richter (der in seinen späten Jahren mit keinem anderen Dirigenten mehr zusammenarbeiten wollte), Emil Gilels, Mstislaw Rostropowitsch und zahllose andere brillante Musiker. Der Sozialismus förderte die Talente ebenso wie er sie oft wieder vernichtete, und er brachte Persönlichkeiten hervor, die etwas zu sagen hatten. Mit ihren Gastspielen bereicherten sie auch das westliche Musikleben, und Yehudi Menuhin wurde sein häufiger Partner. Doch nachdem Schostakowitsch 1975 gestorben war, wurden für Barschai die Behinderungen und Schikanen der Bürokratie eine so große Belastung, daß er sich, wie sein Kollege Kyrill Kondraschin, zur Emigration entschloß.

Da sein Vater aus einer jüdischen Familie aus Weißrußland stammte (die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Armee ausgelöscht wurde), während seine Mutter aus einem alten Kosakengeschlecht kam, das sich einer alttestamentarischen Sekte angeschlossen hatte, stand Barschai die Emigration nach Israel offen – sein Freund Isaak Stern half ihm bei den ersten Schritten, und Golda Meir war sein erster Fan als Chef des Israelischen Kammerorchesters. Inzwischen zog es ihn jedoch schon zum großen symphonischen Repertoire, er ging bald nach England und übernahm die Leitung des Bournemouth Symphony Orchestra samt der britischen Staatsbürgerschaft.

Und nun zeigte sich, was sich schon mit der Aufnahme der Beethoven-Symphonien beim Moskauer Kammerorchester angedeutet hatte, daß Rudolf Barschai durch die gründliche Durcharbeitung der Musikgeschichte zu einem der bedeutendsten Interpreten auch des klassisch-romantischen Repertoires herangereift war. Die Schule seines Geigenlehrers Lew Zeitlin leitete sich von der Wiener Geigenschule her, und so hatte er schon mit der Ausbildung die Prinzipien der Wiener Musik verinnerlicht – die auch für Schostakowitsch eine der entscheidenden Grundlagen war. Barschais letzte Schostakowitsch- und Mahler-Aufnahmen ernteten internationale Preise – sie waren die genauesten. Mahlers Zehnte dirigiert er in einer eigenen Rekonstruktion, die die Leerstellen der Cooke-Fassung durch sinngemäße Hinzufügungen zum vollen Klang ergänzt und dabei manchmal schon Schostakowitsch hervorlugen läßt. Bei Schostakowitsch hatte er das Handwerk des Komponisten gelernt und mit dessen Achtem Streichquartett seine Laufbahn als Bearbeiter begonnen, das in der Barschai-Fassung als Kammersymphonie zum Kernrepertoire aller Kammerorchester gehört. Ihm sind etliche weitere Werke gefolgt. Ein Work in progress aus der Studentenzeit war seine bedeutende eigene Vervollständigung der Kunst der Fuge von J. S. Bach.

In den letzten Jahren hatte diese Reihe eine kontinuierliche Erweiterung durch neue Stücke erfahren, die Barschai einem breiteren Publikum zugänglich machen wollte. Seine Gastspiele führten ihn regelmäßig auch nach Japan. Auch dort schätzte man seine rein der Sache gewidmeten Auftritte, die keine Ego-Show waren, sondern die Musik von innen heraus zum Leuchten und zum Sprechen brachten. Am Dienstag Abend ist Rudolf Barschai im Alter von 86 Jahren in seinem Haus in der Nähe von Basel verstorben.
Bernd Feuchtner

129

Holländer Salzburg

Holländer im 3D-Effekt

Der "Fliegende Holländer" als Landestheater-Produktion im Salzburger Festspielhaus
(Salzburg, 18. Oktober 2010) Wer sich ständig nur im Umkreis der hehren Premieren der ersten Häuser bewegt, tendiert nur allzu leicht dazu zu vergessen, mit welchen finanziellen (und damit in der Regel auch künstlerischen) Problemen sich Stadt- und Landestheater konfrontiert sehen, wenn sie über die Zone der leichter zu besetzenden und umzusetzenden Quasi-Kammeropern hinaus wollen. Das gilt fürs Sängerische, die Orchesterqualität und auch fürs En­gage­ment von Regisseuren der oberen Kategorie. Da heißt es, sich nach der Decke strecken und Risiken und Chancen gegeneinander abwägen: Insbeson­dere in den Wagner- oder Strauss-Opern sind die tragenden Rollen mit Ensemble­kräften meist nicht oder nur schwer zu besetzen; für zugkräftige Gäste fehlt das Geld. Der Chor ist immens gefordert und die Or­chester sind für diese Opern oft zu klein, oder ringen – zumeist bei den Bläsern – mit dem Limit ihrer Möglich­keiten und Erfah­run­gen. Und gute Regisseure sind auch an den bekannten Opernhäusern Mangelware. Dass das Publikum unver­ständig sei, ist hingegen eine Mär. Gute, nachvollziehbare und handwerklich sauber gearbeitete Pro­duktionen finden – von Ausnahmen abgesehen – immer den Zuspruch, den sie ver­dienen.
In Salzburg gibt es eine lange Tradition des Landestheaters, einmal im Jahr das Große Festspielhaus für eine große Opernproduktion zu nutzen. Nach der durch fortgesetzte Etatkürzungen motivierten Zwangspause und dem Abgang des langjährigen Inten­danten Lutz Hochstrate wurde nun – zum ersten Mal seit 2003 – wieder ein neuer Anlauf ge­nommen. Unter der Ägyde des neuen (und nun schon wieder weiterziehenden) Opernverantwortlichen Bernd Feuchtner wurde – in Koope­ration mit der rührigen "Salzburger Kulturvereinigung" – ein achtbarer "Fliegender Holländer" aus der Taufe gehoben, der sich durchaus sehen (und hören) lassen kann.
Das liegt zuallererst an der musikalischen Grundierung durch das Salzburger Mozarteumorchester unter der Leitung seines Chefdirigentren Ivor Bolton. Bei seiner ersten Wagner-Oper versteht er es, von der zügig und mit Verve ge­nommenen Ouvertüre an alle Kraftreserven des Klangkörpers zu mobilisieren, dem Schlagwerk eine prominente Rolle zuzu­weisen und den Musikern eine breite Palette von Farben und hochexplosiver Emotio­nalität zu ent­locken, ohne je zu schwergewichtig zu agieren. Die Spannung kommt nie zum Erliegen und mitunter – wie in der Szene um die Ballade der Senta – werden Bögen aufgebaut, die deutlich machen, wie sehr Wagner hier – gespielt wurde die erste Fassung ohne den Erlösungsschluß – noch auf der Suche nach der ihm adäquaten durchgängigen Opernform war. Auch in dem (von Wagner selbst angedachten) Verzicht auf Pausen zwischen den Akten klang dies an.
Der Bühnenbildner Jürgen Kirner war sichtlich vom Riesenraum des Festspiel­hauses inspiriert, nutzte verschiedene Möglichkeiten der Raumgestaltung und eröffnete der etwas statischen Regie Aron Stiehls vielfältige Möglichkeiten zwischen stilisiert-bewegten Chor-Standbildern und einem Realismus der Dar­stellung im Schlußakt. Dominiert wurde die Bilderwelt von fast skizzenhaften, düsteren Pinselzeichnungen auf laubsägeartigen Kulissen mit 3-D-Effekten. Nur ein gelber Mond und ein bedeutungsvolles rotes Element bringen etwas Farbe ins Spiel. Am gelungensten war wohl das Anfangsbild, in dem Dalands Mann­schaft auf einem angedeuteten Schiff zu sehen ist. Hier hatten die ex­zellenten Choristen des verstärkten Chors des Salzburger Landestheaters Gelegenheit, ihre Qualitäten hören zu lassen. Und der einzige hauseigene Sänger, Franz Supper, hielt als Steu­ermann die Ensemblefahne mehr als nur tapfer hoch.
Unter den Stimmen stach Julie Makerovs stattliche, aber nicht immer intona­tionsreine Außenseitergestalt der Senta hervor. Die Holländer-Gestalt (mar­kant: Marcus Jupither) hat ihren ersten Auftritt gleichsam im Auge des Taifuns zu absolvieren. Erik (Jeffrey Lloyd-Roberts) ist etwas plakaktiv als angepaßter Häuslebauer charakterisiert und schlägt sich wacker durch die schwierige Tenor­partie, Bjarni Thor Kristinsson stattet den geldgierigen Daland mit einem markigen Baß aus. Heike Grötzinger erfüllt ihre Rolle als betuliche Leiterin eines Chors, der ein Spinnlied probt, auch vokal mit Leben.
Leider verlief sich das Ende der Oper im Beiläufigen, was auch in den letzten Takten durch die Rück­kehr zum Anfangsbild – einer Bildergalerie, die wohl die Biographie des Hollän­ders  versinnbildlichen wollte – nicht aufgefangen wurde: Das neue aufge­hängte Bild mit einer blauen Gestalt – korrespondierend zum blauen Kostüm Sentas – deutet an, daß die Erlösung des Holländers diesmal fast geglückt wäre. Das hätte man auch einfacher und überzeugender sagen können.
Derek Weber

130

Düstere Außenseiter-Skizzen.

Eine Academie mit Haydn


Der "Fliegende Holländer" als Landestheater-Produktion im Salzburger Festspielhaus.
Wer sich ständig nur im Umkreis der hehren Premieren der ersten Häuser bewegt, tendiert nur allzu leicht dazu zu vergessen, mit welchen finanziellen (und damit in der Regel auch) Problemen der künstlerischen Umsetzung) sich Stadt- und Landestheater konfrontiert sehen, wenn sie über die Zone der leichter zu besetzenden und umzusetzenden Quasi-Kammeropern hinaus wollen. Das gilt fürs Sängerische, die Orchesterqualität und auch fürs En­gage­ment von Regisseuren der oberen Kategorie. Da heißt es, sich nach der Decke zu strecken und Risiken und Chancen gegeneinander abzuwägen: Insbeson­dere in den Wagner- oder Strauss-Opern sind die tragenden Rollen mit Ensemble­kräften meist nicht oder nur schwer zu besetzen; für zugkräftige Gäste fehlt das Geld. Der Chor ist immens gefordert und die Or­chester sind für diese Opern oft zu klein, oder ringen – zumeist bei den Bläsern – mit dem Limit ihrer Möglich­keiten und Erfah­run­gen. Und gute Regisseure sind auch an den bekannten Opernhäusern Mangelware. Dass das Publikum unver­ständig sei, ist hingegen eine Mär. Gute, nachvollziehbare und handwerklich sauber gearbeitete Pro­duktionen finden – von Ausnahmen abgesehen – immer den Zuspruch, den sie ver­dienen.
In Salzburg gibt es eine lange Tradition des Landestheaters, einmal im Jahr das Große Festspielhaus für eine große Opernproduktion zu nutzen. Nach der durch fortgesetzte Etatkürzungen motivierten Zwangspause und dem Abgang des langjährigen Inten­danten Lutz Hochstrate wurde nun – zum ersten Mal seit 2003 – ein neuer Anlauf ge­nommen. Unter der Ägyde des neuen (und schon wieder weiterziehenden) Opernverantwortlichen Bernd Feuchtner wurde – in Koope­ration mit der rührigen "Salzburger Kulturvereinigung" – ein achtbarer "Fliegender Holländer" aus der Taufe gehoben, der sich durchaus sehen (und hören) lassen kann.
Das liegt zuallererst an der musikalischen Grundierung durch das Salzburger Mozarteumorchester unter der Leitung seines Chefdirigentren Ivor Bolton. Bei seiner ersten Wagner-Oper versteht er es, von der zügig und mit Verve ge­nommenen Ouvertüre an alle Kraftreserven des Klangkörpers zu mobilisieren, dem Schlagwerk eine prominente Rolle zuzu­weisen und den Musikern eine breite Palette von bunten Farben und hochexplosiver Emotio­nalität zu ent­locken, ohne je zu schwergewichtig zu agieren. Die Spannung kommt nie zum Erliegen und mitunter – wie in der Szene um die Ballade der Senta – werden Bögen aufgebaut, die deutlich werden lassen, wie sehr Wagner hier – gespielt wurde die erste Fassung ohne den Erlösungsschluß – noch auf der Suche nach der ihm adäquaten durchgängigen Opernform war. Auch in dem (von Wagner selbst angedachten) Verzicht auf Pausen zwischen den Akten klang dies an.
Der Bühnenbildner Jürgen Kirner war sichtlich vom Riesenraum des Festspiel­hauses inspiriert, nutzte verschiedene Möglichkeiten der Raumgestaltung und eröffnete der etwas statischen Regie Aron Stiehls vielfältige Möglichkeiten zwischen stilisiert-bewegten Chor-Standbildern und einem Realismus der Dar­stellung im Schlußakt. Dominiert wurde die Bilderwelt von fast skizzenhaften, düsteren Pinselzeichnungen auf laubsägeartigen Kulissen mit 3-D-Effekten. Nur ein gelber Mond und ein bedeutungsvolles rotes Element bringen etwas Farbe ins Spiel. Am gelungensten war wohl das Anfangsbild, in dem Dalands Mann­schaft auf einem angedeuteten Schiff zu sehen ist. Hier hatten die ex­zellenten Choristen des verstärkten Chors des Salzburger Landestheaters Gelegenheit, ihre Qualitäten hören zu lassen. Und der einzige hauseigene Sänger, Franz Supper, hielt als Steu­ermann die Ensemblefahne mehr als nur tapfer hoch.
Unter den Stimmen stach Julie Makerovs stattliche, aber nicht immer intona­tionsreine Außenseitergestalt der Senta hervor. Die Holländer-Gestalt (mar­kant: Marcus Jupither) hat ihren ersten Auftritt gleichsam im Auge des Taifuns zu absolvieren. Erik (Jeffrey Lloyd-Roberts) ist etwas plakaktiv als angepaßter Häuselbauer charakterisiert und schlägt sich wacker durch die schwierige Tenor­partie, Bjarni Thor Kristinsson stattet den geldgierigen Daland mit einem markigen Baß aus. Heike Grötzinger erfüllte ihre Rolle als betuliche Leiterin eines Chors, der ein Spinnlied probt, auch vokal mit Leben.
Leider verlief sich das Ende der Oper im Beiläufigen, das auch in den letzten Takten durch die Rück­kehr zum Anfangsbild – einer Bildergalerie, die wohl die Biographie des Hollän­ders  versinnbildlichen wollte – nicht aufgefangen wurde: Das neue aufge­hängte Bild mit einer blauen Gestalt – korrespondierend zum blauen Kostüm Sentas – deutet an, daß die Erlösung des Holländers diesmal fast geglückt wäre. Das hätte man auch einfacher und überzeugender sagen können.

Derek Weber