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130 Suchergebnisse für: Feuchtner

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Deutschsprachige Opernkonferenz übernimmt Götz-Friedrich-Preis

(30. Januar 2018) Der renommierte Götz-Friedrich-Preis kann seit 20 Jahren mit Preisträgern wie Franziska Severin, Stefan Herheim, Sebastian Baumgarten, Benedikt von Peter, Elisabeth Stöppler und jüngst Yuval Sharon oder Mizgin Bilmen eine stolze Reihe junger Opernregisseure präsentieren, deren Karriere durch den Preis einen kräftigen Anstoß bekommen hat.

Der große Regisseur Götz Friedrich hatte den Preis gestiftet, um den besonders Begabten unter dem Nachwuchs eine Chance zu geben. Die lange Zeit der niedrigen Zinsen bringt Stiftungen jedoch in Schwierigkeiten: Wenn das Stiftungskapital nichts mehr abwirft, können weder Preisgelder noch die notwendigen Reisen der Jurymitglieder bezahlt werden.

Die Deutschsprachige Opernkonferenz – der Zusammenschluss der großen Häuser im deutschsprachigen Raum – hat sich daher entschlossen, die Finanzierung des Götz-Friedrich-Preises zu übernehmen. Als Preis der Deutschsprachigen Opernkonferenz wird er in Zukunft in zweijährigem Rhythmus von einer Jury aus vier Opernintendanten unter Vorsitz von Bernd Loebe von der Oper Frankfurt vergeben. Weitere Jury Mitglieder sind Andreas Homoki von Opernhaus Zürich, Barrie Kosky von der Komischen Oper Berlin und Christoph Meyer von der Deutschen Oper am Rhein. Fünftes Mitglied der Jury ist der neue Geschäftsführer des Götz-Friedrich-Preises, Bernd Feuchtner. Junge Regisseurinnen und Regisseure können sich ab sofort bewerben über www.goetz-friedrich-preis.de.

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Ginastera in der Elbphilharmonie

Ein Fest für Alberto Ginastera

Die NDR Elbphilharmonie, das Minguet Quartett und der Pianist Michael Korstick widmen zwei Abende dem großen argentinischen Komponisten

Von Bernd Feuchtner

(Hamburg, 25., 26. Januar 2018) Jetzt ist klar, für welche Musik die Elbphilharmonie gebaut worden ist: für Alberto Ginastera. Nach dem Malambo aus „Estancia“ brach ein derartiger Jubelschrei aus, als hätte da gerade Gustavo Dudamel mit seinem Jugendorchester ein Heimspiel in Caracas. Dabei spielte das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Carlos Miguel Prieto ein Konzert der Reihe „das neue werk“ mit einem All-Ginastera-Programm. So kompliziert die Musik des Argentiniers manchmal auch sein mag, hier klang sie vielschichtig, durchsichtig, elektrisierend und unmittelbar ansprechend.

Die Neugier auf die Elbphilharmonie ist auch ein Jahr nach der Eröffnung ungebrochen. Selbst wenn an zwei Abenden ausschließlich Musik eines so unbekannten Komponisten wie des Argentiniers Alberto Ginastera auf dem Programm steht, sind sowohl der Kleine als auch der Große Saal ausverkauft. Natürlich wissen die meisten nicht, was sie erwartet, die Hälfte dürfte aus Neugier auf die Architektur gekommen sein. Aber diese Neugier hat sie zur Musik gebracht! Wie werden sie reagieren? Dass nach jedem Satz freundlich geklatscht wird, zeigt einerseits, dass sie keine typischen Konzertbesucher sind, andererseits aber, dass es ihnen wirklich gefällt. Dabei muss man sich durchaus erst einmal einhören in die Musik Ginasteras, mit der am ersten Abend das Minguet Quartett die Zuhörer im Kleinen Saal überfallen hat.

Unser kolonialer Blick erwartet von einem argentinischen Komponisten Klänge der Pampa. Die Musik der Gauchos hat Ginastera aber höchstens in seiner Jugend interessiert, als er sich noch einen Namen machen musste. In seiner Heimat gab es ja noch viel mehr zu hören: die Musik der Inkas und der Mestizen etwa, oder die Großstadtklänge der weißen Einwanderer, von denen Ginasteras Eltern abstammten, der Vater hatte katalanische Wurzeln, die Mutter italienische. Und da war die neuartige Musik, die aus Europa herüber kam: Bartóks Allegro barbaro hatte den jungen Komponisten wie ein Schock überfallen und später brachte ihm der aus Deutschland vertriebene Erich Kleiber die Zweite Wiener Schule nahe. Wie bei Janáček ist bei Ginastera das Folkloristische aber nur Material, nicht das Wesen der Musik. Ginastera ist ein schönes Beispiel eines musikalischen Weltbürgers.

Mit beinahe wütendem Stampfen beginnt das Erste Streichquartett von 1948, gefolgt von einem geisterhaften Vivacissimo, einer nächtlichen Szene, als hätten sich Mendelssohns Sommernachtstraum-Visionen in die Straßen von Buenos Aires verirrt. Die Musiker des Minguet Quartetts spielen das mit hohem Einsatz und überraschen die Zuschauer mit einem Klang, wie sie ihn wohl noch nie gehört haben; vor allem die Bratscherin versucht die dialogischen Momente auch in der Gestik aufzuzeigen. Im langsamen Satz hingegen zieht der Primgeiger „objektive“ Linien durch ein an Klangeffekten reiches Geflecht. Im „rustico“-Finale kehrt dann der motorische Vitalismus des Anfangs wieder. Die Sonatenform sieht sich im argentinischen Kleid gerettet. Der Beifall für das Quartett war entsprechend stark.

Den Rest des ersten Konzertteils bestritt Michael Korstick mit Klaviermusik von Ginastera. Hier gab es zunächst im Frühwerk die erwarteten regionalen Farben, in den argentinischen Tänzen op. 2, drei Charaktersätzen aus dem Jahr 1937: ein alter Rinderhirte, der überraschend schnelle Schritte setzt, ein hübsches Mädchen, das im Mittelteil kräftig auftrumpft, bevor es mit einem Leuchten schließt, und ein boshafter Gaucho, der in besoffenen Synkopen wütet. Ginastera schafft es in diesem letzten Stück, sozusagen graue Farbe zu mischen und Hohn damit laut werden zu lassen – die Musik selbst wird regressiv. Schon in diesen frühen Stücken quält er den Pianisten mit rhythmischen Finessen und abenteuerlichen Fingersätzen, was Korstick aber nur zu offensiver Brillanz herausfordert – die Zuhörer sind hingerissen.

Die fünf Klavierstücke der Suite de danzas criollas von 1946 (dem Jahr, als der Kryptofaschist Perón an die Macht kam, den Ginastera hasste) sind in keiner Weise zum Tanzen geeignet. Das erste ist ein melancholischer Anti-Tango, dem ein „rustico“-Ausbruch folgt. Dann zwei träumerische Stücke und ein vitalistisches Finalstück, in dem melodische Partien nur als Klangeffekt aufscheinen. Der kleine Saal der Elbphilharmonie erweist sich für den direkten Klang des Steinway als ideal und Michael Korsticks phänomenale Interpretation zwingt das Publikum nicht nur zu langem, starkem Beifall, sondern auch zur Rückkehr nach der Pause.

Vor der Ersten Klaviersonate von 1952 gibt Frank Harders-Wuthenow ein paar Erläuterungen, die dem Publikum helfen, diese Musik einzuordnen, und nach dem Konzert führt er ein Gespräch mit Michael Korstick, der Ginastera die Erste Sonate noch als Student der Juilliard School in New York vorgespielt hatte. Ginastera war vor allem ein Orchesterkomponist und auch wenn er für das Klavier schrieb, dachte er nicht an die Verrenkungen, die er dem armen Pianisten abzwang, sondern nur an die Klangfarben, die ihm vorschwebten. Korstick, der zum 100. Todestag des Komponisten 2016 eine viel gerühmte Gesamtaufnahme von Ginasteras Klaviermusik vorgelegt hat, zeigt in seiner Interpretation der Sonate, wie viel Spaß ihm gerade auch deren Vertracktheiten machen – sie gehen ja auch dem Publikum unter die Haut und lassen es am Ende in Jubel ausbrechen.

In seinen Sonaten und Quartetten folgt Ginastera stets der Sonatenform, auch wenn er im Klavierquintett von 1963, mit dem das Konzert schloss, eine siebensätzige Form vortäuscht: es sind aber lediglich drei auskomponierte Kadenzen zwischen die vier Grundsätze geschoben, für Bratsche und Cello, dann für die beiden Geigen und schließlich für das Klavier. Dies folgt gleichzeitig einer raffinierten Klangfarbenregie. Hitchcock-mäßige Spannung neben scheinbar abstraktem Spiel, Griffvirtuosität mit Doppelgriffen und Trillern neben geräuschhaft-verhuschtem Geisterwesen, donnernde Dissonanzen in freier Rhythmik neben dem strengen Exerzitium einer Nachtmusik – bis sich im Finale wieder die getriebenen Streicher gegenüber der Wucht des Klaviers behaupten müssen, das seine Akkorde dazwischenhämmert. Sie tun es mit Bravour. Der erste Teil des Plädoyers für Ginastera endet mit einem Erfolg, als wäre es ein Beethovenabend gewesen. Die Zuhörer haben eine neue Welt entdeckt.

Der zweite Abend im Großen Saal mit dem NDR-Orchester begann mit den Variationen über Themen von Pablo Casals, die Ginastera 1976 dem verstorbenen Lehrer seiner zweiten Frau Aurora gewidmet hat: Glosses sobre temes de Pau Casals. Faszinierend, wie hier eindrucksvolle Instrumentalsoli an Klangflächen grenzen, sich Explosionen in huschende Schatten auflösen, ein Posaunenchoral in aufgeregten Trompetensignalen untergeht. Das Orchester ist riesig und die Klangfantasie dieses Komponisten unerschöpflich, ständig geschieht etwas Neues. Hohe Streicher weben einen Schleier, unter dem dann allmählich Wärme entsteht – und jäh platzt mit einer Sardana, dem Nationaltanz der Katalanen, ein Ausbruch von Vitalität hinein. Dann wieder weit gespannte Linien: die Melodiebildung Ginasteras ist ein Kapitel für sich. Mit einer Sardana als Schlusswirbel fängt Dirigent Carlos Miguel Prieto dann den letzten Skeptiker ein. Auch hier war nach jedem Satz geklatscht worden, nun aber herrscht Begeisterung.

Xavier de Maistre ist der Solist in Ginasteras Harfenkonzert von 1956 – neben dem Glière-Konzert aus dem Jahr 1938 wohl das populärste Konzert für dieses Instrument. Ginastera folgt der Tradition der spanischen Gitarre, setzt aber nicht nur auf effektvolle Glissandi, sondern nutzt das Instrument auch percussiv; noch im größten Getümmel ist es immer durchzuhören. Im Mittelsatz wieder meditative Gelassenheit mit fein ausgehörten Dissonanzen, der Komponist imaginierte den Sternenhimmel über der Pampa. Nach einer großen Kadenz dann das eingängige Finale, das auch dem Orchester viele erstaunliche Klänge bietet. Danach wird der Solist ausgiebig gefeiert.

Bei den Sinfonischen Studien von 1967 kann man nur bedauern, dass sie nicht vor 50 Jahren in Donaueschingen erklungen sind. Die Neue Musik hätte sich anders entwickelt! Aber auch die mitteleuropäische Avantgarde hatte den kolonialistischen Blick und war auf diesem Ohr taub. Ginastera entfesselt das Orchester. Hier sind die avantgardistischen Spielweisen, Harmonien und Rhythmen Mittel zum Zweck, und der Zweck ist das Staunen des Publikums. Wie etwa die Studie „Der beflügelten Bewegung“ ein Flimmern, ein Sprudeln, ein Rauschen, ein Sprühen im piano vorbeifließen lässt oder in „Para una sola nota“ eine Klangfläche ausbreitet, das hat einen hohen sinnlichen Reiz. Das Schlussstück ist „Der orchestralen Virtuosität“ gewidmet und erzeugt ein rhythmisches Beben und Wühlen.

Noch begeisterter war das Publikum dann natürlich von den Tänzen aus dem Ballett „Estancia“, in dem populäre Klänge sich mit raffinierten Effekten mischen – und auch vertrackte Rhythmen enorm Spaß machen. Beim Malambo stampfen die Musiker den Doppelschlag mit dem Fuß mit und der gut gelaunte mexikanische Dirigent animiert das Publikum mitzutun. Prieto ist Spezialist für lateinamerikanische Musik, aber auch kompetent in der europäischen Tradition – mit dem Orquesta Sinfónica de Minería hat er den kompletten Mahler-Zyklus eingespielt. Daneben leitet er noch das nationale Sinfonieorchester von Mexiko und das Louisiana Philharmonic Orchestra. Diesem Energiebündel von einem Dirigenten möchte mal bald einmal wieder begegnen – ein bisschen Pfeffer kann auch Beethoven nicht schaden.

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Die Gezeichneten an der Komischen Oper Berlin

Unendliche Lustqual

Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ bescheren der Komischen Oper einen Triumph

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 21. Januar 2018) Gegen den Orkan, den Stefan Soltesz am Pult des Orchesters der Komischen Oper entfacht, ist Friederike gar nichts: Dieser Sturm fegt die gesamte gute Gesellschaft in den Abgrund. Das schillert in allen nur denkbaren Farben und Harmonien, wechselt jäh vom flehenden Säuseln zum brausenden Grauen, schwemmt in seiner gurgelnden Flut allerlei Treibgut mit und reißt den Zuhörer in prachtvolle Wonnen der Lust. Von allem zu viel – aber es gibt kein Zuviel, Mehr ist Mehr! „Inflationsmusik“ nannte der Schreker-Dirigent Otto Klemperer das, gar nicht böse. Franz Schreker macht süchtig nach Klang, er instrumentiert raffinierter als Wagner und besser als Strauss. Wie Max Klinger in Malerei und Plastik, so geht Schreker an die musikalischen Grenzen von Farbigkeit und Gestaltung, verbindet Klimts Jugendstil-Ornamentik mit Böcklins Symbolismus. Dabei sind die Formelemente klug durchkonstruiert – die Phantasmagorie ist im technischen Zeitalter angekommen. Diese „Gezeichneten“ saugen den Zuschauer magnetisch hinein in den Strudel des Lasters, der die (fiktive) Adelsrepublik Genua erfasst hat.

Der Renaissancemensch Alviano gehört zur sorgenfreien herrschenden Klasse. Wir sehen ihn während des Vorspiels in dem blendendweißen Rahmen, mit dem Rebecca Ringst das Bühnenportal ausgekleidet hat. Auf den weißen Flächen erscheinen Videos vom Wiener Prater und von Kindergesichtern. Eine bunte Kinderschar umringt Alviano, der die Buben und Mädchen herzt. Ein Junge, der abseits steht, hat es ihm besonders angetan, und zu allem Überfluss bekommt er im Geschenkkarton auch noch eine Puppenversion des Kleinen überreicht. Wir sehen, dass Alviano Kindern etwas zu sehr zugetan ist. Der vibrierende Rausch der Musik durchfährt ihn wollüstig und furchtbar zugleich. Franz Schreker, der das Libretto selbst verfasst hat, kennzeichnete Alviano als einen missgestalteten Menschen, der keine Liebe findet, aber für seine Freunde eine Liebesinsel – nicht Kythera heißt sie hier, sondern Elysium – gestaltet hat, auf der sie ihre Orgien feiern und die Jugend der Stadt vergewaltigen.

So etwas wirkt heutzutage auf der Bühne leicht peinlich. Dass die Schauer der Musik sich hier nun aber mit einer derart verbotenen Lust verbinden, macht es wirklich unangenehm für den Zuschauer. Es gibt keine Ausrede: Dieses Schwelgen in satten Klangschwaden beleuchtet schamlose Vorgänge. Adorno hatte die Frankfurter Uraufführung im April 1918 (in der Endphase des Weltkrieges!) als Vierzehnjähriger erlebt, und sie hat sich für ihn unauflöslich mit dem Drängen der Pubertät verbunden – die Stärke dieser Musik liegt gerade in ihrer Schwäche. Schon 1959 hielt er ein Plädoyer für die Wiederentdeckung Schrekers, nachdem die Nazis diesen in den Tod und seine vielgespielten Opern in die Vergessenheit getrieben hatten. Doch es dauerte noch bis 1979, bis Michael Gielen und Hans Neuenfels, wiederum in Frankfurt, mit ihrer Inszenierung von „Die Gezeichneten“ endlich die Schreker-Renaissance anstießen. Diese Musik zu dirigieren scheint geradezu ein Jungbrunnen zu sein, wenn man sieht, wie gut gelaunt und munter Soltesz nach drei Stunden zum Applaus erscheint.

Er hat aber nicht nur ein wunderbares Orchester, sondern auch ein prachtvolles Sängerensemble zur Verfügung. Peter Hoare ist dieser verquälte Alviano mit immer wieder überraschender Ausdrucksvielfalt seines an Schattierungen reichen Tenors, dabei ein bewundernswerter Darsteller der ganzen Palette von Seelenqualen. Mit seinen Kumpanen steht er auf der hell beleuchteten Vorderbühne. Blinzelnde Kindergesichter in Großaufnahme sehen auf sie herab. Im zweiten Akten werden es die gierigen Gesichter dieser Stützen der Gesellschaft sein, die dort erscheinen, ekelhaft hin und her zoomend, so dass ihre Fantasien kenntlich werden. Unter ihnen auch Alvianos Freund Tamare, der Frauenheld, der es am schlimmsten treibt in diesem Elysium. Er ist es, der seinen Freund erledigt, als dieser beschließt, das Liebesparadies allen Bürgern zu öffnen: seine Sinnenlust braucht die Exklusivität und seine Verbrechen fürchten die Entdeckung. Michael Nagy singt und spielt diesen Wüstling mit all dem Übermut stimmlicher und körperlicher Schönheit, mit denen der ausgestattet sein muss.

Tamares neueste Eroberung ist Carlotta, die Tochter des Podestà, mit dem Alviano den Schenkungsvertrag ausgearbeitet hat. Ausrine Stundyte schleicht herein wie die drogensüchtige Punkerin, die sich immer noch für eine Künstlerin hält. Sie provoziert mit Gesten, die sonst Männersache sind, aber wenn sie dann auch noch ihren Vater leidenschaftlich küsst, weiß man, dass die Kinderschänderei bis in die Politik reicht – geschändete Kinder glaubten ja oft, dass nicht falsch sein kann, was die Erwachsenen da tun, und lieben ihre Peiniger nicht nur, sondern eifern ihnen auch nach. Die Drogensucht Carlottas kommt nicht von ungefähr. Als sie Alviano sieht, will sie ihn malen, und als sich die Möglichkeit von Liebe abzeichnet, verkleidet sie sich wie jener Knabe, nach dem Alviano sich verzehrt. All dies will man gar nicht deutlicher gezeigt bekommen als halbszenisch an der Rampe vor der weißen Wand – und mehr als das Konzept dieser minimalistischen Inszenierung von Kinderschänderei hat Regisseur Calixto Bieito auch nicht beigetragen zu diesem Abend. Keine Nacktheiten, keine Übergriffe. Schrekers Musik sagt ja schon alles.

Der fabelhafte Bariton Jens Larsen war 2005 der nackte Osmin in Bieitos erster Skandal-Inszenierung an der Komischen Oper, in der „Entführung aus dem Serail“, und nun ist er der würdevolle Bürgermeister im grauen Haar, der genau die Gefahren kennt, die Alvianos Schenkungsplan birgt. Jens Larsen, Christiane Oertel, Joachim Goltz, die Sänger der sechs genuesischen Edelmänner (was für ein Wort angesichts ihrer Taten!) – sie alle sind Teil dieses großartigen Sängerensembles, das den Abend durch alle peinigenden Tiefen trägt. Ingo Krügler hat sie in heutige Kleidung gesteckt, die sie perfekt als Charaktermasken kennzeichnet.

Im dritten Akt wird die weiße Wand durchbrochen, das Gerüst fährt tief in die Bühne hinein und glitzernde Leuchtstäbe erhellen das Elysium; das Leucht-Logo zeigt an, dass aus dem exklusiven Club nun ein Kommerztempel werden soll. Hier nutzt Rebecca Ringst nun alle Möglichkeiten zum Zaubern. Eine Kindereisenbahn dreht ihre Runden – Alviano und sein Sehnsuchtsobjekt sind die Passagiere in einem surrealen Film. Riesenspielzeugfiguren locken Kinder an. Als dann aber das Volk hereinströmt – erst jetzt wird das Ganze zu einer Veranstaltung der Masse; der Chor der Komischen Oper ist von David Cavelius wieder hervorragend einstudiert – wird es zur leichten Beute der Verhetzung. Die einen sind begeistert von der sexuellen Befreiung, die anderen wittern Verschwörung und Parteienzwist. Und streiten „kundig“ darüber, ob das nun Kunst sei, was da veranstaltet wird.

Tamare hat Alviano seine Carlotta wieder weggenommen, was diesen vollends in die Agonie stößt. Für ihn gibt es nur die unendliche Lustqual. Sie entlädt sich schließlich im Mord an Tamare. Schreker hat die Lust der Meute am Skandal so expressiv komponiert wie später Canetti sie beschrieben hat. Es hätte sie aber nicht gebraucht, um die Kinderschänder zu Fall zu bringen, denn deren Elysium implodiert von selbst. Und noch diesen Einsturz hat Schreker genial komponiert, so dass der Zuschauer auf die Vorderkante seines Stuhls fixiert bleibt bis zum letzten Akkord. Großer, lang anhaltender Beifall und ein Riesenerfolg für die Komische Oper.

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Neue Oper: Der Mieter

Die Verwandlung

Uraufführung von Arnulf Herrmanns Oper „Der Mieter“ in Frankfurt

Von Bernd Feuchtner

(12. November 2017) Wie einst Kafkas Gregor Samsa sich plötzlich in einen Käfer verwandelt sah, so erlebt Georg in Arnulf Herrmanns neuer Oper „Der Mieter“ nach dem Roman Le Locataire chimérique (1964) von Roland Topor seinen Körpertausch mit seiner Vormieterin. Berühmt wurde die Vorlage durch die Verfilmung Roman Polanskis.
Auf der Leinwand in der Oper sehen wir, wie er sich in einem zur Schachtel geschrumpften Zimmer aus dem Anzug quält und Johannas Kleid anzieht, das er im Zimmer vorgefunden hat. Hinter der Leinwand hören wir Georg und Johanna wispern: „du : ich : ich : du : wie : ich : du : ich : ich : du :“ (Text: Händl Klaus).

Vor und nach dieser Verwandlungsszene fällt die Musik in Stummheit, die Aktion auf der Bühne erliegt. Und danach übernimmt Johanna. Die fabelhafte Anja Petersen schraubt ihren Sirenengesang immer weiter in die Höhe: „fang : an : dem fang : und an : und an : und an : so : dass ich : sprang“ – Johanna war nämlich, wie Georg gleich beim Einzug erfahren hatte, aus dem Fenster gesprungen und auf dem Glasdach gelandet. Und nun zieht Johanna Georg auf die gleiche Bahn.

Es passiert nicht viel in diesen zwei Stunden, eigentlich werden Momente ins Unendliche gedehnt. Die Zimmervergabe durch die Portiersfrau (durch die umwerfende Bühnenpräsenz von Hanna Schwarz war der Einstieg schon mal gesichert), das Frühstück im Café gegenüber, wo der Kellner so tut, als gebe immer noch Johanna ihre Bestellung auf (Sebastian Geyer macht mit verschmitzt-elegantem Bariton ein Kabinettstückchen daraus), die Einweihungsparty (bei der vor allem Michael Porter mit seinem frischen Tenor glänzt), dem frechen Nachbarn, der sich über jedes Geräusch beschwert, die anderen Nachbarn, die Georg zu Unterschriften gegen Mieter nötigen wollen, die angeblich zu laut sind, der Hausbesitzer, der Georg autoritär zurechtweist (Alfred Reiters Bass stakst in tiefsten Tiefen), die Mieterin mit dem behinderten Kind, die von den Nachbarn schikaniert wird (die wunderbare Claudia Mahnke zieht die Silben, die sie stotternd hervorbringt, ausdruckslos in sich hinein), das alles sind Bilder, die in der Summe einen unerträglichen Druck ausüben, auf den Zuschauer nicht weniger als auf Georg. Es ist der Druck zur Anpassung.

Nicht wenige der Zuschauer hatten am Nachmittag in der Kunsthalle Schirn die Ausstellung „Glanz und Elend in der Weimarer Republik“ besucht. Die schicken Klamotten (von Katharina Tasch) und jene fiesen Fressen erkennen wir auch auf der Bühne wieder. Der von Walter Zeh zur Präzision gedrillte Chor formiert sich zur Hetzmeute, die es nicht erwarten kann, bis Georg spurt. Und die Mechanik der Kompression funktioniert. Georg wagt keinen Widerstand: Nach dem selbstbewussten Auftritt des langhaarigen Jungspunds versinkt Björn Bürgers viriler und sympathischer Bariton mehr und mehr im Sumpf der repressiven Gesellschaft, bis er in Johannas Rolle aufgeht. Am Ende ist er nur noch akrobatisch aktiv, wenn er, an Seilen hängend, in der Waagerechten läuft und schließlich, als die letzte Wiederholung des Falls sich zur erlösenden Himmelfahrt umkehrt, ganz nach oben entschwebt.

Regisseur Johannes Erath hat sich eine Menge einfallen lassen, um diese Nichtaktionen poetisch aufzuladen und theatralisch zu erfüllen. Als Haupthandlungsort ließ er sich von Kaspar Glarner einen eindrucksvollen Leuchttisch bauen, der das gemietete Zimmer repräsentiert und mit einem Waschbecken möbliert ist. Dem gegenüber das Fenster, aus dem Johanna sich gestürzt hat und immer wieder stürzen wird. Wie vieles andere wird es per Video (Bibi Abel) herbeigezaubert, so dass man sich mehr und mehr in einem Lars-von-Trier-Film wähnt, der Arnulf Herrmanns Musik als Soundtrack gekapert hat. Auch Josh Jürgen Martins Sounddesign hat wirksamen Anteil an der Darstellung der Musik.

Nicht nur ich dachte an Carl Orff an diesem Abend. Ist Arnulf Herrmann der Orff unserer Zeit? Würde Orff heute so komponieren? Einerseits nein, denn er hatte ja Spaß an der Wucht und Brutalität des Rhythmus. Andererseits wissen wir nicht, wie der heutige Druck der Anpassung auf ihn gewirkt hätte – obwohl er sich mit Anpassung ja auch auskannte. Arnulf Herrmann malt seine Klänge – etwa ein in höchster Lage fiependes Geigenflageolett zu einem in tiefsten Tiefen brummenden Kontrafagott – wie mit dickem Filzstift auf Glasplatte. Seine Steigerungen sind grausam wie Betonfassaden, eine Art deutscher Minimalismus. Das klingt zwar hölzern, ist aber mit rhythmischer Raffinesse aufgebaut. Das Frankfurter Opernorchester unter Leitung des langjährigen Lyoner Opernchefs Kazushi Ono führt diese Exerzitien getreulich und machtvoll aus. Wieder einmal haben wir gelernt, wie grausam der Verblendungszusammenhang unsere Welt vernagelt. Wie gut, dass wir nicht auch noch aus dem Fenster springen müssen, sondern dies stellvertretend im Theater erledigt wird.

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Die Trojaner in Dresden

Blutspur der Helden

Lydia Steier inszeniert Berlioz‘ „Trojaner“ in der Dresdner Semperoper, John Fiore dirigiert

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 2. Oktober 2017) Was für eine hinreißende, farbenreiche, tiefempfundene Musik! Die Begegnung mit den „Trojanern“ von Hector Berlioz ist immer wieder ein großartiges Erlebnis, und glücklicherweise wird es heute immer öfter möglich. Jetzt hat auch die Sächsische Staatsoper dieses Hauptwerk des 19. Jahrhunderts auf die Bühne gebracht. Die Pariser Zeitgenossen haben es nicht hören wollen und Berlioz hat es der Pariser Oper nicht zugetraut. Erst Felix Mottl hat es 1890 in Karlsruhe komplett gespielt. Und auch jetzt in der Semperoper zeigt sich wieder, dass zwischen beiden Teilen ein tiefer Zusammenhang besteht, vor allem in den beiden starken Frauen, die den Troja- wie den Karthago-Teil dominieren. Jennifer Holloways Kassandra und Christa Mayers Dido waren denn auch die größten Pluspunkte der Dresdner Aufführung.

Berlioz hat eine echte Oper geschrieben, statt vom Gesamtkunstwerk zu träumen wie sein Nachfolger Richard Wagner, der von ihm gelernt hat, große Szenen zu schreiben und einen gewaltigen Bogen über den gesamten Abend zu spannen. Beide haben sich am Mythos abgearbeitet: Wagner hat gemeint, die Welt erklären zu müssen und dafür die nordischen Mythen ausgeborgt, Berlioz hat Vergils Äneis vertont, weil er deren Helden seit seiner Kindheit liebte – und war sich dessen kaum bewusst, dass dies ein Epos nach dem Ende der Mythen war, ein absichtsvoll konstruierter Gründungsmythos Roms zur Festigung der Herrschaft seines Kaisers Augustus. Berlioz mag das Kaiserreich Napoleons III. haben stützen wollen, doch dass er ihn in seinem Plüschsalon aufsuchte und dort den Text der Trojaner vortrug, hatte keinerlei Folgen. Der Kaiser interessierte sich für die Technik und die Modernisierung Frankreichs, die er zumindest nicht behinderte.

Jacques Offenbach lebte davon, diese zukunftsbesoffene Gesellschaft, die im Geist aber im Ancien Régime stecken geblieben war, zu verspotten. Genau diese Operettengesellschaft lässt Regisseurin Lydia Steier sich nun auf der Dresdner Bühne freuen, und damit die Zuschauer sich nicht zufrieden zurücklehnen, weil das ja nur die Franzosen etwas angehe, spielt der erste Akt vor einer Architekturzeichnung der Semperoper und als trojanisches Pferd wird das Reiterdenkmal des sächsischen Königs vom Vorplatz hereingezogen – ob die blauen Fähnchen, die begeistert geschwenkt werden, auch zur Dresden-Verortung gehören, sei dahingestellt. Gegenüber dieser grell überschminkten Menge, die durch die Bläserbegleitung noch großspuriger wirkt, erscheint die strenge Kassandra wie eine der Frauen der Pariser Kommune, die nach dem Sturz des Kaisers im Krieg von 1870/71 einen wirklichen Zukunftsversuch unternahm. Jennifer Holloway bricht in diese Masse als das einzige Individuum ein, das sich einen klaren Verstand bewahrt hat, bei aller Wucht fehlt es ihr nie an Wärme und Einfühlung, sie gestaltet die Liebe zu Choröbus (sehr überzeugend und mit großer Spannweite an Ausdruckskraft: Christoph Pohl) mit Wahrhaftigkeit, ohne je den Ton des Entsetzens über die kommende Katastrophe zu verlieren, die eben eine so persönliche wie gesellschaftliche ist.

Im Karthago-Akt ist das umständliche Gebilde, das Bühnenbildner Stefan Heyne auf die Bühne wuchten ließ, bevölkert mit russischer Folklore: Popen, bunte Bauersfrauen, wackere Handwerker, die so tun, als ob sie am Turmbau zu Babel mitwirkten (Kostüme: Gianluca Falasci); Narbal (Evan Hughes, ein fabelhafter Sängerschauspieler, der die Verwirrungen, die Didos Vertrauter durchläuft, überzeugend vermittelt) schleppt einen gigantischen Hammer, Iopas eine genauso überdimensionierte Sichel, das Volk schwenkt jetzt rote Fähnchen. Dido ist die visionäre Architektin und Anna die praktisch denkende Bauleiterin. Christa Mayer strahlt in Stimme und Erscheinung ungebrochene Zuversicht aus, doch dass sie sich diese durch Leid erworben hat, wird erkennbar, wenn die trojanischen Flüchtlinge ankommen und sie sich erinnert, dass sie dasselbe Schicksal hinter sich hat.

Hätte sie diese Männer, die alles andere sind als Flüchtlinge, doch niemals aufgenommen! Denn sie haben ihren Auftrag, nach Italien zu ziehen, dort die Völker zu meucheln und ihr Rom zu gründen – da werden sie auch auf ihrem Weg wenig Federlesens machen. Was macht man mit Helden, die das Totschlagen toll finden und den Heldentod das Ziel eines Manneslebens? Tatsächlich benehmen sie sich in Lydia Steiers Inszenierung eher wie Besatzer. Seinen Sohn Askanius singt Emily Dorn als einen dummen Jungen, der mit den Wölfen heult. Die Regisseurin hält dem Heldenepos den kritischen Spiegel vor und zieht ihre Sicht konsequent bis zum Ende durch, was die andere, die dunkle Seite der Musik zum Klingen bringt. Dem schlechten Benehmen der Trojaner fallen leider die so wunderbar melancholischen Lieder von Hylas und Iopas zum Opfer, die einfach untergehen. Bryan Register gelingen als Äneas allerdings nicht nur die Heldentöne, sondern er schmiegt sich im großen Liebesduett auch elegant an Christa Mayers Sopran. Hier ist allerdings der Bühnenbildner der Feind der Sänger – auf dem Turmbau sind sie zu weit weg, um das Publikum zu erreichen, und John Fiore am Pult mangelt es hier leider an Emphase, um die Trunkenheit der beiden richtig hochkochen zu lassen. Noch ärgerlicher ist es, dass ein albernes und völlig überflüssiges Geruckel der trojanischen Flotte die große Arie Didos zerstörte – wie überhaupt manches entbehrlich war an Aktionismus, der am Zuhören hinderte.

Und zu hören gab es doch so viel! Die Sächsische Staatskapelle bot die Riesenpalette der Orchesterfarben von Berlioz, die ja nicht weniger als eine Shakespeare-Bühne bereitstellen wollen, stürmte in der aberwitzigen Attacke, lärmte im blinden Vergnügen, schwelgte im Liebesrausch, von John Fiore zuverlässig angeleitet. Die Chöre spielten nicht nur mit größtmöglichem Einsatz sondern produzierten auch den spezifischen Klang, glänzend einstudiert von Jörn Hinnerk Andresen.

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Hamburger Parsifal

Der Tor im Wunderland

Der Hamburger Parsifal der beiden Theaterzauberer Kent Nagano und Achim Freyer

Von Bernd Feuchtner

(Hamburg, 24. September 2017) Das Licht im Saal ist noch an, und dennoch jagen die Sehnsuchtsklänge des Vorspiels dem Zuhörer Schauer über die Haut. Ein Abend der ausgehaltenen Widersprüche. Kent Nagano analysiert die Musik und entfaltet gleichzeitig ihre Sinnlichkeit. Achim Freyer wirft dazu Begriffe auf den Schleier wie „Schwarz, schwer, Traum, Schlaf, Fluch, Gott“ und setzt dahinter eine szenische Himmelsmechanik in Gang. Die Gesichter der Sänger sind so stark übermalt, dass keinerlei individuelle Mimik erkennbar ist, aber aus ihren Mündern strömt der allermenschlichste Ausdruck. Dies ist deutlich kein die Köpfe benebelndes Weihfestspiel, sondern eine Aufführung für mündige Bürger.

Kwangchul Youns Gurnemanz erinnert mit seinem schief sitzenden Auge an den Hogwarts-Professor Moody mit seinem spinning eye, den Lehrer gegen die dunklen Künste; zudem trägt er auf seinem Kopf das Modell dieser Welt, die Spirale, samt einem zweiten Kopf. Der fabelhafte Bassist versucht beständig aufzuklären, ohne indes das Verhängnis aufhalten zu können, das er vorhergesehen hat und zugleich beobachtet – daher die hängenden Mundwinkel. Dahinter sehen wir auf den Ebenen jener Weltspirale die schwarzen Gestalten der Gralsritter bei den verschiedensten Verrichtungen. Generationen von Weltrettern haben hier ihre Grafitti hinterlassen, darunter Hammer und Sichel ebenso wie eine nackte Frau. Denn darum geht es ja wieder, genau wie im „Tannhäuser“, um das Sexverbot zugunsten der männlichen Pflicht. Daraus entsteht die Not, von der nicht nur Gurnemanz, sondern auch Klingsor spricht, der Antrieb der Sehnsuchtsmaschine. Und die verschlingt viel verbalen Treibstoff: „in heilig ernster Nacht“, „des Heilands selige Boten“, „das Weihgefäß, die heilig edle Schale“, „der Zeugengüter höchstes Wundergut“, „dem Heiltum baute er das Heiligtum“.

Bei der Verwandlung („Hier wird zum Raum die Zeit“) senkt sich ein eckiges Gestell herab, das man auch für den Umriss eines Kristalls halten könnte, und zum Abendmahl versammeln sich die Ritter auf den verschiedenen Höhen der Spirale. Titurel sitzt dort oben, eine Gestalt aus abgelebter Zeit im Rollstuhl, den Kopf schwer von der Krone des Emeritus. Nie werde ich vergessen, dass die Schreie der Kundry und der Grabesbass des Titurel es waren, die mich am meisten schockierten, als ich im Radio meinen ersten „Parsifal“ hörte; hier ist Tigran Martirossian nur noch sterbensmatt und keine Gefahr für seinen ungehorsamen Sohn Amfortas. Und das Gralswunder? Da geht Alice durchs Wunderland, mit leuchtendem weißen Rock und ihrem Kaninchen im Arm.

Andreas Schagers Parsifal wurde ein Dauergrinsen ins Gesicht gemalt; wie Siegfried weiß dieser Strubbelkopf nichts von der Welt und wird gleich unschuldig schuldig, indem er sich mit dem Mord an dem Schwan einführt – ein blutrotes Bündel fällt vom Himmel. Bei der Klage des leidenden Gralskönigs Amfortas breitet es sich auf dem Boden aus und Parsifal wickelt sich darin ein. Frisch und kernig singt Schager den reinen Toren, dabei mit vorbildlicher Textverständlichkeit. Parsifals Texte sind ja noch am wenigsten verschwiemelt – wie immer stören die Übertitel mehr als dass sie helfen, denn so genau will man gar nicht wissen, was da gesungen wird. Auch Schagers Spiel ist leicht und präzise; Parsifal scheint zur Marionette zu taugen und handelt dann unvermutet doch autonom. Am Ende nimmt er die Pose des Atlas ein: Parsifal schultert die Last der Welt, während das Theater sich zerlegt, um Platz zu machen für einen Neuanfang.

Claudia Mahnke ist eine überraschend zarte Kundry. Es mangelt ihr nicht an kraftvollen Leidenstönen und widerborstiger Vehemenz, aber eigentlich ist sie mädchenhaft verletzlich. Schwarze Haarlocken bedecken ihren Körper wie bei der büßenden Maria Magdalena – Achim Freyer zeigt uns, dass Wagner eine ganze Reihe biblischer und mythischer Gestalten für seine Geschichte geplündert hat. Der Mythos soll uns ja darüber hinwegtäuschen, dass es die Nöte seiner bürgerlichen Zeitgenossen sind, von denen das Stück handelt. Den Ödipuskomplex spricht Kundry schon lange vor Freud an, wenn sie Parsifal an die zu heißen Küsse seiner Mutter erinnert und ihn in deren Erinnerung zum Kuss verführt. Wenn Parsifal bei diesem Kuss nicht an Sex denkt, sondern an die Leiden jenes Mannes, der das Sexverbot vergaß, ist das tatsächlich die Überwindung des ödipalen Konflikts und der Moment der Reife.

Vladimir Baykovs Klingsor trägt sein Ungeschick vor sich her: Er hatte die unreifste Lösung von allen gewählt. Seine rosa Krawatte ist die Verlängerung der rosa Zunge, die ihm auf das Kinn gemalt ist, und sie dient dem Verdecken seiner Kastrationswunde. Baykov ist ein munterer Springteufel, er singt und artikuliert deutlich und bleibt doch klanglich fern jeder Karikatur. Er ist gleichzeitig gefährlicher Mephisto als auch Opfer des Reinheitswahns der Ritter; zu seinem Unglück war er in die Weltmaschine geraten, und dabei hat sie ihn kastriert – ein Kollateralschaden des Erlösungsplans. Der zweite Akt lockert das strenge Schwarz-weiß-rot der Außenakte, bei den – stimmlich bestens aufeinander abgestimmten – Sexarbeiterinnen der Zauberburg geht es bunt zu, und auch die Musik leuchtet in allen Farben und argumentiert in beredter Gestik.

Im letzten Akt übertreffen die beiden Zaubermeister Nagano und Freyer sich selbst. Nagano hält insgesamt die Dauern der Uraufführung unter Hermann Levi ein und die Tempi wirken schlicht richtig. Aber die Durchgestaltung des dritten Aufzugs ist überwältigend. Die Partitur entfaltet alle ihre gefährlichen Reize, der Karfreitagszauber ist sanft und schmeichelnd, die Verwandlungsmusik und der Ritterchor von schmerzhafter Müdigkeit, aber das Aufbäumen des Amfortas und die darauf antwortende Wut der Ritter von erschütternder Wucht. Und dann die Erlösung … sie wird so verführerisch musiziert, dass man gut verstehen kann, wie die Wirkung dieser Kunstreligion auf die Zeitgenossen war: als die Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Damit aber auch so gefährlich wie die Rattenfänger der AfD, die einen Traum von einem Land als Köder benutzen, das sie weder kennen noch das es je gab – dieser Gedanke war am Tag der B-Premiere, am Wahltag, unabweisbar. Ein Mann aus dem Wagner-Clan war es dann ja auch, der „bewies“, dass Jesus Arier gewesen sein soll, und dessen von Wagner abgeleiteter Wahn Hitlers Denken befeuerte.

Man kann das heute natürlich auch harmloser sehen. Der junge Mann, der in der S-Bahn zur Oper neben mir saß, schaute auf seinem Handy sehnsuchtsvoll Fantasy-Bildfolgen an, möglicherweise ein Spiel: seltsame Wesen aus anderen Welten, in denen er sich offenbar ganz zuhause fühlte. Eine Flucht aus der Realität, die gar nicht so viel anders funktioniert als die künstlichen Paradiese des Richard Wagner.

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Neue Musik beim Berliner Musikfest

Clash of Centuries

Modernes beim Musikfest Berlin: Konzerte mit Werken von Birtwistle, Saunders, Andre, und Nono

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 11. September 2017) Organisiert man in der Musik Begegnungen verschiedener Epochen, kann es passieren, dass plötzlich noch ein Dritter an Bord springt. Im gut besuchten Kammermusiksaal der Philharmonie sollte die Uraufführung einer Raumklang-Performance von Rebecca Saunders den „Orpheus-Elegien“ (2004) des modernen Altmeisters Harrison Birtwistle gegenübergestellt werden. Doch Birtwistle riet, seine 26 Miniaturen durch die sieben „Lacrimae“ (1604) von John Dowland aufzubrechen. So nahm vorn auf dem Podium der Countertenor Andrew Watts zwischen Oboe und Harfe Aufstellung, während im Hintergrund neun Instrumentalisten Birtwistles zarte Arrangements der frühbarocken Lamenti spielten, von dem inzwischen 83-jährigen Sir Harrison dezent dirigiert.

Nur sechs der Orpheus-Elegien sind auf Sonette von Rainer Maria Rilke komponiert, die anderen Stücke sind instrumental. Der Klanggestus erinnert manchmal an Henze; die Trauer ist meist streng stilisiert, nur einige Stücke gestatten sich heftigeren Ausbruch, ihre atemlose Klangrede bleibt dabei aber archaisch. Bei zwei Stücken stellen die beiden Solisten Metronome an, um die unterschiedlichen Tempi wahren zu können. Jedes Stück hat seinen eigenen Charakter, und doch rundet sich der Kreis, indem der klagende Orpheus einerseits von den Bestien zerrissen, dadurch aber wieder „ein Mund der Natur“ wird, also der geschundenen Kreatur eine Stimme gibt. Zusammen mit den leisen Dowland-Tränen ergab das ein intensives Klage-Exerzitium von erheblicher Dauer.

Davor hatten die Instrumentalisten des Ensembles Musikfabrik Birtwistles rituelles Ensemblestück „Cortege“ (2007) zelebriert, eine hoch rhetorische Musik mit eingestreuten pathetischen Soli, die sozusagen Rede und Gegenrede praktizieren. Auch dieses Werk eine gebändigte Trauerrede, die sich in der perfekten Interpretation der Düsseldorfer Musiker aber auch witzige Seitenblicke erlaubt. Und all dies spielt sich nur in der Musik ab, ohne sinnstiftende Zutaten von außen.

Dies geschah nach der Pause des über dreistündigen Konzerts. Davor hatte die Uraufführung von „Yes“ stattgefunden, einer 75-minütigen räumlichen Performance für Sopran, 19 Instrumentalisten und Dirigent. Und die außermusikalische Zutat ist der Monolog der Molly Bloom aus dem letzten Kapitel von James Joyces „Ulysses“. James Joyce war selbst eher von der rhythmisch-rhetorischen Musik von Othmar Schoeck begeistert, etwa dessen Gottfried-Keller-Zyklus „Lebendig begraben“. Die Musik von Saunders ist all das nicht, und will auch nicht, was Birtwistle eignet: sie ist nicht pathetisch, nicht rhetorisch, nicht theatralisch. Auch der Joyce-Text wird nicht verständlich rezitiert, sondern in Vokalklänge zersplittert. Klar ist nur, dass Molly am Ende Ja gesagt hat.

Alles fließt, die Klänge gleiten ineinander und aneinander vorbei, die Musiker schleichen von einer Ebene zur anderen, treffen bisweilen auf dem Podium zu einer größeren Einheit zusammen, die dann Enno Poppes als Koordinator bedarf. „Normalklänge“ gibt es nicht, die Musiker praktizieren alle nur denkbare Spielweisen und bringen einen faszinierenden Klangkosmos ins Schwingen. Es degeneriert aber nie zum Geräusch, sondern bleibt immer Klang, auch wenn die Klaviere als Schlaginstrumente gebraucht werden. „Ich experimentiere viel mit verschiedenen Spielweisen,“ sagte Saunders, „Zum Beispiel frage ich mich, was das Einatmen und Ausatmen wirklich ausmacht? Was passiert, wenn man den Atem anhält? Welche Spannung entsteht durch die Körpersprache? Ich möchte diesen Text, vielmehr die verschiedenen Farben und Themen, die durch diesen komplexen Monolog strömen, benutzen. Mollys Monolog ist für mich ein wahnsinnig inspirierender Energiestrom.“

Besonders herausstechend das aggressive Solo des Akkordeons, das förmlich vor Wut und Sprachlosigkeit bebt. Auch Molly bleibt in ihrem inneren Monolog letzten Endes sprachlos. Sie erreicht nicht die Freiheit des Handelns, sie bleibt weiblich passiv. „Molly in Wonderland“. – Räume und Sphären sind es, durch die die Musik staunend gleitet, aber sie lässt es geschehen, sie gestaltet nicht. Ach, wäre Molly doch nur einmal aus sich herausgegangen, hätte sie einmal in das Klanggespinst um sich herum eingegriffen! Aber das wäre ein anderes Stück gewesen.
Der Sopranistin Donatienne Michel-Dansac steht eine ähnlich bestechende Virtuosität zur Verfügung wie seinerzeit Cathy Berberian, alleine das lädt zum Staunen ein. Und die geschmeidige Gestaltungskraft der Musiker ist hinreißend, lässt die Zeit zum Erlebnis werden, auch wenn man – im Gegensatz zu Molly, die ja am Ende doch „Yes“ gesagt hat – völlig die Orientierung verloren hat.

Zwei Tage später stand in der schütter besuchten Philharmonie mit Mark Andres „über“ (2015) ein ähnlich statisches Klangwerk auf dem Programm des SWR Symphonieorchesters mit Peter Rundel am Pult, und dieses Programm „Schwebender Gesang“ nahm ausdrücklich auf den ominösen 11. September Bezug. Auch hier ist alles ein Fließen und Atmen, ein Auftauchen und Verschwinden. Das Stück basiert auf Forschungen des Komponisten (breiter bekannt wurde er durch seine Oper „Wunderzaichen“ in Stuttgart) mit dem Klarinettisten Jörg Widmann über die „feinsten, zerbrechlichsten, fragilsten Klangsituationen, die er mir anbieten konnte“.

Auf wie viele Arten Jörg Widmann sein Instrument anhaucht, bevor er (behutsam) mit dem Blasen loslegt, ist alleine schon stupend – und dass das alles hörbar zum Klingen kommt, ein Wunder. Langsam, sehr langsam und sehr, sehr leise, geht das Atmen über ins groß besetzte Orchester, bis auch die vier Wagnertuben mitatmen. Und dann entstehen auch Töne, bilden sich kurze Klangformen, wird es kurz auch laut. Einige Instrumente werden akustisch abgenommen vom SWR Experimentalstudio elektronisch verarbeitet zurückgespiegelt, so dass auch hier ein atmender Organismus im Raum zu stehen scheint. Während bei Rebecca Saunders dies allerdings ein sinnlicher, farbenreicher Vorgang war, scheint hier allerdings die Angst des Luftschutzkellers zu herrschen: Man hört die Klänge wie von draußen, sie kommen näher und man zieht den Kopf ein bis sie wieder verklungen sind – ein kaltes Grundrauschen bleibt immer gegenwärtig und in ihm versinken auch am Ende Jörg Widmanns atemberaubende Beatmungsvariationen seiner Klarinette.

Vor Luigi Nonos „Canto sospeso“ – jenes „Schwebenden Gesangs“ – sang das SWR Vokalensemble zwei Renaissance-Madrigale auf Petrarca-Sonette, in denen auch von der Luft die Rede ist, von der geliebte Dinge berührt werden. Brieffragmente von Opfern der Nazis und der Faschisten wehen durch den Raum, von Laura Aikin, Jenny Carlstedt und Robin Tritschler mit den Chor vorgetragen, vom Orchester mit Peter Rundel souverän aufgewirbelt: die Technik des Serialismus sollte damals der Musik neuen Halt im Raum verschaffen.

Das Dessert wurde am Anfang des Konzerts gereicht: Peter Rundel dirigierte Schumanns Manfred-Ouvertüre mit der Hochspannung des romantisch zerrissenen Künstlers, der tragisch endet – Luigi Nono schätzte diese Musik, die bis in seinen „Prometeo“ hineinwirkte, dem er den Untertitel gab „Tragödie des Hörens“. Diese fand in beiden Konzerten ihre Fortführung.

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Fantastischer Mendelssohn in Potsdam

Ich will dich erleuchten

Antonello Manacorda führt mit der Kammerakademie Potsdam Mendelssohns Lobgesang auf

Von Bernd Feuchtner

(Potsdam, 31. August 2017) Klagend fragt Tenor Pavol Breslik „Ist die Nacht bald hin?“ und findet aus der wiederholten musikalischen Phrase nicht mehr hinaus – da antwortet Maria Bengtson mit ätherischer Sopranstimme „Die Nacht ist vergangen!“ und löst den Knoten auf. Dies war der magische Moment in der Aufführung von Mendelssohns „Lobgesang“ durch die Kammerakademie Potsdam mit Antonello Manacorda. Und er brachte zugleich die Klarheit, worum es Mendelssohn ging in diesem Stück, das er 1840 zum Gutenberg-Fest schrieb und bei dessen Uraufführung mit 500 Sängern in der Thomaskirche 2000 Menschen zuhörten: Mendelssohn ging es um Aufklärung.

Kraftvoll und nicht zu feierlich lässt Manacorda zu Beginn das Hauptthema „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ im Orchester aufklingen. In der flotten Durchführung zeigt sich die Qualität der Kammerakademie Potsdam: In einem Orchester von lauter Solisten wirkt das sinfonische Gewebe bis in jeden einzelnen Faden hinein belebt. Und natürlich spielen sie auf Naturhörnern: Historisch informiertes Musizieren versteht sich von selbst. Nicht nur, weil einzelne Motive des Vokalteils schon hier aufscheinen, ist die Musik beredt, sondern weil Mendelssohn hier exemplarisch Klangrede geformt hat, teilt sich dem Publikum eine Begeisterung mit, die nicht leeres Tönen ist oder frömmelnde Mechanik, sondern spirituelle Erfüllung. Die plötzlichen Verlangsamungen – in der Klarinette wunderbar ausformuliert – bilden Episoden der Nachdenklichkeit und sorgen dafür, dass die Durchführungsmaschine nicht leerläuft.

Wie schon zehn Jahre früher in der Reformationssinfonie stellt Mendelssohn auch in seiner 2. Sinfonie B-Dur den Tanzsatz vor den langsamen Satz, meidet also das gewohnte agitatorische Vierakteschema der Sinfonie, wie Beethoven das schon in seiner menschenfreundlichen Neunten getan hatte. Der elegante Tanz wird bei Manacorda zum Zeichen menschlicher Erfindungskraft – schließlich hatte erst die Buchdruckerkunst den Bann der kirchlichen Doktrin und Tyrannei gebrochen und das Wissen auch im Bürgertum verbreitet. Damit aber nun kein Übermut aufkommt, legen die Musiker ins Adagio alle Beseelung, deren sie fähig sind.

Wenn das Chorfinale so musiziert wird wie in Potsdam, werden alle Einwände gegenstandslos, die dem Werk Uneinheitlichkeit und Heterogenität vorwerfen – unverständlich, warum sie in den Programmheften immer noch hergebetet werden. Mendelssohn hat eben keine Litanei komponiert, sondern sich genau überlegt, wie er das Lob der Schöpfung gesungen haben wollte, einer Schöpfung, der man mit Liebe begegnet statt mit Gewalt. Er hat seine Chorsinfonie für die Bürgerschaft Leipzigs geschrieben, sich als städtischer Handwerker gefühlt, der das Seine beiträgt, damit die Gemeinschaft blühe. Das erklärt auch den Hass, den Wagner auf Mendelssohn richtete: Er hatte von Mendelssohns Werken profitiert, von der Gründung des Konservatoriums bis zum Aufbau des Gewandhausorchesters, doch weil er in seiner Einbildung ewig zu kurz kam, hasste er jede Hand, die ihn je gefüttert hatte. Mendelssohn schrieb bürgerliche Musik im besten Sinne, Wagner aber war Antibürger. Mendelssohn wollte aufbauen, Wagner aber wollte zerstören. Seinen Antisemitismus pflegte er nicht zuletzt deshalb, weil er damit verletzen konnte: Eben auch seinen noblen und erfolgreichen, nur vier Jahre älteren Leipziger Kollegen Mendelssohn samt dessen Christentum, das Wagner ja nicht teilte, auch wenn er scheinheilige Opernstoffe daraus schnitzte.

Schon aus diesem Grund war man dankbar für die Potsdamer Aufführung, die ganz unangestrengt die hohe musikalische und gedankliche Qualität von Mendelssohns Zweiter vorstellte. Neben den fabelhaften ersten Solisten Maria Bengtson („Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“) und Pavol Breslik („Wache auf, der du schläfst, ich will dich erleuchten“) trug auch Johanna Winkel mit ihrem kontrastreich gefärbten Sopran zur Eindringlichkeit des Finales bei, dazu auch der NDR Chor, der, von Daniel Zimmermann perfekt einstudiert, sowohl die zartesten Piani als auch das kraftvollste Fortissimo immer sinnlich erfüllte.

In der ersten Hälfte des Konzerts zur Saisoneröffnung spielten die Ottensamer-Brüder Andreas (Berliner Philharmoniker) und Daniel (Wiener Philharmoniker) die beiden Konzertstücke für Klarinette und Bassetthorn, die Mendelssohn für Heinrich Josef Baermann und dessen Sohn Carl geschrieben hatte, die berühmtesten Klarinettenvirtuosen seiner Zeit. Die beiden Solisten und die Kammerakademie unter Manacorda machten daraus zwei Kabinettstückchen, die das Publikum im ausverkauften Nikolaisaal zu Beifallstürmen hinrissen. Andreas Ottensamer ist in dieser Spielzeit Artist in residence in Potsdam und wird noch öfter hier zu erleben sein. Mendelssohn ebenfalls, denn er steht im Fokus der Spielzeit – war sein Sommernachtstraum doch im Neuen Palais uraufgeführt worden. Bei der Potsdamer Winteroper wird sein „Elias“ szenisch in der Friedenskirche realisiert, und für ein Kammerkonzert öffnet im Februar die Villa Mendelssohn Bartholdy ausnahmsweise die Tür, die sich einst ein Enkel des Komponisten gebaut hatte.

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Bayreuther Meistersinger im Fernsehen

Freispruch für Wahnfried?

Nachbetrachtung der Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung von Barrie Kosky in der Fernsehübertragung – eine Monstre-Komödie mit enorm vielen Facetten

Von Bernd Feuchtner

(2. August 2017) Eigentlich bin ich ja allergisch gegen die Bebilderung von Ouvertüren. Wir kommen aus einer vom Optischen dominierten Welt ins Theater und haben nur diesen Moment, um umzuschalten vom Gucken aufs Zuhören. Uns einzulassen auf die besondere Sprache dieser Musik – denn wenn wir gleich wieder nur schauen, wird die Musik bloß zum Soundtrack dessen, was wir sehen, und wir verpassen das Beste. Dann entgeht uns die ganz eigene Dramaturgie der Musik, die uns in der Oper doch das Wesentliche erzählt. Nur bei der Überwältigungsmusik von Richard Wagner, die totalen Besitz nehmen will von Hirn, Herz und Nerven, kann es auch einmal hilfreich sein, wenn der Regisseur schon bei der Ouvertüre die Deutungshoheit an sich reißt – die Deutungshoheit über die Musik, wohlgemerkt.

Barrie Kosky hat daran wohlgetan, in Bayreuth zur Meistersinger-Ouvertüre eine eigene Geschichte zu erzählen. Wenn der Vorhang hochgeht, wird das Wort Wahnfried auf die Gaze projiziert – Rebecca Ringst hat Wagners Salon detailverliebt nachbauen lassen. Dann ein Datum, eine Uhrzeit, das Wetter – Lachen. Liszt und Levi haben sich angesagt, Cosima liegt mit Migräne darnieder, Richard führt Molly und Marke Gassi – Lachen. Dann geht die Tür auf, Wagner kommt mit den beiden Hunden herein und die Ouvertüre setzt ein – Lachen. Die Zuschauer bekommen nicht den Reichsparteitagspomp zu hören, sondern eine zügige, quirlig-humorvolle Musik, was natürlich das Verdienst des Dirigenten Philippe Jordan ist. Aber Kosky macht es uns möglich, sie auch so zu hören und nicht gleich wieder in die Falle behäbiger Nürnberger Bürgerlichkeit zu tappen. Der Livestream der Premiere und die Ausstrahlung auf 3sat haben es möglich gemacht, den Eindruck aus dem Theater noch einmal zu überprüfen. Die Bildregie von Michael Beyer ist nämlich die kongeniale Dritte im Bunde, die viele Details zeigen kann, die in der Totale, in der Distanz und in der Fülle leicht untergehen.

Die Gäste kommen an, Kaffee wird serviert, Wagner packt Einkäufe aus (auch ein Paar Schuhe, passend zu der Rolle des Schusters Hans Sachs, die er gleich beim privaten Durchspielen der „Meistersinger“ übernehmen wird). Michael Volle spielt großartig den Egomanen, der alle an seinen Freuden teilnehmen lässt. Dem Meisterpianisten Franz Liszt zeigt er, wie man Klavier spielt, Hermann Levi, dem Hofkapellmeister König Ludwigs, wie die Musik funktioniert. Da Levi Wagners Musik verfallen ist, lässt er sich ziemlich viel von ihm gefallen. Die Ouvertüre geht ja direkt über in die Szene in der Katharinenkirche, wo der Ritter Stolzing nach der Messe mit Eva anbandelt. Diese Messe nutzt Wagner gleich, den Juden Levi zu den Worten „dass wir durch deine Tauf’ uns weihn, seines Opfers wert zu sein“ zum Mitspielen und Niederzuknien zu nötigen. Diese Respektlosigkeit des Antisemiten Wagner, der 1869 seinen längst vergessenen ekelhaften Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ erneut hatte erscheinen lassen, gegenüber dem noblen Hermann Levi wird bei Kosky aber immer noch humorvoll aufgefangen. Wie Wagner Levi dann aber in die Rolle des Beckmesser hineinmanövriert, wird schon unangenehmer.

Alle müssen mitspielen: Cosima ist Eva, das Hausmädchen deren Amme Magdalene, Liszt ist der Goldschmied Veit Pogner; für Stolzing (Klaus Florian Vogt), Sachs (Michael Volle) und dessen Lehrbuben David (Daniel Behle) aber vervielfältigt Wagner sich selbst. Und Hermann Levi muss den Beckmesser spielen, ob er will oder nicht. Wagner hat in dieser Rolle seinen Wiener Widersacher Eduard Hanslick vorführen wollen, der als parteiischer Brahmsianer Wagner und Bruckner niederschrieb, so oft er konnte. Barrie Kosky ist darüber hinaus der Ansicht, dass – wie in Alberich und Mime – in Beckmesser auch eine Judenkarikatur steckt. Dass Levi, während die anderen Nürnberger Lebkuchen schmausen, sein koscheres Frühstück einnimmt, sieht Michael Volles Sachs noch mit Belustigung. Wie er den begabten Levi aber in die Rolle des Pedanten und Versagers Beckmesser drängt, schmerzt den Zuschauer schon.

Da Jordan und Kosky im ersten Akt den Komödienton durchhalten, kommt man trotzdem aus dem Schmunzeln nicht heraus. Daran haben die Meister großen Anteil, die in prächtigem Renaissancekostüm (Klaus Bruns) auftreten und eine völlig überdrehte Truppe sind. Bei der Vorstellung eines jeden Meisters schlagen sie mit dem Löffel an die Mokkatasse und benehmen sich, ständig zum Aufruhr bereit, wie eine Klasse pubertierender Gymnasiasten – das ist schon sehr lustig und zeigt den Meisterregisseur Barrie Kosky auf einsamer Höhe. Auch der Konflikt zwischen Stolzing, der unbedingt Meistersinger werden will, um Eva bekommen zu können, und dem ältlichen Stadtschreiber Beckmesser ist große Komödie. In den Reaktionen auf die noch von keinen Regeln eingegrenzte Kunst Stolzings seitens der Meistersinger, die als mindere Begabungen gerade auf Regeln angewiesen sind, steckt schon bei Wagner viel Weisheit. – und wie Richard zusammen mit seinen kleinen Klonen seine Mitspieler beobachtet, das ist ein Kabinettstück für sich. Mit dem Kupferschmied Hans Foltz entwickelt sich bei Kosky einer der kindischen Meister sogar zum Groupie des Ritters – auch das sehr menschlich, ironisch, ja süß. Die Lehrbuben – genauso kostümiert wie ihre Lehrherren – kommen zu ihren Auftritten durch die Tür gewirbelt, springen albern umher und wirbeln ebenso schnell wieder hinaus: eine Parodie altmodischen Theaters. Was war das denn, fragt man sich schmunzelnd.

Jeder der drei Akte endet mit einem Preislied – und im Tumult. Am Ende des ersten Aktes führt der Versuch Beckmessers, Stolzings Lied mit allen Mitteln zu sabotieren, in den kompletten Wahnsinn, am Ende des zweiten löst Beckmessers Ständchen die Prügelfuge aus und am Schluss des dritten Aktes weigert sich Stolzing, nachdem er endlich gewonnen hat, ein Meister zu werden. Diese Grundstruktur hat Kosky zur Basis seiner Inszenierung gemacht. Während Stolzings letzte Strophe im Geschrei der Meistersinger untergeht, fährt die Puppenstube Wahnfried langsam nach hinten. Ein amerikanischer Militärpolizist nimmt Aufstellung vor der herunterfahrenden Rückwand: Plötzlich steht Sachs/Wagner im Saal des Nürnberger Prozesses. Mit dem letzten Ton geht das Licht aus. Da hat der Zuschauer was zu Denken in der Pause.

Bei Beginn des 2. Aktes ist zwischen den Wänden Rasen ausgelegt und Wagners machen Picknick. Der Zeugenstand ist mit einem Busch dekoriert und wird als Versteck für Eva und Stolzing dienen. Die Lehrbuben springen herein und singen „Johannistag!“ Beckmesser kommt vorbei und Wagner schlüpft wieder in die Sachs-Rolle. Cosima (Anne Schwanewilms) muss eine Stola über ihrem unförmigen schwarzen Kleid genügen, um ihrem Vater Franz Liszt bzw. ihrem Bühnenvater Pogner (Günther Groissböck) entgegenzuspringen – den ganzen Abend als hibbeliges Girlie („das tör’ge Kind“) zu verhüpfen, ist allerdings reichlich undankbar, und ein paar Zuschauer und Kritiker werden sie dafür am Ende auch abstrafen – da sitzen noch etliche Scharfrichter im Saal. Ihnen fehlen Humor, Gelassenheit und Ironie, mit der Kosky und Jordan noch Wagners größte Boshaftigkeiten zur Darstellung bringen.

Am Aktschluss allerdings, wenn Beckmessers scheußliches Ständchen für Eva, begleitet von den wütenden Hammerschlägen des Schusters, die braven Bürger aufweckt, und David aus Eifersucht Beckmesser verprügelt, weil er nicht gemerkt hat, dass seine Lene (die famose Wiebke Lehmkuhl) dessen Ständchen nur an Evas Stelle abnimmt, führt der allgemeine Aufruhr in die berühmte Prügelfuge. Und diese artet jetzt zu einem antisemitischen Pogrom aus: dem Beckmesser stülpt man einen Pappkopf über, den Judenkarikaturen des in Nürnberg erschienenen „Stürmers“ nachgebildet. Auch die Nürnberger Gesetze gehören heute eben zur Assoziationskette, die an der Stadt lasten. Der Rasen ist verschwunden, Beckmesser wird zu einem grotesken Tanz gezwungen und aus dem Zeugenstand bläht sich ein gigantischer „Juden“-Schädel bühnenhoch auf. Richard Wagner weicht entsetzt zurück an Rückwand des Gerichtsaals, als wolle er sagen, „das habe ich nicht geahnt.“ Während der Nachtwächter singt „Bewahrt euch vor Gespenstern und Spuk“, sinkt der Riesenkopf in sich zusammen, bis nur noch die Kippa mit dem Davidstern zu sehen ist. Zweite Pause, wieder mit Anstoß zum Nachdenken.

Mit einem Vorspann vor dem 3. Akt geht es bei Kosky weiter: Beim Nachtangriff auf Nürnberg schickte die Luftwaffe Jäger unter die britischen Bomber, deren Geschütze nach oben gerichtet waren, um unbemerkt die Treibstofftanks in Brand schießen zu können; der Codename war „Schräge Nachtmusik“. Verhalten-innig dirigiert Philippe Jordan die nachdenkliche Einleitung – zarte, seelenvolle Klänge, zu denen Sachs gedankenschwer am Frühstückstisch (mit Rotwein) sitzt. Nach dem komischen Intermezzo mit seinem Lehrbuben David (von Daniel Behle sehr schön gesungen und gespielt) dann der Wahnmonolog: Sachs versucht sich zu erklären, „warum gar bis aufs Blut die Leut sich quälen und schinden“: „S’ ist halt der alte Wahn – ein Schuster in seinem Laden zieht an des Wahnes Faden: wie bald auf Gassen und Straßen fängt der da an zu rasen.“ Sachs erklärt es sich mit einem Glühwürmchen, das sein Weibchen nicht fand …

Der Nürnberger Schwurgerichtssaal ist nun voll eingerichtet (mit der Möblierung von heute!), es scheint Sitzungspause zu sein, die offenen Akten liegen auf den Tischen, die vier Fahnen der Alliierten stehen vor der Rückwand. Faszinierend, wie die Erörterungen über die Kunst und ihre Regeln als Zwiegespräch zwischen den beiden Richard Wagners (Sachs und Stolzing) stattfinden; man hört da gespannt zu, wie das Meisterlied geschmiedet wird. Und dann kommt der zerschlagene Beckmesser. Wagners Musik lässt ihn noch einmal die ganze Pein der vergangenen Nacht durchleiden, und Kosky schickt ihm dafür fünf kleine Ostjuden auf den Leib – die Angst und den Selbsthass des assimilierten Juden, der sich als Bürger der Freien Reichsstadt betrachtet, den man in dieser Nacht aber wieder zum Juden gemacht hat.

Diese Intrige fand ich schon immer befremdlich und über diesen (aus Sicht von Wagners Komödienmechanik zu Recht) geschlagenen Mann konnte ich noch nie Schadenfreude empfinden. Es war mir immer peinlich. Fiese Typen gibt es seit eh und je auf dem Theater. Indem ihre Niederlagen belacht wurden, lachten die Zuschauer immer auch ihre eigenen Schwächen aus. Aber Sixtus Beckmesser ist anders. Wagner stellt ihn aus. Er hat für seine Lieder schlechte Musik und schlechte Texte geschrieben, damit er wie ein Idiot aussieht. Er lässt den „gelehrten Stadtschreiber“ um ein viel zu junges Mädchen werben und sich dadurch lächerlich machen. Und er lässt ihm durch Hans Sachs eine perfide Falle stellen, indem der Beckmesser in dem Glauben lässt, er habe ein Werbelied von Sachs gefunden, mit dem er das Wettsingen gewinnen könne. Eine solche Bühnenfigur zu schaffen, ihr erst Schwächen anzudichten, sie dann in die Irre zu führen und dafür zu strafen, empfinde ich als reine Niedertracht.

Kleist lässt in seinem „Zerbrochenen“ Krug zwar auch einen falschen Adam einer jungen Eva nachstellen, doch konstruiert er genüsslich den Sturz eines eitlen und anmaßenden Dorfrichters innerhalb seiner Gemeinschaft, der in eine selbst gestellte Falle geht. Wagner aber kühlt sein Mütchen an einem Außenseiter. Beckmesser ist vielleicht keine absichtliche Judenkarikatur, aber Wagner hat etwas von seinem Judenhass in Beckmesser hineingesteckt, dazu die Ranküne der Bürger gegen den Intellektuellen, gegen denjenigen, der nicht richtig dazugehört. Die Wut der Mehrheit gegen die ausgegrenzte Minderheit zu wenden, ist schändlich. Beckmessers scheußliches Werbelied ist nicht lustig. Der satten Bürgerlichkeit von Wagners Handwerksmeistern ist das Pogrom bereits eingeschrieben – und tatsächlich verdankt die Stadt ihren Hauptmarkt mit dem Schönen Brunnen und der Frauenkirche ja der vom Kaiser gegen viel Geld gebilligten Austilgung der Nürnberger Juden. Deshalb war der Rettungsversuch von Wolfgang Wagner wirkungslos, der Beckmesser am Ende in den Kreis wieder einschloss. Ebenso der von Katharina Wagner, die vor zehn Jahren versuchte, Beckmesser als den künstlerisch Fortschrittlicheren zu zeigen.

Die Leistung von Johannes Martin Kränzle, diese Figur zwischen dem noblen Levi und dem übereifrigen Beckmesser changieren zu lassen, ihre Erniedrigung und Hinrichtung zum Opfer so zu gestalten, dass es einerseits weh tut, dem zusehen zu müssen, andererseits bei der Gratwanderung der Komödie nicht abzustürzen, kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Kränzle singt das mit so vielen Nuancen und spielt es so grandios, dass der Zuschauer der Figur die Sympathie niemals entzieht und mit dem Außenseiter mitfühlt. Philippe Jordan dirigiert das alles mit so viel Feingefühl und Farbensinn und deckt die Sänger nie zu; er hat mit ihnen so gut gearbeitet, dass man jedes Wort versteht – in einer Komödie ist das essentiell.

 

 

Auch Sachs hat seine liebe Not mit seinen Niederlagen: von Stolzing übertrumpft im Meisterlied und ausgestochen als Liebhaber. Wagners Musik gewährt ihm jede Unterstützung und Michael Volle erbringt damit die zweite Meisterleistung an diesem Abend. Im letzten Akt sind wir nun also im Gerichtssaal, aber nicht vor Gericht. „Hans Sachs: Ich bin verklagt und muss besteh’n“ zitiert der Zwischenvorhang zwar, doch Kosky denkt gar nicht daran, Prozess zu spielen. Die bunt kostümierte Handwerkerschar tobt sich aus – die Uhr rennt rückwärts und eine gespenstisch gewordene Vergangenheit feiert fröhliche Urständ. Auf der Festwiese werden die bunten Zunftfahnen geschwenkt wie verrückt und die Trompeten schmettern auf der Bühne von der Seite. „Heil dir, Sachs“ singen die Chöre – einst erhitzte sich in Linz der junge Adolf Hitler am manipulativen Sachs und rannte die ganze Nacht wie besoffen durch die Stadt, von diesem „Heil Sachs“ kam das „Heil Hitler“ auf den Nürnberger Reichparteitagen her. Wagners Opern lieferten Vorlagen für seine politischen Inszenierungen.

Zum Zeugen gegen die Behauptung Beckmessers, das Lied sei von ihm, lässt Wagner (als kostümierter Sachs) Stolzing aus der Versenkung hochkommen. Und wie wir alle vorher wissen, singt Klaus Florian Vogt (als kostümierter Wagner) sein Preislied so wunderschön, dass er sich als der wahre Autor erweist und Eva gewinnt. Doch danach verschwinden Volk wie Mobiliar, Stolzing sagt sein schockierendes „Nicht Meister! Nein!“ und verschwindet ebenfalls. Wagner steht alleine im Zeugenstand und agitiert das Publikum mit seiner Brandrede gegen welschen Tand und für die heil’ge deutsche Kunst. Danach wendet er sich zu Chor und Orchester, die von hinten hereingefahren werden und dirigiert wie besessen die Schlussmusik: „Heil Sachs!“ Cosima sieht andächtig zu.

Wenn der Vorhang fällt, bleibt Richard Wagner allein im Zeugenstand. Einen Prozess hat es nicht gegeben, es sei denn, das Publikum fühlte sich zum Gericht berufen. Barrie Kosky hat „Die Meistersinger von Nürnberg“ in all ihrer Widersprüchlichkeit auf die Bühne gestellt und eine geistvolle, spritzige Komödie inszeniert: „Auschwitz ist Horror, aber Bayreuth ist Comedy, eine schwarze Komödie,“ hatte er im Vorfeld gesagt. Und glücklicherweise hat er in Philippe Jordan einen Partner gefunden, der am gleichen Strang zog und sowohl die fabelhafte Sängerriege als auch Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele mit dem feinen Stift malen ließ. „Freispruch für Richard Wagner,“ vermeldeten hingegen die Festspiele. Wie sie darauf wohl kommen?

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Schostakowitsch in Gohrisch

Entdeckungen, Uraufführungen und Schostakowitsch-Gefährten

Eindrücke von den 8. Schostakowitsch-Tagen in der Sächsischen Schweiz

Von Bernd Feuchtner

(Kurort Gohrisch, 25. Juni 2017) Die Sensation der diesjährigen Internationalen Schostakowitsch-Tage in Gohrisch waren drei neu entdeckte Stücke aus Schostakowitschs erster Oper „Die Nase“. Wenn man nur lange genug im Nachlass eines Komponisten wühlt, findet sich immer etwas Verwertbares. Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle, die das Festival veranstaltet, spielten die drei Fragmente unter der Leitung von Thomas Sanderling nun beim Abschlusskonzert zum ersten Mal. Ein Zwischenspiel vor der Szene in der Kasaner Kathedrale beginnt mit wildem Orgelgebraus und geht dann in Gassenhauer über, mit denen sich die Menge vergnügt. Auch die anderen beiden Fragmente geizen nicht mit grotesken Effekten, und das Publikum reagierte sehr amüsiert. Die Oper wird dadurch dennoch nicht zu einer „Urfassung“ verlängert werden – der Komponist hatte dramaturgische, musikalische und politische Gründe genug, sie nicht zu verwenden.
Aber er hat die Blätter doch aufgehoben, und solche Funde geben den Schostakowitsch-Tagen immer wieder Gelegenheit zu Uraufführungen von Werken ihres Namensgebers.

Angeregt durch eine Reportage, erinnerte sich der Kurort Gohrisch 2009 an den Aufenthalt von Dimitri Schostakowitsch im Gästehaus der SED, bei dem 1960 das Achte Streichquartett entstand. Es gründete sich ein Verein „Schostakowitsch in Gohrisch“ und gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden wird seit 2011 das kleine, aber feine Festival abgehalten, für das die Agrargenossenschaft ihre Scheune freiräumt. In der „unerhört schönen Landschaft“ (Schostakowitsch) lockt das Festival Zuschauer aus nah und fern an, die ihren Aufenthalt auch gerne zum Wandern in der Sächsischen Schweiz nutzen.

In diesem Jahr erklang vor allem Musik von Moissej Weinberg und Sofia Gubaidulina. Im Abschlusskonzert spielte die Staatskapelle nach den „Nase“-Fragmenten die zweite Kammersinfonie von Weinberg mit der Uraufführung des vierten, vom Komponisten gestrichenen Satzes. In der Musik Weinbergs (1919-1996) klingen die Traumata des Holocaust, der Vernichtung seiner Familie in Polen, der Flucht in die Sowjetunion – und des Antisemitismus der Stalinära nach, was der Kammersinfonie eine ungeheure Wucht verleiht, aber auch Mahler’sche Ironie. Es ist nicht das Ich, das hier nach Ausdruck sucht, sondern das kollektive Schicksal. Mag sein, dass Weinberg fand, dass die Musik sich vor dem Finale bereits genug ausgetobt hatte. Jedenfalls trat der seltene Fall ein, dass der Komponist den Schlusssatz streicht und seine Sinfonie selbst zu einer „Unvollendeten“ macht. Der vierte Satz hat in der Tat nicht mehr viel hinzuzufügen, doch ihn einmal erfahrbar zu machen, war ein großes Verdienst des Festivals.

Am zweiten Festivaltag hatte der fabelhafte Geiger Linus Roth sich für Weinbergs 2. Violinsonate und dessen eindrucksvolles Klaviertrio eingesetzt. Ein Largo für Violine und Klavier aus dem Nachlass konnte er sogar zur Uraufführung bringen. Auch hier war wieder die Emotionslosigkeit und Abstraktheit zu beobachten, die diese Musik streckenweise wie eingefroren wirken lässt. Die polnische Musikwissenschaftlerin Danuta Gwizdanka hat inzwischen Klarheit in die Verwirrung um Weinbergs Vornamen gebracht. Weinberg hatte in der Sowjetunion– nachdem er dank antisemitisch motivierter Vorwürfe wochenlang im Gefängnis gesessen hatte – darum gekämpft, seinen Vornamen offiziell in Mieczysław zu ändern. Ein sowjetischer Grenzsoldat habe ihm als Juden seinerzeit bei der Flucht den Namen „Moissej“ zugeteilt, so lautete die selbstgebastelte Legende. Und so wurde Weinberg bekannt, so heißt er auf den sowjetischen Partituren und Platten, auch dann, wenn er mit seinem Freund Schostakowitsch vierhändig spielte. Gwizdanka konnte nun in Polen die Geburtsdokumente einsehen – und feststellen, dass er vom Rabbi wirklich mit der jiddischen Form von „Moses“ ins Register eingetragen worden war. Ob nun die neuen Partituren, Bücher, CDs usw. wieder neu beschrieben werden? Äußerst ärgerlich war allerdings, dass Weinbergs Oper „Die Passagierin“ am gleichen Abend in der Semperoper Premiere hatte – warum der gleiche Veranstalter zwei Weinberg-Ereignisse am selben Abend stattfinden ließ, ist unbegreiflich. Auch dass „Die Passagierin“ in den Schulferien aufgeführt wird, und das nur vier Mal, und dass die Anwesenheit der greisen Autorin Zofia Posmysz nicht genutzt werden konnte, sie als Zeitzeugin mit Schülern in Verbindung zu bringen, ist nur schwer nachzuvollziehen.

Einen anderen Schwerpunkt bildeten Werke der mittlerweile 85-jährigen Sofia Gubaidulina, die in dieser Saison zum zweiten Mal als Capell-Compositrice der Sächsischen Staatskapelle wirkte. Ihr Spätwerk ist zunehmend bekenntnishafter geworden, etwa in dem Hauptwerk „Liebe und Hass“, indem ein religiöser Text mit rituellen Klavier- und Schlagzeug-Formeln zelebriert wird. Ein Weg, der bei „Die Pilger“ und „Einfaches Gebet“ vorgezeichnet ist, die ebenfalls in Gohrisch erklangen. Der Schostakowitsch-Höhepunkt in der mittagsheißen Scheune waren die beiden Klavierrecitals von Alexander Melnikov, der in zwei Tranchen sämtliche 24 Präludien und Fugen aufführte, die Schostakowitsch nach seinem Besuch der Leipziger Bachfeier 1950 komponiert hatte. Da war keine trockene Fugenarbeit zu hören, sondern eine äußerst sensible Aneignung eines jeden einzelnen Stücks, vom heiteren Präludieren bis zur pathetischen Aufwölbung der Fugenarchitektur der großen Moll-Stücke.

Am Vorabend hatte in der Semperoper Gennadi Roshdestwenski die Staatskapelle mit Schostakowitschs Erster und Letzter Sinfonie geleitet. Der 86-jährige, hellwache Dirigent setzte auf langsame Tempi, was dem Jugendwerk nicht durchgängig, der Fünfzehnten aber sehr gut bekam. Roshdestwenski war 2016 mit dem Gohrischer Schostakowitsch-Preis ausgezeichnet worden, den in diesem Jahr Sofia Gubaidulina erhielt. Roshdestwenski war auch bei den meisten Festival-Konzerten unter den Zuhörern. So konnte er Schostakowitschs gut gelauntem 1. Klavierkonzert mit seiner Gattin Viktoria Postnikowa als Solistin lauschen, die das Stück so brillant und zupackend spielte, wie der Komponist das selbst vorgemacht hatte. Die Begegnungen mit der alten Garde, die Schostakowitsch noch selbst erlebt hatte, macht immer einen besonderen Reiz von Gohrisch aus: Die vorangegangenen Schostakowitsch-Preisträger waren Rudolf Barschai, Kurt Sanderling, Michail Jurowski, Natalja Gutman, Gidon Kremer und das Borodin-Quartett.

Bei Führungen kann man den Teich sehen, an dem Schostakowitsch sein Streichquartett innerhalb von drei Tagen komponiert hat. Sein Zimmer kann man zwar auch sehen, doch das wurde schon in den 1980er Jahren ummöbliert. Die prächtigen 50er-Jahre-Dekorationen des schlichten Hauses sind aber noch da, und auch der runde Frühstückspavillon, in dem damals das Klavier stand, auf dem Schostakowitsch spielte. Wenn die Besucher nun auch noch wüssten, dass es sich hier die Führer des Warschauer Paktes gutgehen ließen, als sie 1968 den Einmarsch in die Tschechoslowakei beschlossen, würden sie wohl für einen Moment betreten schweigen. Aber sie würden auch die Musik von Schostakowitsch, Weinberg und Gubaidulina noch besser verstehen.

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Doppelabend Debussy und Honegger an der Oper Frankfurt

Verteufelt katholisch

Die Frankfurter Oper kombiniert Arthur Honeggers „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ mit Debussys Frühwerk „La Damoiselle élue“. Àlex Ollé schickt den Abend ins finstere Mittelalter, Marc Soustrot beschert beiden Partituren mit Solisten, Chören und Orchester einen Triumph.

Von Bernd Feuchtner

(Frankfurt a. M., 11. Juni 2017) In der oberen Hälfte der Bühne haben sich zu den Heiligen Katharina und Margarethe noch ein paar weitere goldene Heiligenfiguren zu einem mittelalterlichen Schnitzaltar gruppiert, und die Jungfrau von Orleans fährt vom Scheiterhaufen auf in deren Mitte: Der Himmel gewährt ihr Trost, bevor sie wieder hinab muss, um ihr eigenes Martyrium im Flammentod zu vollenden. So hatte der Abend auch begonnen: Debussys „Auserwählte Jungfrau“ hatte unten den toten Geliebten beklagt, während oben eine goldene Heiligenfigur bei der Jungfrau Maria Fürsprache dafür einlegt, dass die beiden Liebenden einst im Himmel wieder auf ewig vereint sein mögen. Der Frankfurter Doppelabend mit „La Damoiselle élue“ und „Jeanne d’Arc au bûcher“ ist verteufelt katholisch.

Zwischen beiden Kompositionen liegt ein halbes Jahrhundert. Der 25-jährige Claude Debussy hatte 1887/88 das Gedicht „Die auserwählte Jungfrau“ ades englischen Präraffaeliten Dante Gabriel Rosetti vertont, in einer Zeit, in der er vollkommen Richard Wagner verfallen war. Das Gedicht war von 1850, doch hatte der Komponist es in der Übersetzung von Gabriel Sarrazin kennengelernt, die von den Symbolisten Baudelaire, Verlaine und Mallarmé inspiriert war – auch der Begriff der Décadence haftet dieser Periode an. Debussy besaß auch den Druck eines der Gemälde, die Rosetti in den 1870er Jahren über das gleiche Motiv gemalt hatte.

Diese Gemälde stehen zwischen der Romantik Philipp Otto Runges und dem Jugendstil. Den verhangenen Blick voller Sehnsucht und Wehmut nach unten gerichtet, in den Armen drei Lilien, blickt die Jungfrau vom goldenen Himmelsbalkon herab auf den verlorenen Geliebten, der in der Predella noch auf der Erde im Grünen ruht und nach oben blickt. Der Realismus der Renaissance war für die Präraffaeliten der Sündenfall, vor den sie zurück wollten in die angebliche Einfalt des Mittelalters. Die neue, industrialisierte Welt irritierte sie, daher malten sie wieder flächig statt perspektivisch und eliminierten im – durchaus naturalistischen – Menschenbild das Individuelle zugunsten des Symbolischen.

Eine katholische Mystik stand ihnen nicht fern, und das wiederum zog Debussy an, dessen Kantate mit ihren träumerisch verhangenen Klängen bereits das statische Drama von „Pelléas et Mélisande“ vorausahnen lassen. Seine „auserwählte Jungfrau“ begehrt nicht auf, sondern sucht Trost im Jenseits – dass sie dort nicht im allgemeinen Glück der Gegenwart Gottes aufgehen will, sondern das individuelle Glück anstrebt, das ihr aufgrund des frühen Todes auf der Erde verwehrt blieb, zeigt, dass weder Rosetti noch Debussy das bürgerliche Zeitalter verleugnen konnten, in dem sie lebten. Als der katholische Dichter Paul Claudel („Der seidene Schuh“) und der Komponist Arthur Honegger sich 1935 entschieden, ein Oratorium über Jeanne d’Arc zu schreiben, war diese bürgerlich Welt bereits zerbrochen. Hier gibt es keine statischen Klänge mehr, sondern Tumult. Die Vorahnung der modernen Massen hatte Debussy in die Arme der Rechten getrieben, zu Honeggers Zeit haben nun bereits die Faschisten Italien, Spanien und Deutschland im Würgegriff und für einen traditionellen Christen war der Kommunismus keine Alternative. So entwarfen Honegger und Claudel ein mittelalterliches Mysterienspiel, das wieder Ordnung in die Welt bringen sollte.

Àlex Ollé, einst Mitglied der wilden katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus, hatte in Frankfurt den Auftrag, beide Konzertstücke zu einem pausenlosen Theaterabend zu verschmelzen. Die Zweiteilung in den Himmel und die Hölle auf Erden bildet den Rahmen für die beiden ungleichen Jungfrauen-Stücke – Elizabeth Reiter und Katharina Magiera erfüllen die dankbare Aufgabe des heiligmäßig dahinfließenden Schöngesangs beide Male mit Bravour. Für die Schauspielerin Johanna Wokalek ist die Johanna eine Paraderolle; sie spielt mit Emphase ein Mädchen von heute, das sich in eine fremde, unbegreifliche Welt geworfen sieht. Die weiteren Darsteller haben es nicht so leicht, denn sie stehen für die gefühllosen Massen. Unten herum sind sie nackig, und das macht sie tierisch und erbärmlich.

Das Gericht, das 1431 über Johanna zusammengetreten ist, wird auch präsidiert vom Bischof Schwein, assistiert vom Esel und beigesessen von Schafen. Peter Marsh, Etienne Gillig und etliche Statisten haben offenbar richtig Spaß an ihrer Vertierung. Die Herrscher von Frankreich, England und Burgund – Allegorien der Todsünden Torheit, Hoffart und Habgier – verzocken ihre Territorien am Spieltisch; ihre Nacktheit unterm blutbefleckten Pelzmantel zeigt, dass sie nicht weniger vertiert sind. Nur einer erscheint immer wieder in schlichtem Schwarz: Bruder Dominique alias der Gründer des Dominikanerordens. Dieser Orden war kurz nach seiner Gründung vom Papst mit der Inquisition beauftragt worden und hatte mit der Verurteilung Johannas als Ketzerin Schuld auf sich geladen. Nun irrt Dominikus (der Schauspieler Sébastien Dutrieux) ein wenig hilflos, aber mit nicht wenig Pathos durch die finsteren Szenen und versucht sich zu entschuldigen. Schließlich hatte der Papst Johanna 1920 heiliggesprochen, eine Erkenntnis mit 500 Jahren Verspätung.

Schließlich wird ein pralles mittelalterliches Volksfest dargestellt, bei dem zwei Parteien miteinander wetteifern, die des Wirtes Mühlenwind (Pere Llompart) und der Mutter Weinfass (Christiane Gänßler). Man feiert die Vereinigung Frankreichs durch die Jungfrau von Orleans (zu einer Zeit, als Nationalstaaten noch etwas völlig unbekanntes waren). Doch zwei Mönche stören das Vergnügen und rügen das Volk, das am Weihnachtsfest solchen heidnischen Bräuchen huldigt – und das Volk folgt der Rüge. Da macht sich auch Bruder Dominique davon und überlässt Johanna ihrem Schicksal. Nun lässt der alte Kämpe des katalonischen Straßentheaters endlich die Sau raus und überschüttet nackte Jungfrauen auf ausgebrannten Autoruinen mit Theaterblut.

Arthur Honeggers pralle Partitur bietet den Ausführenden sattes Futter, was vom Frankfurter Publikum dankbar aufgenommen wird – dramatisch bewegte, von Tilman Michael glänzend einstudierte Chöre, ein marschierender Kinderchor wie in „Carmen“ und eine lange Riege ausgezeichneter Gesangssolisten. Die Musik steht mit beiden Füßen in ihrer Zeit, zwischen Carl Orff und Paul Dessaus Theatermusik für Bertold Brecht. Auch Paul Claudel steht mit seinem Text den Lehrstücken Brechts nicht fern – beide versuchten, für ihre jeweilige Kirchen Rechtfertigungen für die Ungereimtheiten des Lebens zu formulieren, sei es für die katholische oder für die kommunistische. Das Bühnenbild von Alfons Flores (es könnte genauso gut „Mutter Courage“ dienen) konfrontiert den Tod im irdischen Jammertal mit der Verklärung im christlichen Himmel.

Die Trösterin Musik ist ein wenig in die Jahre gekommen. Dem Populismus in unserer heutigen Lebenswelt versucht sie sich gar nicht erst anzunähern. Aber vielleicht ist es ja auch viel sinnvoller, uns die alten Geschichten in den alten Theaterwelten zu präsentieren, und den Rest dem mündigen Zuschauer zu überlassen.