Das Frühjahrsopernfestival an der Oper Lyon

Goldmarie und Pechmarie

Die Oper Lyon präsentiert bei ihrem kleinen Opernfestival Puccinis „La Fanciulla del West“ und Tschaikowskys „Pique dame“ – sowie eine Uraufführung als Studioproduktion

Von Robert Jungwirth

(Lyon, 15.-17. März 2024) Minnie, die Titelheldin in Giacomo Puccinis Oper „Das Mädchen aus dem Goldenen Westen“ ist eine Goldmarie. Als eine der wenigen Frauen in der Männerwelt der Goldschürfer im Kalifornien des 19. Jahrhunderts wird sie von den Männern umschwärmt – aber auch respektiert. Keiner kommt ihr zu nahe, der dazu nicht die ausdrückliche Einladung von ihr hat. Unter den Goldgräbern ist das eigentlich niemand. Auch Rance, der schwerst verliebte Sheriff des Goldrauschkaffs, bleibt erfolglos. Und weil Goldmarie Minnie die Goldschätze der Schürfer verwaltet, darf sie in Tantjana Gürbacas Inszenierung der selten gespielten Puccini-Oper an der Oper Lyon in einem güldenen Kleid auftreten.

Foto: Jean Louis Fernandez

Ja, Puccinis Oper ist eine Mischung aus Märchen und Western – einer der ersten „Western“, nicht als Film, sondern als Oper, komponiert für die New Yorker Met, wo die Western-Oper 1910 mit Enrico Caruso und unter der Leitung von Arturo Toscanini aus der Taufe gehoben wurde.
Das knappe Vorspiel des Orchesters klingt tatsächlich wie der Beginn eines Hollywoodstreifens der 50er oder frühen 60er Jahre. Puccini hat hier zweifellos stilbildend gewirkt und Generationen von Filmkomponisten beeinflusst.

Märchenhaft ist die Handlung trotz reichlich Pistolenknallen, weil Minnie sich eben nicht in den Sheriff, sondern in den Räuberhauptmann Dick Johnson verliebt – und zwar vom Fleck weg und ganz ohne Liebestrank oder Whisky. Märchenhaft ist die Oper auch, weil Minnie die Goldgräber-Meute mit Bibellesungen zu lammfrommen Pfadfindern zu machen versteht. Das ist so unglaubwürdig, dass Gürbaca das völlig zu recht mit einer hübsch-ironischen Pieta-Anspielung aufs Korn nimmt.

Das Libretto dieser Oper kann man wahrlich nicht als das gelungenste unter den von Puccini vertonten Texten bezeichnen, und wäre die Musik nicht eben von dem großen Meister aus Lucca, es würde sich wohl kaum jemand für diese Oper interessieren. Die holzschnitthafte und dazu auch wenig spannungsreiche Handlung – vielmehr handelt es sich um Genreszenen – bietet auch für Regisseure nicht wirklich ein Füllhorn an Ideen und Inspirationen. Ein wenig mehr als Gürbaca und ihr Bühnenbildner Marc Weeger für Lyon aufbieten, dürfte man allerdings schon erwarten bei einer Bühnenproduktion an einem solchen Haus. Eine Bar aus erdfarbenen Quadern als reduziertes und wandelbares Einheitsbühnenbild bildet das Setting – that’s it.
Gesungen und musiziert wird dafür ganz hervorragend. Allen voran Chiara Isotton als durchsetzungsstarke Minnie und Riccardo Massi mit grandiosem Puccini-Tenor als Räuberhauptmann Dick Johnson. Daniele Rustioni macht die musikalischen Qualitäten dieser Puccini-Oper wunderbar deutlich ohne dabei zu forcieren und zu dick aufzutragen.

War man bei Gürbaca mit einer allzu großen Reduktion und Sparsamkeit der Mittel konfrontiert, so geschah in Timofei Koullabines Inszenierung von Tschaikowskys „Pique Dame“ das genaue Gegenteil. Was für eine Fülle an Ideen und Bezügen wurde hier auf die Bühne gestemmt! Koullabine und sein genialer Bühnenbildner Oleg Golovko machen aus Tschaikowskys düsterer Spieler-Oper einen überwältigenden und überwältigend vielfältigen Reigen des heutigen und des vergangenen Russland. Da gibt es patriotische Umzüge, Kinder in Soldatenuniformern und historische Balletteinlagen, bei denen die Ballerinas mit Schwertern vor den Konterfeis mittelalterlicher Herrscher herumfuchteln. Und es gibt jede Menge Militärs. Versoffen aggressiv die unteren Ränge, diplomatisch, aber entindividualisiert die höheren. Beliebig ist das alles keineswegs, denn auch das Libretto sieht zum Beispiel diesen Kindersoldatenchor vor. Er singt: „Wir sind hier versammelt, den russischen Feinden zur Abschreckung. Böser Gegner, hüte dich, mach dich davon mit deinen üblen Absichten oder unterwirf dich! Hurra!“

Koullabine offeriert das alles mit einer unglaublichen Detailfreude auch in der Personenführung, die immer auch Ironie und Groteske beinhaltet. Allein die Bahnhofsszene gegen Ende der Oper, wenn Lisa ihren Geliebten Hermann erwartet, der sie dann aber doch abweist, ist von einer solch gnadenlosen Verlorenheit mit den hoffnungslos wartenden Reisenden, dass es einen fast schaudert – zusätzlich zum bitteren Ende von Lisas hoffnungsloser Mesaliance mit dem spielsüchtigen Hermann.

Dmitry Golovnin singt und spielt diesen Hermann von Anfang an als Verlorenen. Dass er an einer schweren Vergangenheit trägt, zeigen seine fahrigen, zwanghaften Bewegungen. Kein Wunder, dass so jemand keine wirkliche Freude empfindet, selbst wenn er sich verliebt. Es ist vielmehr eine weitere Bürde. Das ist auch schon bei Tschaikowsky so. Eine romantische Liebesgeschichte sieht anders aus und hört sich anders an. Hermanns Zockerfreunde fragen ihn, was mit ihm los sei, er sehe so unglücklich aus. Nun, er sei verliebt, sagt Hermann. Dieser Hermann hat nur die Wahl zwischen Unglück und Unglück. Daran kann auch die erfolgversprechende Formel fürs Kartenspiel nichts ändern, die er der alten Gräfin abpresst. Am Ende geht Hermann zu Grunde, das war von Anfang an klar. Selbst wenn er tatsächlich gewonnen hätte, hätte sein Leben keinen glücklichen Verlauf genommen, darf man annehmen. Dass Lisa sein Unglück teilt, macht die Negativität der Oper vollkommen. Keine Hoffnung nirgends. Ein wenig so wie Russland im März 2024…

Musikalisch ist diese sehr aufwendige Produktion der Oper Lyon ebenso stimmig und überzeugend wie szenisch. Daniele Rustioni – der GMD der Oper leitete tags zuvor ja bereits die Premiere der Puccini-Oper – zaubert aus dem Graben etwa 50 shades of grey in diesem düster-grauen Musikgemälde, lässt dabei aber auch innige Lyrismen nicht vermissen. (Auf das anachronistisch-mozartische Schäferspiel bei der Gräfin allerdings hätte man auch angesichts der Länge der Oper gut und gern verzichten können.)

Neben Golovnin beeindrucken Elena Guseva mit existenzieller Sopran-Dringlichkeit (mitunter etwas zuviel des Guten), aber auch mit fließender Kantabilität. Pavel Yankovsky gibt einen kernigen Grafen Tomski – ein Zockerkumpan von Hermann. Auch die übrigen Partien sind hervorragend besetzt – vor allem mit Sängerinnen und Sängern aus Russland – nebst Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine!

Damit hätte es die Oper Lyon mit ihrem kleinen Vor-Frühlingsopernfestival gut und gerne belassen können und alle wären’s zufrieden gewesen. Die Uraufführung von „Otages“ („Geiseln“) von Sebastian Rivas, einem jungen Komponisten aus Lyon, tags darauf hätte man besser unterm Jahr als Studioproduktion präsentiert als sie mit großem Bahnhof ins Festivalprogramm aufzunehmen. Der Versuch, aus dem gleichnamigen Roman von Nina Bouraoui über eine privat und beruflich gedemütigte Frau, die schließlich Rache nimmt, ein Musiktheater zu machen, ist leider gründlich schief gegangen. Es reicht eben nicht, den Text sprechen und manchmal ein wenig singen zu lassen, das Ganze ohrenbetäubend zu verstärken und mit improvisatorisch wirkenden flächig- kratzenden Instrumentalklängen (ebenfalls verstärkt) zu unterlegen – und überdimensional abzufilmen und auf großer Leinwand zu projizieren. Der Inhalt des Romans war zu verwässert, die Musik zu belanglos und enervierend in ihrer permanenten Pseudodramatik, als dass sie dieser Frau und ihrem Schicksal nahe gekommen wäre. Die Musik wäre selbst als Filmmusik ungeeignet.

Es hätte wohl eines profilierteren Komponisten bedurft, um dem selbst gestellten Anspruch gerecht zu werden, aus dem Roman ein wirkungsvolles Musiktheater zu machen. Dass der Intendant Richard Brunel dabei höchstderselbst Regie führte machte es auch nicht besser. So mühten sich die beiden Sänger Nicola Beller Carbone und Ivan Ludlow respektabel, aber doch letztlich vergebens um die künstlerische Vergegenwärtigung eines Akts der Selbstermächtigung einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs oder sogar schon darüber hinaus.

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