Aribert Reimann gestorben

Aribert Reimann, einer der profiliertesten Komponisten der Nachkriegsgeneration, ist gestorben

(Berlin, 14. März 2024) Der Komponist Aribert Reimann ist gestern, 13. März, in Berlin im Alter von 88 Jahren gestorben. Das teilte sein Verlag (Schott) heute mit. Reimann war einer der profiliertesten Opernkomponisten seiner Generation. Seine Opern „Lear“, „Troades“, „Bernarda Albas Haus“ oder „Medea“ wurden große Erfolg auf der Opernbühne und bereicherten das zeitgenössische Opernrepertoire.

Aribert Reimann entstammte einer Berliner Musikerfamilie. Die Mutter war Sängerin, der Vater Professor für Kirchenmusik und Leiter des Berliner Domchores. Ein protestantisch geprägtes Elternhaus mit besten Verbindungen, in dem früh der Grundstein für eine Karriere als Liedbegleiter gelegt wurde. Bei einem Hauskonzert hatte Reimann, der die Schüler der Mutter begleitete, den Pianisten Michael Raucheisen kennengelernt, der ihm wichtige Impulse gab. An der Berliner Hochschule hörte der junge Student später Kontrapunkt bei Ernst Pepping, sein Kompositionslehrer wurde Boris Blacher. Der gehörte einer sachlichen Moderne an, bestärkte aber seinen Schüler bald darin, eine „eigene Sprache“ zu finden.

Aribert Reimann fand sie schon früh, seine eigene Sprache. Sie war anders als die Sprache der Generation Blachers, anders aber auch als die strikte Linie, die damals aus Darmstadt vorgegeben wurde. Zehn Jahre jünger als z.B. Hans Werner Henze, konnte Reimann sich aus den direkten Auseinandersetzungen zwar heraushalten, die Entscheidung, sich nicht einer Schule anzuschließen, war indes auch für ihn alles andere als leicht. Aribert Reimann wurde zum Einzelgänger, dessen konsequenter Weg über Jahrzehnte hinweg eine ganz eigene Individualität ausprägte.

Als einer der ersten vertonte Aribert Reimann Texte Paul Celans, den er 1957 in Paris kennenlernen durfte. Dem hohen artifiziellen, vor allem aber auch moralischen Anspruch dieser Gedichte „nach Auschwitz“ wurde Reimann kongenial gerecht. Eine Scheu vor dem hohen Ton dieser und anderer Texte der großen Literatur, die Reimann mit Vorliebe heranzog, kannte er nicht, – ging es ihm doch keinesfalls um ein unbedachtes bloßes Vertonen, sondern um ein selbstkritisches Ringen um eine authentische musikalische Sprache als Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit.

Reimann war grundsätzlich kein politischer Komponist, dennoch fehlt auch in seinem Oeuvre nicht die Auseinandersetzung mit brennenden Fragen, wie das 1974 zu Zeiten des Vietnamkrieges entstandene Requiem Wolkenloses Christfest eindrucksvoll beweist. Dennoch war es eine zeitlose Aktualität, die Reimann anstrebte, keine vermeintliche Teilhabe am Tagesgeschehen. Seine Stoffe, die Opernsujets zumal, entnahm er daher meist dem Kanon der Weltliteratur.

Allen vermeintlichen Unmöglichkeiten der Gattung zum Trotz, schrieb Reimann Opern: er erzählte Geschichten, vertraute auf die unzerstörbare Magie des Wortes und vor allem der menschlichen Stimme. Mit Melusine (1970), Troades (1985), Bernarda Albas Haus (1998/2000) und Medea (2007/09) brachte er große tragische Frauenfiguren auf die Bühne. Die ehrliche Empathie und Humanität seines musiktheatralischen Ansatzes zog das Publikum dabei immer wieder in den Bann.

Der große Durchbruch gelang Reimann 1978 mit seiner Oper Lear. Dietrich Fischer-Dieskau hatte sie angeregt und bei der Uraufführung in München auch die Titelrolle verkörpert. Das Werk hat danach einen exzeptionellen Siegeszug über die Bühnen der Welt angetreten und erscheint uns heute frischer denn je. Von gewaltigen Klangballungen bis hin zu filigransten Ruhemomenten reicht Reimanns Palette, der eine höchst eindrückliche musikalische Sprache für das abgründige Thema des Werks findet: „die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens ausgesetzt“.

Die Uraufführung seiner Oper Lear an der Bayerischen Staatsoper 1978, geleitet von Jean-Pierre Ponnelle (Inszenierung) und Gerd Albrecht (Dirigat), gilt als einer der Meilensteine der musikalischen Moderne; Lear ist mit bislang weit über 30 Inszenierungen auch eine der meistgespielten jüngeren Opern überhaupt. Reimanns Beziehung zur Bayerischen Staatsoper war die vielleicht engste und folgenreichste, die dieses Opernhaus mit einem Komponisten des 20. Jahrhunderts je einging. Lear erwies sich als so etwas wie die Beweisführung, dass die Gattung der Oper nicht nur lebt, sondern unverändert ins Herz dringen kann, dass sie die dringende politische Aktualität literarischer Stoffe – wie hier des von Shakespeare vorgeprägten – nicht nur bewahren, sondern sogar schärfen kann. „Vielleicht hat die Musik unseres Jahrhunderts es erst möglich gemacht, die komplexe, tiefe Parabel von der Kreatur Lear in der Oper zu erzählen“, schrieb damals die Süddeutsche Zeitung.

Es blieb nicht bei diesem einen gemeinsamen Projekt. War schon zuvor, 1973, die Oper Melusine im Cuvilliés-Theater aufgeführt worden – ein kleinerformatiges Werk, das erstmals bei den Schwetzinger Festspielen gezeigt wurde –, erging wenige Jahre nach der Lear-Premiere ein neuer Kompositionsauftrag an Reimann, und 1986 wurden mit der Oper Troades (vom selben Leitungsteam einstudiert) die Münchner Opernfestspiele eröffnet. Auch dieses Werk wurde seither an vielen anderen Bühnen aufgeführt. 1988 kam Die Gespenstersonate ins Prinzregententheater – somit war Reimann mit seinen Opern an allen drei Hauptspielstätten der Bayerischen Staatsoper präsent. Bald darauf wurde die großformatige Kafka-Oper Das Schloss am Nationaltheater München gezeigt, die Premiere war 1995, schon zweieinhalb Jahre nach ihrer Berliner Uraufführung. Eine dritte Münchner Uraufführung folgte mit Bernarda Albas Haus nach Federico García Lorca im Jahr 2000, dirigiert von Zubin Mehta und inszeniert von Harry Kupfer.

Wie sehr Aribert Reimanns Schaffen das aktuelle Musiktheater geprägt hat, wird durch wenig so deutlich wie durch den seltenen Umstand, dass ein und dasselbe Opernhaus ein Musiktheaterwerk der Moderne in einer vollständig neuen Inszenierung ein zweites Mal auf die Bühne bringt. So geschah es in der Spielzeit 2020–21, in der – trotz pandemiebedingten Einschränkungen – „Lear“ aufs Neue an der Bayerischen Staatsoper interpretiert wurde, nunmehr durch Christoph Marthaler (Inszenierung) und Jukka-Pekka Saraste (Dirigat) und mit Christian Gerhaher in der Titelpartie. Die jüngste Wiederaufnahmeserie stand im Februar 2023 auf dem Spielplan. Es war die erste, an der Reimann aus gesundheitlichen Gründen nicht mit der vollen Kraft seiner Musikalität und Menschlichkeit persönlich mitwirken konnte. Sein Geist aber war in jeder Probe und bei jeder Vorstellung spürbar.

Reimanns Werke, die seit 1960 exklusiv bei Schott Music erscheinen, waren im Laufe der Jahre immer auch eine Anregung für jüngere Komponisten-Kollegen, wie Wolfgang Rihm in seiner Laudatio zu Reimanns 80. Geburtstag in der Deutschen Oper Berlin freimütig bekannte. So für die Stimme schreiben, das könne eben nur Reimann, dessen Gespür für „Kantabilität und Ökonomie“ ohnehin vorbildlich seien.

In der Tat ist Reimanns musikalische Sprache geprägt von dieser Dialektik. In ihr herrscht absolute Kontrolle des Materials bei gleichzeitigem Streben nach größtmöglicher Freiheit und Öffnung. Reimann beherrschte selbstverständlich serielle und dodekaphone Techniken, nutzte Mikropolyphonie und Clusterbildungen als Kompositionsmittel, doch erwuchs auf dem handwerklich stets untadeligen Fundament immer ein individuelles Werk im emphatischen Sinne, das weit über seine Konstruktion hinausweist. Reimann blieb einem strengen Werk- und Formbegriff treu, doch wo linear entwickelte Verläufe und logische Strukturen einerseits Halt geben, suchte der Komponist gleichzeitig nach größtmöglicher Freiheit z.B. im Metrum und der Notation.

Die Bandbreite seines instrumentalen Komponierens reicht vom unbegleiteten Solo (z.B. für Cello, Klarinette, Oboe) über Kammermusik und Solokonzerten, wie z.B. den zwei Klavierkonzerten (1961, 1972) und dem Violinkonzert für Gideon Kremer (1995/96) bis hin zu großen orchestralen Formen, wie den Variationen für Orchester (1975) oder den Zeit-Inseln (2004). Traditionsbeladene Gattungen wie die Sinfonie oder das Streichquartett vermied Reimann hingegen.

Seine Meisterschaft im Umgang mit der menschlichen Stimme hatte sich Reimann in der Zusammenarbeit mit berühmten Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Grümmer und Brigitte Fassbaender erarbeitet. Als Liedpianist spielte er zahllose Aufnahmen ein, die seine ungewöhnliche Repertoire-Breite dokumentieren, als äußerst produktiver Lied- und Opernkomponist schrieb Reimann seinen oft jungen Sängern virtuose aber nie unsangliche Partien auf den Leib, und nicht zuletzt hat Reimann als Hochschullehrer in Hamburg und Berlin regelrecht eine neue Sängergeneration geprägt, für die zeitgenössische Musik von Anfang an einen festen Platz im Repertoire hat.

Aribert Reimann verstarb am 13.03.2024 in Berlin, wie wir aus dem Kreis seiner Familie erfuhren. Den Deutschen Musikautor:innenpreis der GEMA für sein Lebenswerk konnte er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 8. Februar 2024 entgegennehmen. Dankbar nehmen wir Abschied von einem großen Künstler, dessen empathische Menschlichkeit in seinen Werken fortleben wird.

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