Weills Silbersee in Nancy

Alptraum Zukunft

Ersan Mondtags spektakuläre Inszenierung von Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen. Über eine sehr gelungene Produktion in Nancy.

Von Joachim Lange

(Nancy, 16. April 2024) Der ehrgeizig aufstrebende Gesamtkunstwerker Ersan Mondtag (*1987) ist in Belgien und Deutschland kein Opernneuling mehr. Mit seinen Arbeiten im Schauspiel ist er bekannt geworden. Auf seinem Verzeichnis mit Operninszenierungen stehen bislang Schrekers „Der Schmied von Gent“ (2020 in Gent), Webers „Freischütz“ (2022 in Kassel), Marschners „Vampir“ (2022 in Hannover) und Langgaards „Antikrist“ (2022 in Berlin). Wobei die Ballung im Jahr 2022 ein Corona-Nachholeffekt ist. In Venedig ist er mit einer Arbeit für den Deutschen Pavillon an der gerade eröffneten Kunstbiennale beteiligt.

Einer seiner Hingucker in der Welt der Oper, die aktuell immer noch (bzw. wieder) Furore machen, ist Kurt Weills wenig bekannter „Silbersee“. Bertolt Brecht ist hier nur im Geiste dabei. Das Libretto stammt vom expressionistischen Erfolgsdramatiker Georg Kaiser (1878-1945). In Leipzig (sowie in Erfurt und Magdeburg) wurde das Stück wenige Tage nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zwar noch uraufgeführt, aber kurz darauf, nach der 16. Vorstellung wurde es verboten. Es war die letzte Weill-Premiere bevor der Komponist im März 1933 Deutschland verließ und ins Exil ging. Heute braucht es Ausgrabungsehrgeiz, um es neben der „Dreigroschenoper“ oder dem „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ auf die Bühne zu bringen.

Ersan Mondtag hat mit einer überbordend phantasievollen Inszenierung dafür gesorgt, dass sein entsprechender Versuch nicht zu überhören und vor allem nicht zu übersehen ist. Die Opéra national de Lorraine in Nancy und die Flämische Oper Antwerpen/Gent haben das Werk koproduziert – die Flamen haben es 2021 als erste herausgebracht. Auch bei seiner Zweitpremiere, die jetzt in Lothringen über die Bühne ging, bewährt sich diese Produktion als ein Theaterereignis von Rang.

Verrückt und phantastisch, mit der Vorlage ausgiebig (wort-)spielend, aber doch auf die Songs und den Orchestersound vertrauend, wirkt alles überraschend frisch. Dass die Musik Kurt Weills keine Nebensächlichkeit ist, sondern ihren Platz in der Moderne hat, machen Gaetano Lo Coco und das Orchester der Opéra national de Lorraine mit Verve und Leidenschaft ebenso unmissverständlich klar wie die Protagonisten, wenn sie denn singen und nicht nur (ziemlich professionell) sprechen. Für den Dirigenten ist Kurt Weill einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, dessen Werk im Vergleich zur sogenannten Avantgarde der zweiten Wiener Schule, stark unterschätzt und als zu einfach angesehen wurde (so Lo Coco im Programmheft).

Die Inszenierung lädt das Werk mit einer Brisanz auf, weil sie die Wirklichkeit (der Entstehungszeit 1933 und von heute) aus einem in die nahe Zukunft des Jahres 2033 verlegten Reich der Phantasie treffsicher aufs Korn genommen wird. Nicht direkt, sondern mit den Waffen der und als Kunstanstrengung, die auch die Geschichte als solche in gut Brechtscher Manier verfremdet vorführt. Man ist damit beschäftigt mit dem Projekt „Silbersee 33“ gesellschaftlichen Gefährdungen, die 100 Jahre nach der Uraufführung (und des Verbotes) wieder drohen, durch eine Aufführung zu thematisieren, deren jeweilige Ansätze aber immer wieder verworfen werden. Am Ende ist man doch mitten in der Geschichte, der man Herr zu werden versucht. Und bricht doch immer wieder aus und stellt sie in Frage.

In der Vorlage kriegt der preußische Polizist Olim Gewissensbisse, weil er auf den flüchtenden Ananasdieb Severin geschossen hat. Als Olim in der Lotterie ein Schloss am Silbersee gewinnt, nimmt er (ohne zu verraten warum) das Opfer auf, um ihn zu pflegen. Bei Mondtag wird diese Geschichte als Zukunftstheater inszeniert, was der Bühnen-Phantasie alle Türen öffnet. So spielen gendefekte Lemuren, Krankenpflegeroboter, und Bühnenarbeiter mit. Hier leben die intriganten Frauen ihre Ägyptomanie aus. Die Drehbühne erlaubt den schnellen Wechsel von der Bühne auf der Bühne zum opulenten Inneren des Schlosses oder in eine Halle mit riesigen Säulenheiligen einer wohl untergegangenen postmodernen Welt.

Dass die Geschichte bei allen Brechungen ihre eigene Vitalität entfaltet, liegt daran, dass sie auch in Nancy zur Hälfte eine Benny-Claessen-Show ist. Wie bei diesem Sonderfall von Vollblutmimen, Comedian und Selbstdarsteller üblich ohne eingebaute Bremse. Weil er nicht nur mit Olim die eine Hauptrolle im, sondern gleich das Stück als Ganzes mit seiner extrovertierten Präsenz okkupiert. Seine Fans sind da klar im Vorteil. Joël Terrin hält als der Severin, den Olim mehr als nur gesundpflegen will, voll mit. Er wird vom arabischen Extremisten, der auf die Bühne stürmt, über den Kranken im Rollstuhl, über eine Art heiliger Sebastian zum pink ausstaffierten Liebhaber Olims im knallengen schwarzem Lack.

Aus dem spielfreudigen und sprachversierten Ensemble ragt Nicola Beller Carbone als Madame von Luber heraus. Jubel für ein Theaterereignis der besonderen Art. Der Tenor James Kryshak ist sowohl ein überzeugend extravaganter Lotterieagent, der das erste mal mit einem fulminanten Schlosskostüm auftritt, als auch in der Rolle des Baron Laur in einem Kostüm der Pekingoper selbstverliebt mit der ebenfalls so kostümierten Frau Luber an der Festtafel über den ausgebotenen Olim triumphiert.

 

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