Warlikowski inszeniert Hamlet von Thomas an der Pariser Oper

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Die Welt hinter Gittern

An der Bastille wird Risikobereitschaft belohnt: Krzysztof Warlikowski landet einen Volltreffer mit Ambroise Thomas’ „Hamlet“

Von Joachim Lange

(Paris, im März 2023) In Frankreich ist der von Ambroise Thomas (1811-1896) zur Grand opéra aufgeputzte „Hamlet“ deutlich beliebter als in Deutschland. Da ist er nur selten auf einem Spielplan zu finden. In der Opera Comique gab es vor fünf Jahren eine Neuproduktion. In der Pariser Bastille Oper steht er ab jetzt wieder in einer luxuriösen Besetzung auf dem Programm.
Was dort geboten wird, ist keineswegs eine historisierende Ausstattungsoper, sondern, dank Regisseur Krzysztof Warlikowski und seiner Stammausstatterin Małgorzata Szczęśniak, eine ernstzunehmende szenische Hinterfragung.

Dabei sind die Franzosen durchaus so souverän, Thomas’ Musik nicht zu einem französischen Nonplusultra-Beitrag zur Musik des 19. Jahrhunderts hoch zu stilisieren. So findet sich im Programmbuch auch das gern zitiertes Diktum von Emmanuel Chabrier, das es durchaus mit Wagners auf Meyerbeer gemünzter Unverschämtheit, dass dessen Musik „Wirkung ohne Ursache“ sei, aufnehmen kann. Chabrier meinte: „Es gibt zwei Arten von Musik, gute und schlechte. Und dann ist da noch die Musik von Ambroise Thomas“. So richtig entkräftet wird das auch durch die jüngste Produktion in der Bastille nicht, bei der Dirigent Pierre Dumoussaud das fabelhafte Orchestre de l’Opéra de Paris zur Hochform auflaufen lässt und dabei stets die Balance mit der Bühne wahrt. Es bleibt vor allem eingängige, geschmeidige Unterhaltung, die eine Geschichte erzählt, die allgemein bekannt ist.
Das ist heute nicht anders als 1868 beim zeitgenössischen bürgerlichen Publikum im zweiten Kaiserreich, bei dem Thomas den durchschlagenden, auch internationalen Erfolg hatte. Die Librettisten Michel Carré und Jules Barbier lassen Hamlet am Ende den Mörder seines Vaters eigenhändig umbringen, ihn selbst überleben und sogar zum König werden. Ansonsten haben sie Shakespeares Vorlage zumindest immer in Sichtweite. Es gibt den Titelhelden, der vom Geist seines ermordeten Vaters zur Blutrache aufgefordert wird, von Selbstzweifeln geplagt ist, Ophelia verschmäht und mit einem Theaterstück den Mörder so gut wie entlarvt. Das Personaltableau braucht keine besondere Erklärung. Neben Hamlet, Horatio, Claudius und Gertrud spielen Polonius, Laertes und Ophelia mit, die sogar mit einer veritablen Wahnsinnsarie abräumen kann. Sogar die Totengräber kommen vor. Alles im fünfaktigen Grand opéra Format.

So wie Hamlet ja bekanntlich treffsicher feststellt, dass die Zeit aus den Fugen und im Staate Dänemark etwas faul ist, so greift Warlikowski den von Hamlet eingesetzten Wahnsinn auf und verlegt das ganze Geschehen ins Irrenhaus. Mag sein, dass die Zeit aus den Fugen ist, Helsingör ist zwar geräumig aber gut vergittert. Festgefüges Leichtmetall. Im Grunde überall einsetzbar. Zu allen Zeiten. Bei Warlikowski in Sichtweite unserer Gegenwart. Im ersten Bild sitzt eine alte Frau im Rollstuhl vor einem Fernseher, in dem gerade der Schwarz-weiss-Film Les Dames du Bois de Boulogne von Robert Bresson mit Maria Casarès läuft. Eine Männerrunde spielt am Tisch Karten – eine Altersheimatmosphäre der deprimierenden Art. Der Geist des ermordeten Vaters spukt als weißer Clown durch die Szene und fordert Hamlet auf, Rache zu nehmen. So nimmt Hamlet die Welt wahr.

Auf dem Zwischenvorhang wird dann ein Zeitsprung zurück um 20 Jahre verkündet, was zur Folge hat, dass die mittleren Akte als Rückerinnerung erzählt werden. Hamlet haben die Fixierung auf die Rache, deren Ausführung und Ophelias Tod in den Wahnsinn getrieben, den er zeitweise als Mittel eingesetzt hat, um den Mörder seines Vaters zu entlarven. In diesem szenischen Changieren zwischen Traumatisierung und chronologischem Erzählen, nützt diesem Hamlet auch das Überleben als gekröntes Haupt am Ende nichts. Dem Gefängnis des Wahnsinns dieser Welt kann er nicht entkommen.
Zur Wirkung des Raumes, der durch Zwischenwände, Riesenvorhänge im Hintergrund und das Licht variiert und verstärkt wird, den Massenszenen Entfaltung ermöglicht, dann aber auch Intimität andeutet, kommen die Kostüme. Vom Geisterclown über die Eleganz der Königin bis hin zu witzigen Persiflagen von Choristen in Tütü als Theatertruppe. Ästhetisch ist Warlikowski (nicht zum ersten Mal) so etwas wie eine intelligente Opulenz gelungen.

Noch mehr als die anregende szenische Umsetzung fasziniert diesmal die musikalische Qualität dieser Produktion. Allen voran ist es Ludovic Tézier, der in der Titelpartie mit seinem kernigen Timbre und einer spielerischen Mühelosigkeit nicht nur einen vokalen Referenz-Hamlet bietet, sondern auch mit seiner Darstellung überzeugt. Die Partie des Hamlet kann man sich gegenwärtig live kaum besser gesungen vorstellen! Auch Lisette Oropesa spielt alle Facetten der Ophélie mit jungmädchenhaftem Charme, blitzenden Koloraturen und einer ausgekosteten Wahnsinnsarie als Krönung aus, bevor sie sich die Pulsadern öffnet und in der einsam im Raum stehenden Badewanne theatralisch untergeht. Ève-Maud Hubeaux steht in jeder Hinsicht königliches Format als Gertrude zu Gebote. Ebenso wie Jean Teitgen die Abgebrühtheit des Claudius, der den Mord am eigenen Bruder am besten auch noch vor sich selbst zu verschleiern versucht. Die kleineren Rollen haben es zwar schwer, sich gegen dieses zentrale Personalquartett zu behaupten, sind aber mit Clive Bayley (Geist), Frédéric Caton (Horatio), Julien Henric (Marcellus) sowie Philippe Rouillon (Polonius) und den beiden Alejandro Balkans Vieites und Maciej Kwasnikowski als Totengräber sorgfältig besetzt. Zusammen mit der passgenauen Choreografie von Claude Bardouil und einem von Allesandro Di Stefano präzise einstudierten Chor rundet sich das Ganze zu einem Gesamtkunstwerk der Premiumklasse, wie es nicht immer gelingt.

Fazit: Wenn schon eine Oper von Ambroise Thomas, dann am besten so wie gerade in Paris!

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