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Petrenko dirigiert in Berlin Schostakowitschs Achte

Appell an die Menschlichkeit

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker mit Schostakowitschs Achter in Berlin

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 13. November 2020) Im letzten Konzert vor dem Aus für die Kultur setzte Kirill Petrenko nach Schostakowitschs Neunter noch eine Zugabe an: 4‘33“ von John Cage. Dreimal öffnete der Dirigent die Arme zum Einsatz, dreimal folgte das Orchester der Anweisung „Tacet“. Beschwörend blickte der Chefdirigent in sein Orchester, aber es blieb stumm. Das war der Kommentar der Berliner Philharmoniker zum erneuten Lockdown für alle Kultureinrichtungen.

Das nächste Konzert in der Philharmonie fand dann ohne Publikum statt und war nur im Livestream zu erleben. Auf dem Programm stand Schostakowitschs „monumentale“ Achte. Doch das Epitheton „monumental“ läuft an diesem Abend ins Leere. Mit klassizistischem Ernst beginnt die Sinfonie, ähnlich der Fünften. Der Nachdruck, mit dem Petrenko spielen lässt, stellt klar, dass es um etwas Ernsthaftes gehen wird. Und bald schon braut sich etwas zusammen. Schostakowitschs bester Freund Iwan Sollertinski, damals der klügste Musikdenker Russlands, nannte das „Versammlung böser Kräfte“. Kein Wunder, entstand die Sinfonie doch 1944 im Verteidigungskrieg gegen die deutschen Invasoren, bei dem Millionen ihr Leben ließen und der Rest hungerte und die Toten beklagte. Die Achte reflektiert diese Kriegssituation.

Der erste Satz, ein Adagio, ist hochdramatisch. Immer wieder schlägt die Musik um. Das Englischhorn hält einen intimen Monolog, doch schleichen sich Dissonanzen ein, schließlich bricht schrille Pathetik aus und geht in Panik über, Fratzenhaftigkeit wird zu Primitivismus. Dann baut der Komponist aus der Grundzelle des Satzes das Thema des Lebensüberdrusses aus Tschaikowskys „Manfred“-Symphonie auf, das aus einem gigantischen Trommel-Crescendo herauswächst. Alle diese Übergänge gestaltet Petrenko mit großer Flexibilität des langsamen Grundtempos und mit weichen Schnitten. Auch die Gewaltszenen werden abgefedert durch noble Klangfülle. Die schneidende Brutalität, die manche russischen Orchester hier auffahren, ist den Berlinern fremd. Die vielen wunderschön artikulierten Soli zeigen, wie wertvoll diese Musik ist, wie qualitätvoll sie sich artikuliert und wie bedroht das alles gleichzeitig ist: Vor allem Mathieu Dufours Flöte, Egor Egorkins Piccoloflöte, Dominik Wollenwebers Englischhorn, Stefan Schweigerts Fagott sind zum Niederknien.

Im drolligen Scherzo, das eine gewisse Verwandtschaft zum Charakter des Scherzos von Tschaikowskys Vierter zeigt, betont Petrenko Schalk und Humor, ohne das Eckige und Tölpelhafte aus dem Blick zu verlieren. Den unbarmherzigen Rhythmus der Toccata, die über Stock und Stein jagt und von Bläserrufen wie Peitschenhieben getrieben wird, exekutiert das Orchester perfekt und hat dann im Trio doch auch Spaß an der Galopp-Romantik, als wär’s die Rote Reiterarmee. Dieser Jagd entspringt das Largo in einem großen, kraftvollen Unisono, wonach dieser Chaconne die Musik quasi abhanden kommt. Über dem stets wiederholten Bassthema gerät die Musik gewissermaßen in Auflösung. Das Hornsolo formuliert leise Menschlichkeit, doch die Figuren der Piccoloflöte verfliegen wie Rauch. Dann surreale Flatterzungen-Spitzen mit Pizzicato-Tropfen und Klezmer-Anklänge der Klarinette – all das bringt die Sprachlosigkeit angesichts des Unheils zum Ausdruck.

Das Finale beginnt mit einer humanen Erzählung des Fagotts, aus der die Musiker einen warm und empfindsam gespielten Tanz hervorgehen lassen. Doch auch hier tritt wieder Gefährdung ein, die schließlich in der „Manfred“-Eruption explodiert. Die Philharmoniker entfalten hier aber Energie, keinen Lärm. Wieder glänzen die Solisten, und sie sind es auch, die die Sinfonie zu einem sanften Ausklang führen. Leider kein Beifall.

Wir wissen, dass Schostakowitsch in dieser „Kriegssinfonie“ nicht nur die Opfer des Nazi-Überfalls beklagt hat, sondern genauso die des Stalinterrors. Er hat über und für seine Mitmenschen ein tragisches Epos geschrieben – etwas anderes wäre in jener Horrorzeit auch gar nicht möglich gewesen. Kirill Petrenko und die Philharmoniker versuchen gar nicht erst, mit dem erhobenen Zeigefinger irgendwelche Wahrheiten zu deuten. Sie bieten lediglich all ihre Spielkultur, ihre Virtuosität und ihre Klangfülle auf, um zu zeigen, wie gut gemacht und wie schön diese Musik ist. Schließlich war sie das Geschenk des Komponisten an seine Zeitgenossen, mit dem er ihnen den Wert der Menschlichkeit nahebringen wollte, die vom Regime nur als Propagandawort benutzt wurde. Die Musik selbst ist Teil dieser Menschlichkeit, die beim Überleben hilft. Die feinfühlige Bildregie von Michael Beyer, die die Dramaturgie der Interpretation klug unterstützt, lässt uns den Wert der Musik in dieser aufregenden Interpretation mit Ohren und Augen wahrnehmen. In der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker wird man das Konzert demnächst abrufen können.

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Neue Konzertformate bei den Kasseler Musiktagen

Katarakte und Libellen

Neue Konzertformate und das Stegreiforchester bei den Kasseler Musiktagen

Von Bernd Feuchtner

(Kassel, 1. November 2020) Glück im Unglück: Olaf Schmitt hatte die diesjährigen Kasseler Musiktage wegen Corona radikal gekürzt und in neue Formate gebracht. Fünf Konzerte wurden in die Documenta-Halle verlegt und am Donnerstagabend konnten einzelne Besucher sich im UK14 der Nahbeschallung durch einen Musiker aussetzen. Doch dann wurde der Kultur ab 2. November der Lockdown verordnet. Da die Corona-Ausgabe der Musiktage aber vom 29. Oktober bis zum 1. November stattfinden sollte, blieb sie verschont und nach dem letzten Konzert konnte man einen überglücklichen Festivalleiter erleben.

Das Konzert des Trio Catch wurde in eine der vier „Pandemischen Konzertbegehungen“ von Nick und Clemens Prokop getaucht. Das Publikum wird von weiß gekleideten „Engeln“ in drei Räumen der oberen Documenta-Halle auf coronamäßig distanzierten Stühlen gesammelt und anschließend ebenso distanziert in den riesigen unteren Saal geleitet. Diese viertelstündige Entrata begleitet der Kasseler Kammerchor Cantiamo Piccolo mit Sätzen aus Josquin Desprez‘ Missa L’Homme armé und schließlich einem Antiphon „In paradisum“ aus dem 7. Jahrhundert. Chorleiter Andreas Cessak sorgt für eine Stimmung von wahrhaft paradiesischer Schönheit.

Nun betreten die drei Musikerinnen des Trio Catch das Podest, über das ein riesiger Gaze-Würfel gespannt ist. War die Halle bisher in ein sanftes Blau getaucht, verändern sich die Farbstimmungen nun. Nicht „passend zur Musik“, sondern intuitiv verschieben sich die Farbtöne zu Rot, Grün oder sogar Weiß. Die Brüder Nick und Clemens Prokop haben unter ihrem Label TYE (Trust Your Ears) Konzepte für die optische Präsentation von Musik entwickelt, um auch ein jüngeres oder der Klassik ferneres Publikum heranzuziehen. Zuerst erklingt das Klarinettentrio der serbischen Komponistin Milica Djordjevic, das im letzten Jahr uraufgeführt worden ist. Geisterhaftes Grollen im Klavier, schattenhaftes Dräuen im Cello, körperloses Hauchen in der Klarinette – schlierenartig gleitende Klänge, aus denen nur kurz ein hohe Klarinettenphrase oder eine Doppelgriff-Passage des Cellos herausleuchtet, bevor durch Überblasen oder Umschlagen des Klarinettentons alle solistische Aktion wieder vom postapokalyptischen Kontinuum verschlungen wird. Ins hellblaue Leuchten krächzen von der Aue her die Krähen.

In sanftem Rot/Grün entwickelt sich anschließend die Wärme zweier „Legenden“ von Antonin Dvořák. Danach bläst die Klimaanlage auf Hochtouren durch den Saal und das Trio Catch rüstet sich zum Klarinettentrio a-Moll op. 114 von Johannes Brahms. Auch dieses akademisch-romantische Werk entwickelt keine kantigen Themen-Konturen, sondern führt die Motive in Läufen durch, es entsteht nicht der Sonatendualismus, sondern ein harmonisches Einverständnis in tiefen Klangregionen, ein elegischer Fluss mit gelegentlichen Katarakten, über denen Libellen schweben. Der unendliche Gesang löst sich schließlich in weißes Licht auf. Rückblickend erscheint nun auch Djordjevics nostalgisches Stück mit Brahms und Dvořák seltsam verwandt – die ganze Konzertstunde eine elegische Klage über verlorenes Glück.

Einem ganz anderen Konzept folgte das Abschlusskonzert am Sonntag. Das Stegreif-Orchester improvisiert über die Gegebenheiten. Aus der gestuften Documenta-Halle wird der Bergpark. Das Publikum wird in drei Gruppen in der oberen Halle platziert, eine vierte Gruppe sitzt im unteren Saal. Dort bleibt ein E-Gitarrist als Konstante, während zwei weitere Musiker zwischen den Gruppen zirkulieren. Von oben dringt nach jedem der fünf Blöcke kräftiger Applaus nach unten, während das sanfte Säuseln, das bei uns von der hallenübergreifenden Gruppenimprovisation übrig bleibt, wenig Begeisterung auslöst – so etwas ließe man sich in der Salzgrotte der Herkules-Therme gefallen, aber nicht bei Musiktagen.

Was an den angekündigten Kassel-Bezügen schief ging, machen die Musiker jedoch gründlich wett, nachdem sie alle Gruppen im unteren Saal vereint haben und nun alle elf zusammen auf dem Podium stehen. In der Klarinette erklingt aus dem Klangkontinuum der Kuckucksruf: Ah – endlich ein Kassel-Bezug, der Anfang von Mahlers Erster, der hier entworfen wurde! Aber nein, es ist die Quart vom Anfang von Beethovens Neunter! Die Musiker haben ihre eigene Art von Beethoven-Ehrung entwickelt: Zwischen Motiven aus allen vier Sätzen der Neunten spielen sie mit explosivem Temperament populäre Lieder aus ihren Heimatländern, und das reißt manche Besucherin vom Stuhl. So junge Leute mit solchem Riesentalent, das gibt Hoffnung für die Zukunft, das begeistert das Publikum. Dieser Ausbruch von unbändiger Musizierlust wirkte wie ein Aufschrei vor dem erzwungenen Verstummen. Animiert gehen die Menschen nachhause. Die Musik klingt lange nach und macht uns klar, worauf wir nun einen Monat lang verzichten müssen.

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Pierrot lunaire und La voix humaine an der Oper Hamburg

Abenteuer der Seele

Kent Nagano dirigiert an der Hamburgischen Staatsoper „Pierrot lunaire“ und „La voix humaine“

Von Bernd Feuchtner

(Hamburg, 11. Oktober 2020) Diese Premiere war so nicht geplant. Corona verlangte nach Anpassung des Spielplans. Die Hamburgische Staatsoper besann sich auf zwei Werke, die sonst nicht oft den Weg auf die große Bühne finden: Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ und Francis Poulencs „La voix humaine“, beides beliebte Diven-Vehikel. Bei Poulenc sitzt das Orchester auf der Bühne, durch einen Schleier von der Spielfläche getrennt. Davor, bei Schönberg, sitzen die sieben Musiker im Graben. Kent Nagano dirigiert entsprechend an zwei unterschiedlichen Pulten. Pause gibt es keine, jede zweite Reihe ist leer, die Abstände zwischen den Besuchern sind groß – aber endlich wird wieder Musik gemacht im Haus!

Schönbergs Versuch, aus dem alten Symbolismus neue Funken zu schlagen, indem er Girauds 51 Gedichte 1912 in drei mal sieben gruppierte, die Form durch Sprechgesang dem alten Melodram anglich und die Instrumentalisten mit expressionistisch-atonalen Klängen versorgte, war nicht für die Bühne gedacht. Wie arbeitet man heute den gesellschaftskritischen Hintergrund heraus, wie die sinnlich-seelische Ebene, wie verhindert man das Abgleiten ins unverbindlich Absurde? Vor allem aber: Wie vermittelt man die unerhörte Neuigkeit von Schönbergs Zugriff?

Der junge Regisseur Luis August Krawen, ein Gewächs der Gießener Theaterschule und derzeit Artist in Residence an den Münchner Kammerspielen, der vom Sprechtheater kommt und dort eine erstaunliche Raffinesse der Videoarbeit entwickelt hat, entschied sich, die surreale „Handlung“ nicht mit einzelnen Videos zu begleiten, sondern einen Animationsfilm zu erarbeiten, der den gesamten Zyklus überspannt. Also das Gleiche, was das Künstlerduo Elmgreen und Dragset in Oslo mit „L’Amour de loin“ von Saariaho gemacht hat, doch diesmal nicht als gezeichneter Animationsfilm, sondern als vollplastische Videoarbeit. Der Film extrahiert aus den einundzwanzig Gedichten einen emotionalen Gehalt und entwickelt für jede der drei Sektionen eine eigene Bildwelt (dessen der Zuschauer dank Flashbacks aber erst hinterher gewahr wird), durch die Pierrot, eine androgyne Figur, zuerst abenteuerlustig wandert, dann aber mehr und mehr getrieben wird.

Die Gruppen werden auch dadurch unterstrichen, dass sie durch drei verschiedene Sängerinnen interpretiert werden. Zuerst tritt Anja Silja auf, in einem langen Kostüm von Marie-Thérèse Jossen und mit streng nach hinten gekämmtem Haar. Sie ist natürlich die Idealbesetzung für den Einstieg. Das Schwanken zwischen hoher Gesangs- und tiefer Sprechstimme lässt die „Gelüste, schauerlich und süß“ und die Verzückung des Dichters unter die Haut fahren. Nicole Chevalier und die blutjunge Marie Dominique Ryckmanns verjüngen den Gesangspart Schritt für Schritt, während Pierrot altert und durch eine ebenso alternde Welt irrt.

Die ersten sieben Episoden sind von Natur geprägt, von Pflanzen, Kristallen, Wasser. Und der Begegnung mit einem Menschen. Sie greifen Wörter aus den Gedichten auf (kristallene Flacons, Mondlicht, dunkle Wiesen, Blut, Augen), arbeiten mit magischen Bildern (eine Hand berührt den Mond) und unbewusstem Handeln. Finstre, schwarze Riesenfalter beherrschen die mittleren sieben Episoden. Hier findet Pierrot sich in einer Stadtwelt wieder, mit Autobahnen, die sich wie Spaghetti durchschlingen, und futuristischen Gebäuden aus der Vergangenheit. Ein Schwarm von Drohnen steigt auf. Ein Auto durchfährt die Szene, transportiert Figuren, bleibt im Parkhaus in einer Sackgasse stecken. Im letzten Drittel wird es zerstörerisch. Schönberg himself taucht kurz auf. Dann wird Pierrot von dem Autofahrer samt seinem Kumpan aus dem Wald in eine Barke auf dem Ozean verfrachtet, um die herum Plastikflaschen treiben. Die Barke landet an der Toteninsel an…

Krawens Film biedert sich nicht an die Ästhetik von Videospielen an, sondern ist ein Kunstwerk aus eigener Erfindung, offen für vielfältige Assoziationen, auch an die Filmgeschichte. Und dennoch erdrückt er die Musik und die Dichtung nicht, sondern gerät in eine spielerische Balance zu ihr. Das Instrumentalensemble arbeitet mit Kent Nagano auf faszinierende Weise die unheimliche Trieb-Energie von Schönbergs Klängen heraus.

Ein halbes Jahrhundert später entstand Francis Poulencs Monodram „La voix humaine“ auf einen älteren Text von Jean Cocteau. Poulenc war ebenso wie seine Komponistenkollegen von der Gruppe der Six das Gegenteil von Arnold Schönberg. Wo dieser über den Expressionismus in die Zukunft der Seelenkunst vorstoßen wollte, folgten die Six der anti-bürgerlichen Spur von Eric Satie. Für Gefühlsaufwallungen hatten sie nur Spott, für Zukunftsvisionen ebenfalls. Doch in seiner Oper „Dialoge der Karmeliterinnen“ hatte Poulenc 1957 mit dieser Sachlichkeit tiefe Empfindungen gestaltet. Und zwei Jahre später gräbt sich die scheinbar so geradlinige „Voix humaine“ tief in den Seelenschacht einer Frau.

Kerstin Awemo singt das fabelhaft, mit fast erlöschender, dann wieder groß sich aufbäumender Stimme und vielen Nuancen dazwischen. Das Orchester jagt das Publikum durch die Schauer von Krimi, Melodram und großer Tragödie, Poulencs Klänge nicht weniger genau aushörend als die von Schönberg. Ein dankbares Publikum spendete lange Beifall.

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Berliner Rundfunkchor mit einem begehbaren Konzert

Polyphonie als Nährboden für die Zukunft?

Der Rundfunkchor Berlin richtet einen Parcours mit Neuer Musik zu Beethovens Missa solemnis ein

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 8. Oktober 2020) Als wir endlich auf die Galerie treten dürfen, sehen wir den Dirigenten Gijs Leenaars auf einem hohen Podest, umgeben von Heerscharen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, alle in Konzertkleidung und mit Corona-Abstand. Weiter hinten im ehemaligen Vollgutlager der aufgelassenen Kindl-Brauerei stehen Mitglieder des Rundfunkchores in ebenso sicheren Abständen. Alle zusammen schmettern mächtige Akkorde – aber was für eine Musik ist das? Manche Akkordfolgen erinnern an Beethovens Missa solemnis, andere wirken wie Minimal Music.

Die Komponistin Birke J. Bertelsmeier hat offenbar die Axt angesetzt und Beethovens Musik in Stücke gehauen, um sie dann zu einem neuen Klangerlebnis, zu einer Musik-Collage zusammenzukleben. Die Besucher schieben sich auf dem Parcours von Abstands-Markierung zu Abstands-Markierung und durchlaufen zuerst die Galerie, um dann über eine Treppe hinabzusteigen zum Orchester. Faszinierend, die Musiker und Sänger einmal so aus der Nähe zu beobachten. Das Projekt scheint perfekt auf Corona abgestimmt zu sein, war aber schon vor dem Ausbruch der Pandemie geplant. So lange vorher, dass Jan Assmann ein ganzes Buch zur Missa solemnis schreiben konnte, das durch die Gespräche mit dem Regisseur Tilman Hecker angeregt wurde und wiederum auf dessen Konzept zurückwirkt.

Der Titel der Konzertinstallation, „The World To Come“, leitet sich von der Fuge „Et vitam venturi“ ab, mit der Beethoven beinahe wütend das künftige Leben herbeikämpfen wollte – wie die Legende sagt, indem er beim Komponieren mit Füßen und Fäusten den Takt stampfte. So wütend klingt es bisweilen auch hier in der großen Halle – dann wiederum senden die Geigen von der Galerie sanftere Töne in die Weite und freudenvollere. Eine Musikerin trommelt auf ein elektronisches Schlagwerk und ein Sänger in bunter Weste schickt unsagbare Botschaften in den Saal, durch den sich die Schlange der Besucher stockend bewegt.

Plötzlich sind wir am Eingang zum SchwuZ angelangt, dem legendären Berliner Schwulenclub, wo am Ende von dessen Foyer ein Video der afroamerikanischen Performerin Moor Mother leuchtet, deren drittes Album „Analog Fluids of Sonic Black Holes“ große Aufmerksamkeit erregte. Ihr Gesicht kommt gespenstisch aus dem Dunkel und rezitiert Stellen aus dem Alten Testament, in denen von Blut, vom Lamm, von Selbstzerstörung die Rede ist. Da verweilen wir dann doch etwas länger. Tilman Hecker hat so verschiedene Musiker wie den persisch-stämmigen Trommler Mohammad Reza Mortazavi, die queere Gruppe Panningtorock und den Performer Colin Self zur Mitwirkung eingeladen, der zusammen mit Justin Wong das Arrangement besorgte.

In der „Kathedrale“ des SchwuZ singen die Damen des Rundfunkchores die Worte „Heaven“ und „Hell“ unentwegt im Widerstreit, daneben hat ein Rock-Paar gerade Pause, im nächsten Raum räkelt sich ein Musiker im Rosenkavalierkostüm mit seiner Klarinette. Nachdem wir den Organisten Jakub Sowicki passiert haben und bevor wir wieder in die große Halle des Vollgutlagers kommen, staut sich die Schlange und wir nehmen die Polyphonie der Klänge wahr. Leider beendet die Sopranistin Iwana Sobotka ihr Solo gerade. Auch die Herren des Rundfunkchores, die im Foyer zwischen Plastikwänden aufgestellt sind, haben gerade Pause. Doch draußen gibt es in einer improvisierten Konzertmuschel noch einen Nachhall: Salvatore Percacciolo dirigiert kurze Musikstücke, in denen Elemente des klassisch-romantischen Repertoires durcheinander geschüttelt sind wie in einem Kaleidoskop. Dafür gibt es Beifall.

Diese „Berliner Festmesse“ sollte die Frage nach dem Morgen vor dem Hintergrund der Weiten von heute stellen, schrieb Gijs Leenaars, „das heißt, sich gegen eine zeitgenössische Apokalyptik auszusprechen – und für die Polyphonie der Gegenwart. Denn diese überbordende Vielstimmigkeit der Welt ist der reale und ganz konkrete, der einzig wahre Nährboden für die Zukunft.“ Ein engagierter Abend, der eine Frage des gesellschaftlich ebenso engagierten Komponisten Hanns Eisler wieder aufgriff: „Wessen Welt ist die Welt?“

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Buxtehudes Membra Jesu nostri in Berlin

Liebe in Zeiten von Corona

Tristan & Associates begeistern mit Buxtehudes „Membra Jesu nostri“ im Kühlhaus Berlin

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 26. August) Kaum ist das Publikum in den kahlen Industrieraum geströmt (soweit 36 zugelassene Menschen überhaupt strömen können), tritt die Geigerin Beatrix Hülsemann zu dem wartenden Ensemble Wunderkammer um den Organisten Peter Uehling und setzt mit einem rasenden Präludium aus Bibers Rosenkranzsonaten ein. Die Luft vibriert vor Energie, Erwartung, Angst – und Schönheit.

Krisen setzen Kräfte frei. Auch Künstler haben ein Immunsystem gegen kulturellen Kahlschlag. Allerorten lassen sie sich Darstellungsformen einfallen, die der Bedrohung durch das Covid-Virus und den von der Politik erzwungenen Beschränkungen trotzen. Tristan Braun hat im Kühlhaus Berlin eine Aufführung von Dietrich Buxtehudes Kantatenfolge „Membra Jesu Nostri“ gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung mit der Pandemie gemacht – nicht mit der Politik, sondern mit unserer Körperlichkeit und deren Gefährdung.

Das ehemalige kleine Kühlhaus am Gleisdreieck erweist sich als akustisch ideal für die fünf Gesangsstimmen, die erstaunlich perfekt verschmelzen in den Ensembles und wieder auseinander treten in den Arien. Besonders die Sopranistin Isabel Reinhard und der Counter Georg Bochow ragen aus dem Ensemble heraus, aber auch die anderen drei (Katharina Thomas, Martin Netter und Tim Dietrich) singen Buxtehudes Meditationen ausdrucksstark und erfüllt. In der ersten Kantate über Jesu Füße laufen sie aufgeregt hinter Zellophan hin und her: Die süße und beschwingte Musik spricht zuerst von friedenbringenden Füßen, bevor sie sich den Nägeln zuwenden, die diese Füße gequält haben.

Die Sänger tragen Schleier aus Zellophan, was unvermeidlich an die Corona-Schutzmasken erinnert. Und das soll es auch: Die Aufführung richtet sich ja an Menschen, die hier und heute gefährdet sind. Künstlerisch erinnert das Zellophan an Florine Stettheimers Ausstattung der Uraufführung von Virgil Thomsons Oper „Four Saints in Three Acts“, für die sie 1934 das damals neue Industriematerial erstmals für Bühnenbild und Kostüme einsetzte. Auf den drei Etagen des Kühlauses hat Johanna Meyer nun aus Zellophan sieben Stationen eingerichtet, an denen der Foltern gedacht wird, denen Jesus ausgesetzt war.

Von der oberen Galerie hat ein junger Mann in Schwarz das Geschehen beobachtet. Langsam kommt er näher und wird hineingezogen in die Aktionen der Sänger. Er steht für den Meditierenden, mit seinen Augen betrachten die Zuschauer die szenischen Vorgänge. Der Tänzer Julian Bender hat seine Rolle selbst choreographiert und steigert sich im Verlauf des Abends in immer dichtere Intensität hinein (er hat auch die dezent zeitgenössischen Kostüme entworfen). Nach den durchbohrten Füßen wird der Knie gedacht, auf die Jesus sank, dann der Hände, die am Kreuz ausgespannt und festgenagelt wurden.

Durch das Ritual der alljährlichen Passionsmusiken haben wir fast vergessen, dass es davor und daneben auch andere Formen gab, über den Tod des Erlösers nachzudenken. Der Text zu den „Membra Jesu nostri“, also der „Glieder unseres Jesus“, stammt wohl von dem belgischen Zisterziensermönch Arnulf aus Löwen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und steht in der Tradition der Meditationen des Mystikers Bernard von Clairvaux. Ursprünglich wurde dabei über die fünf Wunden Jesu meditiert, wie sie auf mittelalterlichen Gemälden auch durch Engel dargestellt wurden, die die dabei verwendeten Marterwerkzeuge vorzeigen. Buxtehude fügte zwei Meditationen über das Herz und das Antlitz Jesu an.

Die Aufführung im Kühlhaus macht den meditativen Charakter auch dadurch deutlich, dass das Publikum den Darstellern und Musikern von Station zu Station über die Treppen zu den Galerien vorausgeht. Und wie Buxtehude den von ihm ausgewählten Texten neben einer Sonate jeweils einen Bibeltext voranstellt (und damit die Kantaten auch abrundet), so hat Andreas Tobias zu jeder Station ein großformatiges Foto erstellt, auf dem der jeweilige Körperteil hinter schwarzen Gestängen zu sehen ist – eine elegante Stilisierung, die hilft, den lateinischen Texten zu folgen, deren ja nicht jeder mächtig ist.

Vor allem aber entfaltet Buxtehudes Musik ihre Wirkung. Peter Uehling verleiht ihr an Cembalo und Orgel einen ruhigen Fluss, aus dem die Gedanken an die befreiende Liebe aufblühen, und die drei Streicher (neben Beatrix Hülsemann sind das Lea Schwamm, Geige, und Sarah Perl, Violone) kreieren einen tänzerischen Schwebezustand, der die Schwerelosigkeit der Meditationen beflügelt. Mit einem Zitat aus dem Hohelied vor dem vierten Teil „Die Seite“ werden diese Meditationen immer sinnlicher und auch erotischer: der Text liebkost den geschundenen Körper und nimmt die Liebe Jesu zu den Menschen ganz wörtlich. Ist der Herr so süß, wird auch der Tod zum Liebesfest.

Der Zelebrant wird geradezu mitgerissen durch die Einfühlung in die Leidensgeschichte. Seines schwarzen Anzugs hat er sich längst entledigt und seine Bewegungen schwingen weiter aus und werden intensiver: „Bereite meine Brust, dass sie rein, brennend, fromm, seufzend sei“, fleht der Countertenor.

Zur letzten Meditation über das Angesicht treten noch zwei Gamben zum Ensemble Wunderkammer; Friederike Däublin und Valentin Oelmüller lassen den Klang glühend aufleuchten. Der Tänzer tritt nun ganz nackt auf – und vermittelt dadurch Zartheit und Verletzlichkeit. Wie er zunächst anbetend und mitleidend auf der Erde liegt, um dann im Tod Jesus als Liebhaber weit ausschwinged entgegenzutanzen, ist tief berührend.

Zum Amen senkt sich ein Neonkreuz herab, das mit einem Herz aus verknoteten roten und blauen Luftballons umhüllt ist. Danach starker und anhaltender Beifall für eine überaus eindrucksvolle musikalische und szenische Leistung – und für Buxtehudes Musik, die noch am nächsten
Tag nachklingt.

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Fidelio in Corona-Zeiten am Theater an der Wien – zu sehen auf ARTE

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut

Der Wiener Jubiläums-„Fidelio“ in der Regie des Hollywood-Schauspielers Christoph Waltz geht im Theater an der Wien ohne Publikum über die Bühne – live zu sehen auf ARTE / eine Theater-Fernseh-Kritik aus gegebenem Anlass

Von Bernd Feuchtner

(Wien, 13. April 2020) Der absolute Albtraum jedes Theaters: Zu Beethovens 250. Geburtstag plante das Theater an der Wien, an dem seine Oper „Fidelio“ uraufgeführt wurde, mit einem Coup zu punkten: Der erfolgreiche Hollywood-Schauspieler Christoph Waltz führte Regie bei der zweiten „Fidelio“-Fassung von 1806. Alles lief gut – bis Corona kam und das Theater schließen musste: Keine Premiere! Und da dieses Theater Stagione spielt und nur Gäste beschäftigt, kommt auch keine Verschiebung in Frage: die Gelder für Regie und Ausstattung sind ebenso ausgezahlt wie die für Sänger, Orchester und Dirigent, die dann, wenn die Theater nächste Spielzeit wieder öffnen, längst andere Engagements haben. Also alles für die Katz?

Nicht ganz. Man räumte das Parkett aus, installierte statt der Sessel ein Fernsehstudio und nahm die Aufführung ohne Besucher auf. So gab es am Ostermontag wenigstens eine Fernsehpremiere auf ARTE, und dort steht die Produktion nun in der Mediathek. Die DVD wird mit Sicherheit folgen. Hat es sich gelohnt?

Die Wiener Symphoniker spielten die Ouvertüre schon mal flott und ganz wunderbar beseelt, ohne jedes Auftrumpfen. Das war reine Klangrede im Sinne von Harnoncourt, in den federnden Streichern und vor allem in den ausgezeichneten Holzbläsern – man höre nur auf das Wechselspiel von Flöte und Oboe vor der Schlusssteigerung, die immer in Varianten sprechen und zu begeistertem Zuhören verlocken. Und den Siegestaumel am Ende hält Dirigent Manfred Honeck ebenfalls im Zaum musikalischen Sinnes.

Die Bühne besteht aus einer einzigen, bis in die höchsten Höhen geschraubten, bühnenbreiten hochästhetischen Treppenskulptur (Barkow Leibiger), auf der durch Licht (Henry Braham) die unterschiedlichsten Situationen und Eindrücke hergestellt werden können – vom minimalistischen Hintergrund über die übermenschliche Maschine bis zur Assoziation von Adlerschwingen. Darauf erscheint als Erste Marzelline, und zwar in Uniform: schon mal ein gutes Zeichen, wenn diese interessante Figur nicht als dummes Mäuschen in volkstümlichem Kleidchen als Karikatur erscheint (Kostüme Judith Holste). Mélissa Petit singt und spielt das in Fidelio verschossene Mädchen sehr natürlich und aufgeweckt, ganz im Gegensatz zum Jaquino von Benjamin Hulett, der den unbedarften Macho gibt, ein dummer Bub, der gleich zuschlagen will, wenn Marzelline Fidelio einen Kuss gibt. Christof Fischesser macht aus Rocco nicht nur den beflissenen Schergen, sondern einen differenzierten Charakter, dem man auch bei seinen Fehlhandlungen gerne zuhört.

Wenn dann Nicole Chevaliers Leonore hinzukommt, ist alles bereit für das sanfte Quartett, das die widerstreitenden Interessen hier in einem Moment musikalischer Magie einfängt. Ihre große Arie singt Chevalier mit Intensität und glaubhaftem Engagement – schade, dass sie keinen Szenenapplaus dafür bekommen kann. Das Duett mit Marzelline wird zu einer ebenbürtigen Begegnung. Auch die Szene der Gefangenen wird ganz natürlich gesungen und gespielt – ohne falsches Opernpathos.

Überhaupt hat Christoph Waltz allen Darstellern eine lebhafte, natürliche Spiel- und Sprechweise vorgegeben; für diese realistische Inszenierungsart bietet die abstrakte Bühne den besten Hintergrund. Waltz hat keine Regieideen oder Mätzchen nötig, die Szenen sind sorgfältig durchgearbeitet und ergeben doch auch immer wieder dekorative und sinnreiche Bilder.

So empfindsam und schaurig Honeck und die Symphoniker den Beginn des 2. Aktes im Kerker gestalten, könnte das glatt eine Szene von Carl Maria von Weber sein. Eric Cutlers Florestan muss nichts stemmen, sondern beeindruckt im Verein mit dem Orchester mit großartigen Piani und fabelhafter Feinarbeit. Nur Gábor Bretz muss als Don Pizarro den Filmschurken geben. Károly Szemerédy kommt mit machtvollem Bariton im lindgrünen Mao-Anzug als edler Minister Don Fernando daher, der alles wieder zurechtrückt – und erinnert damit an den undurchsichtigen Vorsitzenden Xi. Der von Erwin Ortner einstudierte Arnold Schoenberg Chor, der so edel gesungen hat, verglüht am Ende im hellen Licht, in dem auch alle Protagonisten untergehen. Die Frage, was nun aus Marzelline wird, hat Waltz auf diese Weise elegant umgangen.

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Die heilige Ente von Hans Gál in Heidelberg

Neues aus Entenhausen

Hans Gáls „Die heilige Ente“ nach 100 Jahren vom Theater Heidelberg erfolgreich exhumiert

Von Bernd Feuchtner

(Heidelberg, 7. März 2020) Was so ein kleiner Opiumrausch doch ausrichtet. Die schlichte aber elegante Bühne von Dirk Becker ist nun mit riesigem Klatschmohn geschmückt und die funktionalen Kostüme von Jula Reindell passen auch über Kreuz: Der Kuli erwacht im Körper des Mandarins und wundert sich, dass er mit Ehrfurcht behandelt wird, statt geprügelt zu werden, der Mandarin erwacht im Körper des Kulis und ist auf einmal nicht mehr der Sohn der Sterne, sondern ein Nichts, und auch der Bonze und der Gaukler wundern sich darüber, wie anders die Menschen ihnen auf einmal begegnen. Die Musik in dieser auf den Kopf gestellten Welt hat rauschhaften Schwung, als sei sie von Korngold oder Schreker – aber die Oper „Die heilige Ente“ ist von Hans Gál.

Hans Gál wurde im Jahr 1890 geboren und studierte in Wien. Als die Nazis an die Macht kamen, war er Konservatoriumsdirektor in Mainz und musste nach Wien zurückkehren, 1938 blieb ihm dann nichts als die Flucht nach London. Schließlich wurde er Professor an der Universität von Edinburgh, wo er bis zu seinem Tod im Alter von 97 Jahren lebte. Sein Vorbild war Johannes Brahms und der Tonalität blieb er immer treu. Um Moden kümmerte sich Gál nicht, sondern pflegte seinen eigenen, vor allem von Schubert und Bach geprägten Stil. Auch nach seiner Emeritierung 1960 hörte er nicht auf zu komponieren, aber da waren seine vier einst in Deutschland uraufgeführten Opern schon lange vergessen.

Seine zweite Oper „Die heilige Ente“ war 1923 in Düsseldorf von Georg Szell uraufgeführt und von über zwanzig Theatern nachgespielt worden. Während Gáls Bücher über Brahms, Wagner, Schubert und Verdi Beachtung fanden, interessierte man sich für seine Musik erst wieder im 21. Jahrhundert. Inzwischen sind seine vier Sinfonien ebenso auf CD erschienen wie seine Streichquartette und Streichtrios. Seine dritte Oper „Das Lied der Nacht“ wurde 2017 vom Theater Osnabrück wiederentdeckt, dort mit Erfolg präsentiert und auf CD publiziert.

Auch in Heidelberg beklatschte das Publikum die Künstler nun ausgiebig, allen voran Tenor Winfrid Mikus als Kuli Yang, der für das Fest des Mandarins die Ente liefern sollte, die ihm auf rätselhafte Weise abhanden kam, wofür er mit dem Tode bestraft werden sollte – eine heldentenorale Herausforderung, die bestens gemeistert wurde. Ipča Ramanović hatte den würdevollen Mandarin mit noblem Bariton verkörpert und fand nach der Pause auch die nervösen Töne für den aus seiner Rolle geworfenen Mann. Verunsichert war der Mandarin aber auch schon durch das seltsame Verhalten seiner erhabenen Gemahlin, die ihren Ring verloren hatte. Carly Owen sang diese im goldenen Käfig eingesperrte Li mit bei allem dramatischen Furor immer kontrollierter Stimme – und sie hätte Grund gehabt zu Beben, nachdem sie im verbotenen Garten Yang begegnet war und mit ihm eine ungekannte Harmonie entwickelt hatte – er war nun im Besitz ihres Rings. Der Gaukler (James Homann) und die Tänzerin (Hye-Sung Na) haben das Rendezvous beobachtet und erpressen Yang, der sie deshalb nicht als Enten-Diebe beschuldigen kann. Wilfried Staber gibt mit seinem sonoren Bass den Bonzen, also den Priester, der die Ordnung hütet. Und dann ist da noch der junge Tenor João Terleira, der mit Witz und schöner Stimme den Haushofmeister gibt. Das Ganze ist eine bravouröse Ensembleleistung des Heidelberger Theaters.

Angerichtet haben das Schlamassel wie in der Barockoper drei Götter (Björn Beyer, Lars Conrad und Han Kim), die diesmal aber nicht im Konkurrenzkampf liegen, sondern schlicht an Langeweile leiden. Sie ziehen die Fäden, die das Leben im festgefügten Staate China durcheinanderbringen. Als der Kuli Yang allerdings begriffen hat, dass er im Körper des Mandarins die Möglichkeit besitzt, nicht nur die Todesstrafe und das Klassensystem, sondern auch die Götter abzuschaffen, greifen sie rasch ein und restituieren das alte hierarchische System. Der Kuli wird ins Machtgefüge integriert als Bonze der heiligen Ente (die ist nämlich zum Schluss doch wieder aufgetaucht).

Das Libretto von Karl Michael von Levetzow und Leo Feld bleibt dem Märchen treu. Bedenkt man, dass nur kurz davor drei Kaiser gestürzt und in Russland die Revolution ausgebrochen waren, dann ist das Stück eher konservativ.

Konservativ ist auch die Musik Hans Gáls. Im ersten Teil glaubte man hier „Rusalka“ von Dvorak zu hören und dort Wagner oder Pfitzner, ja manchmal hätte das auch die erste Oper von Max Reger sein können, so unverdrossen ratterte die Musikmaschine vor sich hin. Die Entwicklung der Intrige zog sich in die Länge. Dabei ist die groß besetzte Partitur farbenreich instrumentiert und detailreich gearbeitet; häufige Takt- und Dynamikwechsel halten die Musiker auf Trab. Erst mit dem Opiumrausch kommt Schwung in die Sache und sowohl Li als auch der Mandarin machen ihre ersten Liebeserfahrungen: die Begegnung mit der Unterklasse erlöst die Herrschenden aus ihrer erstarrten Lieblosigkeit.

Dieses musikalische Märchen-China bleibt angenehm frei von Chinoiserien, wie Puccini sie in der gleichzeitig entstandenen „Turandot“ gerne verwendete – sein mythisches China ist von dem der „Heiligen Ente“ weit entfernt. Hindemiths „Nusch-Nuschi“, ebenfalls gleichzeitig komponiert, zeigt, wie charmant und kurzweilig ein solches Märchen damals musikalisch erzählt werden konnte. Gál erreicht weder Hindemiths Leichtigkeit noch Schrekers Klangprunk oder Korngolds Pathetik – irgendwie fehlt seiner Musik der nötige Funken Genie. Dennoch war es eine großartige Leistung der Heidelberger Philharmoniker unter der Leitung von Dietger Holm, diese so völlig vergessene Musik in einer derart überzeugenden Einstudierung zu präsentieren und ein Jahrhundert nach der Uraufführung erneut zur Debatte zu stellen. Regisseurin Sonja Trebes hat dafür witzige szenische Situationen geschaffen, die der Forderung des Komponisten Rechnung tragen, sich nicht in chinesische Klischees zu flüchten, sondern die menschlichen Konflikte klarzulegen. So wurde die Wiederentdeckung zu einem überaus lohnenden Theaterabend.

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Frühlingsstürme von Weinberger an der Komischen Oper

Bangen und Verlangen

Jaromír Weinbergers Operette „Frühlingsstürme“ feiert in der Regie von Barrie Kosky Wiederauferstehung an der Komischen Oper Berlin

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 13. Februar 2020) Als die Nazis am 30. Januar 1933 durchs Brandenburger Tor marschierten, spielte man im Admiralspalast die Operette „Frühlingsstürme“. Auch als am 27. Februar 1933 der Reichstag brannte, ging Jaromír Weinbergers Operette über die Bühne. Mit Jarmila Novotná und Richard Tauber sangen die beliebtesten Stars. Doch sehr bald hatte Jarmila Novotná als Tschechin nichts mehr zu singen in Berlin, und Richard Tauber wurde vor dem Hotel Kempinski unter Rufen wie „Judensau raus“ zusammengeschlagen.
Die goldene Zeit der Operette war vorbei, ihre Sänger, Textdichter und Komponisten verschwanden zum großen Teil aus Deutschland. Und danach, als nach zwölf Jahren brauner Diktatur das Land in Schutt und Asche lag, war Jaromír Weinberger ebenso vergessen wie der Titel seiner Operette.

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin zu einem Ort gemacht, an dem die verdrängten, verfemten, vergessenen Operetten der Weimarer Zeit wiederentdeckt werden. Paul Abrahams „Ball im Savoy“ beispielsweise, uraufgeführt im Dezember 1932, wurde in der Komischen Oper ein Riesenerfolg. Nun hatte die Zweitbesetzung der „Frühlingsstürme“ Premiere – wie würde das Stück wirken? „Du wärst die Frau gewesen,“ singt der Hauptdarsteller am Ende, denn obwohl zwei Hochzeiten gefeiert werden, ist dem ersten Paar das Glück nicht hold: Sie ist die junge russische Witwe Lydia und er der japanische Spion Ito. Roman Payer singt die Richard-Tauber-Rolle mit schönem Schmelz und wunderbarer Höhe, immer mit einer Träne in der Stimme und einer gewissen Distanz, als wisse er schon von Anfang an, dass es für ihn Liebe nur im Konjunktiv gibt. Die britische Sopranistin Kim-Lillian Strebel ist in Erscheinung und Stimme gleichermaßen elegant als Lydia, die für ihre Liebe auch den größten Verrat begehen würde. Die beiden Stimmen verschmelzen schön in den Duetten – dass sie das „richtige“ Paar sind, drückt sich schon darin aus, dass Itos russische Konkurrenten nur Sprechrollen haben.

Warum aber nun eine Russin und ein Japaner? In Lehárs „Land des Lächelns“, uraufgeführt 1929 im Metropoltheater, in dem heute die Komische Oper spielt, verliebt sich eine Berliner Adelige in einen chinesischen Prinzen und folgt ihm nach China. In China toben auch die „Frühlingsstürme“, allerdings in einer konkreten historischen Situation, aus der die Handlung Komik wie Tragik zieht: im Krieg der Russen gegen die japanischen Besatzer der Mandschurei 1905, den die Russen verloren. Ito hat sich mit anderen japanischen Offizieren beim russischen General Katschalow als Diener eingeschlichen, um dessen Kriegspläne auszuspionieren. Da Katschalow ein genialer Stratege, aber ein verschusselter Mensch ist, gerät er in die irrsinnigsten Situationen, und Stefan Kurt macht daraus köstliche Slapstick-Nummern. Gegen Ende schaukeln sich die Liebestragödie und Katschalows Lebenschaos derart hoch, dass der Zuschauer abwechselnd Tränen der Rührung und des Vergnügens vergießt.

Natürlich singen die Liebenden den üblichen Operettenkitsch: „Dir nur gilt mein Bangen, du bist mein Verlangen“ oder „Und gibt es noch Stürme in eiskalter Nacht, wo oft viele Knospen sterben“. Doch in Gustav Beers Libretto ist nicht alles geheuer. Es schlägt Funken aus einer für die Operette ungewohnt konkreten Kriegssituation, die dadurch aktuell war, dass die Japaner 1932 erneut die Mandschurei besetzten.

Ebenso folgt Jaromír Weinbergers Musik zwar im Wesentlichen den damals angesagten Klischees, lässt aber doch aufhorchen durch ungewohnte Farben und Harmonien. Mit seiner komischen Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ – auch sie hat in Kürze in der Komischen Oper Premiere – hatte er 1927 einen Welterfolg gehabt, und nun sah der Direktor des Admiralspalastes in ihm eine Wunderwaffe gegen Lehár, Kálmán & Co. Hier gibt es statt Csárdás Pentatonik, statt Paprika Ingwer und statt Rosen in Tirol fallen in China Kirschblätter vom Himmel – ohne so viel im Exotismus zu baden wie Lehár. Dirigent Jordan de Souza breitet diesen Reichtum mit dem großartig aufspielenden Orchester der Komischen Oper opulent, aber nicht aufdringlich aus und hat bei Bedarf auch den nötigen Schwung parat.

Klaus Grünberg und Anne Kuhn haben einen schmucklosen Holz-Kubus auf die Bühne gestellt, aus dem heraus sich die einzelnen Szenen entwickeln – dafür genügen schon asiatisch bedruckte Vorhänge und Lampions. Und Dinah Ehm hat grandiose Kostüme geschaffen, vor allem für die zwölf Ballett-Damen, die immer wieder neu überraschen: nicht nur im wechselnden Kostüm, sondern auch in wechselnden Choreografien des immer einfallsreichen Otto Pichler. Wenn sie sich schließlich mit ihren Straußenfeder-Fächern auf der Showtreppe zu witzigen Bildern drapieren, bleibt kein Auge trocken. Barrie Kosky hält die verschlungene Handlung über drei Stunden auf Tempo. Dabei hilft ihm auch das komische Paar, das aus der frühreifen Tochter des Generals Katschalow und dem deutschen Journalisten Roderich Zirbitz besteht. Mirka Wagner gibt diese Tatjana als sympathische Ulknudel, die es Bariton Dániel Foki nicht besonders schwer macht, sie zu erobern. Dass er neben ihr wie eine halbe Portion, aber von ebenso unbezwingbarem Bewegungsdrang wirkt, erhöht den Witzfaktor noch. Und außerdem singen sie auch noch großartig. Die Mikrophonierung hilft, sowohl beim Gesang als auch in den Dialogen nichts zu verpassen.

Die Bravorufe am Ende waren für alle Beteiligten stark. Ob die „Frühlingsstürme“ allerdings nur über Berlin toben, oder auch weiterziehen und eine Weinberger-Renaissance einleiten, können wir ebenso wenig vorhersagen wie General Katschalow den Ausgang seines Krieges.

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Rosenkavalier unter Mehta an der Berliner Staatsoper

Das indische Beisl

Zubin Mehta und die Sänger werden beim neuen Rosenkavalier der Berliner Staatsoper gefeiert – André Heller für seine Nicht-Regie ausgebuht

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 9. Februar 2020) Nach der zweiten Pause lässt Zubin Mehta es krachen. Das Orchestervorspiel zum dritten Akt des Rosenkavaliers beginnt mit Sturmstärke und beißt sich dann in emsigem Fugenwerk fest. Der Altmeister serviert in der Lindenoper ein fantastisches Stück moderner Musik – vielleicht das interessanteste in dieser Oper, nach den endlosen Walzereien im zweiten Akt. Fast ist man da an die Feinheiten von Verdis „Falstaff“ erinnert. Doch was ist Falstaff auch für ein feiner Kerl im Vergleich zu diesem Baron Ochs auf Lerchenau! Dessen sexistische Suada im 1. Akt, zudem voller Standesdünkel, ist schwer zu ertragen, sein Betragen im 2. Akt ist ekelhaft und im 3. Akt ist er einfach nur noch plump und begriffsstutzig. Er benimmt sich wie Harvey Weinstein – entschuldigt die Musik das etwa? Wenn einer das so singt wie Günther Groissböck, entschuldigt ihn auf jeden Fall das Publikum. Groissböck gibt den dekadenten österreichischen Adeligen in aller Selbstverständlichkeit und mit einer Prachtstimme, die dieses in sich ruhende Ekel mit der größten Sicherheit ausstattet. Zum Dank erntet er am Ende einen Bravosturm.

Nicht weniger stürmisch gefeiert wurde das Frauenterzett: Camilla Nylund für eine zwischen den Lebensaltern stehende, anfangs jugendlich frische, dann immer mehr melancholische Marschallin, Michèle Losier für einen jungenhaft dynamischen Octavian, der zwischen erotischem Überschwang und banger Verliebtheit eine Menge Abstufungen kennt, und Nadine Serra für eine Sophie, die sich wunderbar ins Schlussterzett einschmiegt, während sie im 2. Akt vielleicht noch ein bisschen zu schnippisch agierte. Dabei ist dieses unerfahrene, aber indoktrinierte Mädchen doch eine interessante Charakterstudie.

Roman Trekel interpretierte im Goldanzug markant die gereizte Spannung des neureichen Faninal, der seine Tochter um jeden Preis gut verheiraten will. Und noch einer wurde gefeiert, obwohl er nur einen kurzen Auftritt im roten Papageien-Kostüm hatte: der Tenor Atalla Ayan präsentierte einen tollen italienischen Sänger, dem keiner zuhören will – außer ein paar Bühnenarbeitern, die aber prompt zurückgepfiffen werden.

Das war der erste Regieeinfall von André Heller. Im zweiten Akt ließ er während des Jugendstil-Kostümfests im Hause Faninal vor und nach der Rosenüberreichung Gustav Klimt über die Bühne spazieren, damit jede etwaige Rührung unterbleibt. Und der dritte Akt war statt im Wiener Beisl in einem indischen Restaurant unter Bananenstauden (im Kübel) angesiedelt – auch der „kleine Mohr“ der Marschallin war ein ausgewachsener Inder namens Mohammed. André Heller hat damit bewiesen, dass man den „Rosenkavalier“ auf die Bühne bringen kann, ohne eine Idee oder gar eine Haltung zu dieser „Komödie“ zu entwickeln, hinter der doch schon der Zusammenbruch dieser Gesellschaft lauert. Drei sichtbare Regieeinfälle müssen genügen. Schon im Vorfeld hatte er erklärt, mit Oper habe er eigentlich nichts am Hut, aber bei einem solchen Angebot könne man ja nicht Nein sagen. Dafür bekam er am Ende dann doch einige Buhs zu hören. Zumindest bei den Antichambre-Figuren im ersten und den Farce-Teilnehmern im letzten Akt hätte man sich von dem Zirkusmann Heller etwas mehr erwartet.

Xenia Hausner hatte eine gefällige und zweckdienliche Bühne entworfen, während man über die üppigen, aber wenig originellen Kostüme von Arthur Arbesser streiten kann. Das Kleid jedenfalls, das er Camilla Nylund nach dem Lever im ersten Akt verpasste, war kein Kompliment für die Künstlerin – und außerdem konnte man bei diesem großen Muster die silberne Rose nicht mehr erkennen, die sie in den Händen hielt. Allgemein überwog aber der begeisterte und herzliche Beifall für eine großartige musikalische Leistung. Auch die Staatskapelle hatte mit Zubin Mehta einen großen Abend und durfte am Ende auf der Bühne aufmarschieren und im Applaus baden.

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Uraufführung von Reinveres Oper Minona in Regensburg

Die Bürde der ungewollten Geburt

Uraufführung von Jüri Reinveres Oper „Minona“ über Beethovens Tochter in Regensburg

Von Bernd Feuchtner

(Regensburg, 24. Januar 2020) Was treibt die Menschen dazu, ihre Nase in das Leben berühmter Leute zu stecken? Dabei geht es ihnen weder um die Kunst noch um die Wahrheit. Was hat man dem schwulen Tschaikowsky nicht alles für Frauengeschichten angedichtet! Und wie viele Bücher beschäftigen sich mit Beethovens „Unsterblicher Geliebter“! Für die Musik ist das nur dann relevant, wenn der Komponist in einigen Werken immer wieder den Rhythmus „Jo-se-phi-ne“ skandiert – das ist das Gleiche wie der Name von Hanna Fuchs in Alban Bergs Lyrischer Suite, eine verborgene Botschaft. Aber eine verborgene! Beethovens Musik erschließt sich vollständig auch ohne dies Wissen.

Josephine von Brunswick war schon immer eine Kandidatin, an die Beethovens Brief hätte gerichtet sein können. Vor sechzig Jahren wurden dann 14 leidenschaftliche Liebesbriefe Beethovens an sie entdeckt. Im Juli 1812 waren beide gleichzeitig in Prag und neun Monate später bekam die verheiratete Frau eine Tochter. Diese wurde als Kind ihres Ehemannes, des Barons Christoph von Stackelberg, ausgegeben und seltsamerweise Minona genannt – rückwärts gelesen „Anonim“. Nach der Trennung von seiner Frau nahm Stackelberg alle Kinder mit nach Reval (Tallinn), wo er ein Erziehungssystem aufbaute. Das musste einen estnischen Komponisten aus dem heutigen Tallinn natürlich interessieren. Jüri Reinvere trieb ausführliche Recherchen, bis er sich ziemlich sicher war, das Minona eine Tochter Beethovens ist. Er schrieb passend zum Beethoven-Jahr eine Oper über sie, die jetzt in Regensburg uraufgeführt wurde.

Regensburg hatte vor zwei Jahren Glück mit einer Biographie-Oper – Ella Milch-Sheriff war mit „Die Banalität der Liebe“ ein spannendes Stück über Hannah Arendt und Martin Heidegger gelungen, das eher Fragen aufwarf, als welche zu beantworten. Auch Jüri Reinvere will uns glücklicherweise nichts beweisen, sondern ein Dilemma aufzeigen: „Mich hat man nie gesehen“, singt seine Minona. Die Sopranistin Theodora Varga ist auf alt geschminkt, sie spielt und singt großartig diese Minona, die sich 1870 in Wien einigermaßen mit ihrem Schicksal arrangiert hat. Aber nur einigermaßen, denn man feiert 1870 den 100. Geburtstag Beethovens. „Die Menschen sind wie besessen von ihm. Sie finden Erlösung. Erlösung, die durch Qual hindurchgeht … und sich vom Kummer freimacht … Ein Leben, das sich reinigt.“ Die Idee Reinveres, das Rätsel Minona mit dem Beethoven-Kult zu verbinden, ist genial. Den Beginn des 2. Teils nach der Pause hat er hinterlegt mit dem Klangbild Beethoven’scher Streichquartette.

Regisseur Hendrik Müller hat diese Idee aufgegriffen und entschlossen weitergedacht. Er hat die Gestalt der alten Minona hinterlegt mit der Gestalt der alten Elly Ney. Die las bei ihren Klavierabenden gerne mal zwischendurch Beethovens Heiligenstädter Testament vor. Leider führte ihr Glaube an die Autorität Beethoven sie auch zum Glauben an den Führer. Hendrik Müller denunziert aber weder Minona noch Elly Ney, sondern zeigt deren Gefährdung, ihre Tragödie. Warum reden die Menschen über Beethoven? „Es ist ein Rätsel um ihn, anziehend und abstoßend zugleich.“ Es ist das Rätsel der autoritären Persönlichkeit, das sich hier enthüllt.

Und da es keinen Glauben gibt ohne Anfechtung, sind auch Drogen mit im Spiel. „Mir ist so wunderbar“ – das Quartett aus „Fidelio“ spielt eine wichtige Rolle in Reinveres Oper. Und zur „Fidelio“-Leonore fasst Minona Vertrauen – weder Beethoven noch Minona war das eheliche Glück vergönnt, das hier gepriesen wird.

In Hendrik Müllers Inszenierung ist Leonore (Deniz Yetim) die Ärztin, die Minona mit den nötigen Pillen und Spritzen versorgt, damit sie ihre Pein aushält. Und das Quartett wird von einer Poker-Runde geträlltert. Auf Marc Weegers Drehbühne gleiten am Zuschauer all die surrealen Szenen vorbei, an deren Ende Minonas Verlöschen steht. Auch Reinveres Musik hat einen solchen gleitenden Charakter, sie trumpft selten auf. So verfolgt das Publikum gebannt eine Seelenanalyse, die über das Interesse an einer angeblichen Beethoven-Tochter weit hinausgeht.

Ein Bechstein-Flügel, eine Orgel, ein Gitterverschlag, ein Andachtsraum, eine Bibliothek, ein enger Gang, eine Treppe – die Drehbühne bietet viele wandelbare Räume. Besonders witzig das Bild bei der Beethoven-Jubiläumsfeier: Um den Flügel mit Beethovenbüste versammelt es all die Komponisten, die vom Konzertpublikum angebetet werden: Mozart (mit Kugel), Brahms (mit Bart), Humperdinck (mit Lebkuchen), Schönberg (mit Tennisschläger), Mahler (mit Alma) usw. Auf der Orgelempore probiert Händel die Geige des Walzerkönigs aus. Solche ironischen Momente hinterfragen die Kunstreligion. „Musik ist nur der matte Widerschein der hellen Gnade Gottes“, wendet Minona ein. Ihr pietistischer Stiefvater hatte ihr die Selbstaufgabe eingeprügelt: „Ein Mensch muss streng gegen sich selbst sein, muss sein Selbst überwinden. Sonst übernimmt das Ich das Leben, das doch durch Gottes Wort geführt sein soll.“

Im ersten Teil seiner Oper hatte Reinvere diese Vorgeschichte erzählt, durch die die alte Minona nur wie ein Schatten geistert.
Im zweiten Bild erleben wir, wie Minonas Vater (Adam Kruzel) in Reval ihren Charakter bricht. Die pietistische Gemeinde erinnert stark an Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ mit seinen perversen Ritualen. So verbinden sich verschiedene Formen von Autoritätshörigkeit zu einem Gesamtbild. Das Problem dieser ersten beiden Bildern liegt indes bei der Musik. Sie unterlegt die langen rezitativischen Wüsten nur mit einem gestaltlosen Klangteppich, dessen Harmonik vielleicht von dem kunstreligiös angehauchten Skrjabin herrühren mag. So lauscht das Publikum vor der Pause eine Stunde Schulfunk, und das ist hart. Erst im zweiten Teil bekommt die Musik Gestalt und wird auch sängerisch. Von da an wird es spannend.

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Furiose Uraufführung Also sprach Golem in Berlin

Die Alge ist perfekter als der Mensch

Uraufführung beim Ultraschall-Festival für Neue Musik in Berlin: Kay Duncan Davids Musiktheater „Also sprach Golem“

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 19. Januar 2020) Stanislaw Lem war ein kluger Mann. Schon vor 50 Jahren stellte er die Fragen, die uns heute bewegen. Aber die Menschheit hat damals so wenig darauf geantwortet wie auf den Bericht des Club of Rome. Deshalb kann das Berliner Festival Ultraschall sein Publikum mit der Produktion „Also sprach Golem“ wirklich überraschen: Gebannt lauscht es dem Vortrag des Supercomputers Golem XIV über den Menschen. Die Truppe „Kommando Himmelfahrt“ hat daraus einen überaus spannenden Theaterabend gemacht. Obwohl dort oben auf der Bühne nicht mehr als eine Leinwand, ein Rednerpult und ein Stuhl stehen.

Der unvergleichliche Graham F. Valentine tritt zuerst aufs Podium und stellt sich als der wissenschaftliche Betreuer des Superhirns vor. Mit wallender Rotmähne und dem Charme eines britischen Professors erläutert er uns, was wir uns unter seinem Pflegling vorzustellen haben. Der Großcomputer Golem XIV wird zu uns sprechen und sein Thema wird sein: der Mensch – weil das ja nun mal uns alle betrifft. Langsam entwickelt sich aus dem bedächtigen Vortrag des Professors und einem kurzen Statement Golems, das nach Art der ersten PCs (die Lem noch gar nicht kannte) etwas vorsintflutlich daherkommt, eine sich auf allen Ebenen immer breiter entfaltende Darlegung der menschlichen Misere – der ganze Abend ein einziges Crescendo. Das betrifft auch die Stimmkunst Valentines, denn Golems Stimme ist natürlich seine elektronisch veränderte Stimme, und später wird er noch mehr von deren Wandelbarkeit zeigen.

Allmählich übernimmt Golem, und der Professor überlässt ihm gerne das Podium. Regisseur Thomas Fiedler vom „Kommando Himmelfahrt“ hat die von Lem in seinem gleichnamigen Roman von 1973 entworfenen Golem-Vorträge klug gestrichen und um sie herum ein eindringliches, zunehmend auch bedrohliches Szenario entworfen. Denn so ein Superhirn ist ja frei von Gefühlen und analysiert eiskalt. Der Sinn des Lebens? Die Weitergabe des genetischen Codes. Die Evolution? Erhöht die Fehlerquote beim Kopieren des Codes. Die vermeintliche Höherentwicklung des Menschen? Ein Irrtum. Eine Alge kopiert richtig, sie lebt ewig – das vermeintlich Niedrigere ist perfekter als der Mensch. Sagt Golem. Und Professor Valentine kann ganz gut damit leben. Denn die Serie Golem ist gescheitert und nun ein Museum der Gedanken, die die Menschen in das Superhirn hineinprojiziert haben.

Auch mit seiner Leinwand-Präsentation wird Golem immer großzügiger. Aus symbolischen Figuren wie Adler, Hand, Kopf werden phantastische, raumgreifende geometrische Konstrukte – Medienkünstler Carl-John Hoffmann hat nicht mit visionären Abwicklungen in 3D gegeizt, die das Publikum zum Staunen bringen. Parallel entfaltet sich auch die elektronische Musik von Kaj Duncan David in neue Dimensionen. Aus simplen Computerklängen werden musikalische Ensembles, erst Schlagzeug, auch über MIDI (Matias Seibæk), Snaredrum und MIDI Controller (Katerina Anagnostidou), Sven M. Slot an Keyboards und schließlich auch die rasante Cellistin My Hellgren. Davids Musik stellt Fragen. Mehr bleibt uns nicht, denn Golem XIV hat am Ende die Kommunikation mit den Menschen eingestellt. Sie erschien ihm wohl sinnlos. Da hat dann die Musik das Wort. Sie spielt die Ratlosigkeit vehement aus: Die vier Musiker hinter der Leinwand werden sichtbar, sie legen sich ins Zeug und Graham F. Valentine steuert eine brillante Vokalkunstperformance dazu bei. Nach diesem furiosen Ausklang bricht starker Beifall aus: den Vorhang zu und alle Fragen offen.

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