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Berliner Musikfest-Wochenende

Hindemith ohne Mehlschwitze

Berliner Musikfest-Wochenende: Vladimir Jurowski huldigt Strawinsky, das Musikfest huldigt Ann Cleare, Heiner Goebbels huldigt Henri Michaux

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 5. September 2021) Ganz schön raffiniert von Vladimir Jurowski, diese Programmzusammenstellung! Werke von Igor Strawinsky (geboren 1882) von der Höhe des Ruhms Anfang der 1920er Jahre, zu mischen mit solchen von 40 Jahren später, als der 80-jährige Komponist auf zwölftonsüchtigen Wegen wandelte. Oft entsteht ja der Eindruck, dass Strawinsky mit den seriellen Stücken eine besonders karge, unzugängliche Klangwelt schuf – aber an diesem Abend mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hört man eher die enge Verwandtschaft, die Heimat im gleichen Musikkosmos.

Wie Arnold Schönberg (Gurrelieder!) hatte auch Igor Strawinsky (Feuervogel!) sich ausreichend im spätromantischen Riesenorchester der Jahrhundertwende gesuhlt. Es war nicht nur den Kriegsbedingungen geschuldet, dass er mit der „Geschichte vom Soldaten“ auf eine spartanisch-kleine Besetzung mit sarkastischem Tonfall umschwenkte. Er begann das romantische Klangideal seiner Kollegen zu verachten. Auch die „Sinfonien für Blasinstrumente“ von 1920 verzichten auf jeden äußerlichen Glanz. Auf jede Ähnlichkeit mit der klassischen Sinfonie sowieso; „Sinfonien“ bedeutet hier nur Zusammenklänge. Wir hören geradezu isolierte und oft scharf dissonierende Klänge der verschiedenen Blasinstrumente, anfangs wie ein uraltes Ritual, dann mit Anklängen an mittelalterliche Responsorien. Auch die Nähe zu „Le sacre du printemps“ ist – in der unter Jurowski gespielten Originalfassung – nicht zu überhören. Das Ereignis ist, dass man umso staunender jedem der so genau ausgehörten Akkorde zuhört und über die rein musikalischen Ereignisse in Begeisterung gerät.

Danach dann die Kantate „Abraham und Isaak“ von 1963, die schon 1964 mit Dietrich Fischer-Dieskau in Berlin vorgestellt wurde. Wieder ein radikales Stück, das den hebräischen Text in atemloser Rezitation durch den Bariton deklamieren lässt. Aber die Musik hat weder Mitleid mit dem Sohn Isaak, der von seinem Vater geopfert werden soll, noch mit dem gottessüchtigen Vater Abraham, der den Befehl seines Gottes allzu wörtlich nimmt. Georg Nigl legt alle Wärme, Klangschönheit und Leidenschaft seiner Stimme in den Gesang und vermeidet doch, irgendetwas auszudrücken. Die Musik ist beredt im Befremden und versucht nicht, den ungeheuerlichen Vorgang zu schildern oder gar zu verstehen.

Sprung zurück nach 1924, als in Paris das Konzert für Klavier und Blasinstrumente uraufgeführt wurde – Streichergemütlichkeit gibt es hier nicht. Es beginnt mit dem schweren Schreitrhythmus der französischen Ouvertüre, von Jurowski ein wenig verschleiert. Aber dann: ein plötzlicher Jauchzer, und Tamara Stefanovich hämmert in bester Laune aufs Klavier. Wieder die raffinierten Rhythmen, die motorische Energie, der trockene Humor und die fordernde Polyphonie. Diesmal sogar singende Linien! Nach diesem eleganten sportlichen Match geht man vergnügt in die Pause.

Danach ließ Jurowski die 6-minütigen Variationen für Orchester von 1964 zweimal spielen, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, diese konzentrierte Musik zu erfassen. Dazwischen erläuterte er, dass Strawinsky hier Variationen nicht im klassischen Sinne verstand, sondern wie der Ballettkomponist, der er zeitlebens war: Eine Variation ist im Ballett das Solo eines Tänzers, und um einige solcher „Soli“ seien ein Prolog und ein Epilog gestellt. Das klang beim zweiten Hören absolut schlüssig. Und auch die Zwölftonfelder konnte man besser einordnen, besonders wenn die zwölf Geigen bzw. die zehn Bratschen plus zwei Kontrabässe jeder seine eigenen Noten spielten. Und doch war das Klangideal der Zwanziger Jahre auch in dieser Zwölftonkomposition präsent. Dank dieser Strawinsky-Exerzitien gelang es Vladimir Jurowski und dem RSB anschließend, beinahe die ganze deutsche Mehlschwitze aus Hindemiths Sinfonie „Mathis der Maler“ zu vertreiben.

Porträtkonzert Ann Cleare

Mit dem Komponistenpreis 2019 der Ernst-von-Siemens-Stiftung ausgezeichnet und mit einem Opernauftrag für die Münchner Biennale 2022 versehen, hat Ann Cleare in den letzten zehn Jahren deutlich auf sich aufmerksam gemacht. Das Musikfest Berlin lieferte mit fünfen ihrer Werke ein Porträtkonzert am Sonntagvormittag, bei dem sich die rund 200 Besucher in der großen Philharmonie freilich bestens coronamäßig distanzieren konnten. Dabei ist die Klangwelt der irischen, in den Midlands lebende Komponistin durchaus interessant.

Zunächst mag man ihre Art, jeglichen natürlichen Ton der Instrumente zu meiden, auf die Tradition von Helmut Lachenmann zurückführen, doch nachdem am Vorabend das Gehör durch Strawinsky geschärft worden war, kann man auch in dessen dem Ausdruck abholder, dafür aber sehr dem Einzel- und Zusammenklang zugewandten Ästhetik eine Verwandtschaft vermuten. Im Zentrum stand die Uraufführung von „Fossil Lights“ für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier. Die Klarinette kreist meist inständig um einen Ton, der Pianist ist vor allem im Inneren des Klaviers beschäftigt und schlägt sonst nur hohe Einzeltöne an – ein tiefer Akkord ist da schon ein Ereignis. Auch die Geige umkreist einen Ton, bricht dann aber in Tremolos aus. Der ätherische Klang scheint zu jammern: „… und mir ein Lichtlein geben …“, bleibt aber ohnmächtig. Nach einer Generalpause meint man ein Blinken zu hören, bevor alles in Agonie erstirbt.

Davor hatten das frühe Bläserquintett „mire/…/veins“ (2013) und „ore“ (2016) für Klarinette und Streichtrio die erstaunlich kontinuierlichen Klangvorstellungen der Komponistin gezeigt. So denaturiert die einzelnen Klangerscheinungen sind, so bildkräftig ist das Resultat. Die Trompeten winseln, die Tuba regt sich auf, die gestopfte Posaune atmet, das Horn schüttelt sich, die Posaune beginnt zu protzen und stößt damit eine heftige Bewegung an, die aber wieder versiegt, das Surren wirkt wie lästige Fliegen, rostige Türen schwingen träge im Wind. Man assoziiert eine verrottende Industrielandschaft, durch die freche Katzen schleichen und die langsam von der Natur überwuchert wird. Die Musik selbst jedoch ist völlig frei von Natur. Auch in „ore“ fiept die Klarinette in den höchsten Tönen selbst dann noch, wenn sie zur Bassklarinette gewechselt hat, die Streicher spielen im Flageolett und setzen dann doch plötzlich einen „normalen“ Ton ab. Auch dieses zweite Stück verstummt am Ende.

Für größeres Ensemble sind „the physics of fog, swirling“ von 2018/19 und „on magnetic fields“ von 2011/12. Hier spielt das fabelhafte Ensemble Musikfabrik unter dem souveränen Schlag von Aaron Cassidy. Den Nebel schildert die Musik ungefähr so wie eine Szene aus einer Charles-Dickens-Verfilmung in Schwarzweiß, nur ohne Szene. Genauso gut kann man an William Turners gelb-giftigen Smog über der Themse denken oder an eine neblige Moorlandschaft in den Midlands mit angrenzender Klosterruine, über der Raubvögel vergeblich nach Beute Ausschau halten. Die Harfe reibt die Saiten mit einem Band, das Xylophon wird mit dem Bogen gestrichen, die Tuba klingt wie ein Schiffshorn, das Klavier wird mit Schlägeln auf die Saiten geschlagen, die Schlagzeugerin poliert ihre Gongs – die Flöte sieht man die ganze Zeit blasen, doch hören kann man sie nicht, und wenn man den Flötenton zu hören meint, dann spielt sich gerade nicht. Und dann plötzlich das Ereignis eines Abwärtsglissando. Die „Magnetfelder“ bauen sich aus Flageoletts auf und führen in ein sehr viel belebteres und theatralischeres Stück. Wieder das Reiben, Schieben, Kratzen, Drücken – nur nicht Streichen! – bei den beiden Sologeigen. Ein instrumentales Theater. Das Publikum spendete den Musikern wie der anwesenden Komponistin freundlichen Beifall.

Liberté d’action – Szenisches Konzert von Heiner Goebbels

„Bücherlesen ist verdrießlich. Keine Bewegungsfreiheit. Man wird aufgefordert zu folgen. Die Einbahnstraße ist vorgezeichnet, unumkehrbar. Ganz anders das Bild: spontan, total. Nach links oder auch nach rechts, in die Tiefe, wie man will.“ Das schrieb der belgisch-französische Schriftsteller Henri Michaux. Die Nachbarschaft wünschte er sich mithilfe eines großen Orchesters von lärmenden Bengeln zu befreien. Witold Lutosławski komponierte 1962/63 „Trois poèmes d’Henri Michaux“. Von diesem gestischen Dichter, Graphiker und Globetrotter fühlte auch Heiner Goebbels sich gleich angesprochen, als er Ende der 1990er Jahre mit zwei Choreographinnen mit einem Stück beschäftigt war, das sich mit Michaux auseinandersetzte. Er hat nun einige Prosatexte ausgewählt und ein neues Stück, geschrieben, das 2021 bei den Kunstfestspielen Hannover-Herrenhausen uraufgeführt wurde. Beim Musikfest Berlin richtete er es im Sendesaal in der Masurenallee ein.

„Liberté d’action“ heißt Handlungsfreiheit, und damit hat Michaux sich sein Leben lang herumgeschlagen. Mit Tschechow ist er darin verwandt, dass er alltägliche Szenen ersinnt, die sich dann unvermutet und unmerklich zu Menschheitsfragen entwickeln – diese Doppelbödigkeit passt bestens zu Heiner Goebbels, der auch gerne zwischen allen Stühlen sitzt. In diesem Fall sind es die beiden Pianisten des Ensemble Modern, Hermann Kretzschmar und Ueli Wiget, die auf ihrem Klavierstühlen an offenen großen Konzertflügeln sitzen, die ihrerseits auf fahrbaren Podesten rechts und links auf dem Podium postiert sind. Sie hantieren bereits im Inneren ihrer Instrumente, bevor schlagartig das Licht ausgeht. Nun beginnt der Schauspieler David Bennent auf einem der höheren Hubpodien mit seiner Arbeit.

Und Arbeit kann man es nennen, was er den ganzen Abend über treibt. Während er die Michaux-Texte deklamiert – deutsch und französisch fröhlich gemischt – arbeitet er sich an Gerätschaften ab, die an ein Klanglabor erinnern, schiebt Wände hin und her, rennt die Stufen rauf und runter, schiebt die Klavierpodeste umher. Bald zieht er die Anzugjacke aus, legt den Hut ab, zieht einen bunten Pullunder an. Dann verschwindet er, bis ein Lichtviereck von der Saaldecke herunterkommt und ihn wieder findet. Bennent arbeitet sich an den Texten ab und kommt doch zu keinem Ergebnis – das Forschen ist Selbstzweck. Ebenso wenig folgen die vielfältigen Lichträume einer Logik, sie beleuchten nicht einmal das Geschäft, das hier verrichtet wird, sondern bilden selbstständige Denkräume.

Ähnlich beschäftigt sind die beiden fabelhaften Pianisten, auch sie Klangforscher. Zwar mit Gelassenheit, doch in ständiger Bewegung. Mit ihren Westen sitzen sie bald vor der Tastatur, bald traktieren sie die Saiten mit allen Arten von Gegenständen; das ist fürs Auge so spannend wie fürs Ohr. Dabei scheint das Innere der Flügel nach Sektoren getrennt abgenommen zu werden – Paul Jeukendrup macht einen coolen Job am Mischpult und hat großen Anteil an diesem Hörabenteuer. Und das ist ein attraktiver Parcours – Heiner Goebbels hat eine Menge Klangfantasie entfaltet, um den Zuschauer staunen zu lassen. Was wir hören ist ebenfalls selbstständig, erklärt nichts und zwingt uns zu nichts. Das Publikum nimmt die drei Ebenen wahr und beginnt genauso selbstständig seinen Gedanken nachzugehen. Anregungen bekommt es genug. Auch der Geist hat Handlungsfreiheit.

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Auftakt beim Berliner Musikfest

Musik-Anthropologie

„A House of Call“ von Heiner Goebbels eröffnet das Musikfest Berlin und das Mahler Chamber Orchestra gastiert mit dem Komponisten George Benjamin am Pult

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 2. September 2021) „Eigentümliche Stimmen, traditionelles volkstümliches Material, Rituale, Literatur“, das ist es, was nach Heiner Goebbels immer wieder aus den Orchesterfluten seines neuen Werks herausklingt. Exotische Lieder, aber von einer verkratzten Walze und ganz verloren wie aus weiter Ferne. Ansagen forscher Forscher. „Schläft ein Lied in allen Dingen,“ vorgetragen von der alten Mutter des Komponisten. Strandgut eines Musikerlebens.

Aber Heiner Goebbels war eben nie nur Musiker. Er hat ja auch in Frankfurt Soziologie studiert und ist dort mit dem Linksradikalen Blasorchester auf den Demos durch die Straßen gelaufen. Sein Ort war die Batschkapp, nicht die Alte Oper. Er interessierte sich für HipHop, nicht für serielle Musik. Mit dem Saxophonisten Alfred Harth entwickelte er Stücke, die vom Jazz ausgingen, aber über gesampelte Fundstücke in Richtung szenischer Musik gingen. Eine Oper oder Sinfonie hat er nie geschrieben, aber über seine oft collagenartigen Stücke – oft auch Hörstücke auf Texte von Heiner Müller – hat er zu einer eigenen, neuen Form instrumentalen Theaters gefunden.

Das Ensemble Modern ist Goebbels dabei seit mehr als drei Jahrzehnten ein treuer Partner. Aber auch das Frankfurter Spezialensemble in Selbstverwaltung hat sich entwickelt. Bei dieser Uraufführung tritt es als Ensemble Modern Orchestra auf – eine Riesenformation mit allein sechs Schlagzeugern. Aber auch an diesem Abend nicht mit den üblichen Konzertritualen: Der Dirigent steht rechts am Rand, die Streicher vor sich am Podiumsrand, die Bläser im Halbkreis darum herum. Vimbayi Kaziboni hat viel zu tun, federnd und flott gibt er den Takt vor – aber anfeuern oder gar treiben muss der die Musiker nicht. Auch wenn die Streicher erst allmählich eintrudeln, während die Bläser schon mit dem ersten der fünfzehn Stücke angefangen haben und das Saallicht noch an ist, täuscht die Lässigkeit. Wenn sie erst mal spielen, dann mit Feuer.

Dieses erste Stück ist eine Antwort auf „Répons“ von Pierre Boulez aus dem Jahr 1981, wie Goebbels sie mit seiner Band Cassiber 1982 gegeben hatte, nur für das große Sinfonieorchester ausgebaut. Nicht weil Boulez nun zum Lieblingskomponisten von Goebbels avanciert wäre, sondern weil er in diesem gewaltigen Stück Fragen und Antworten sich entwickeln ließ, weil er Individuum und Gesellschaft konfrontierte, weil er seine erregten Klangkaskaden durch den Raum fließen ließ. Goebbels wirft dazu noch den Turbo an und lässt in rasanter Bewegung die Instrumentalgruppen sich die Pointen zuwerfen – auch dazu hilft die besondere Aufstellung der Musiker.

Und dann ist da auch schon Sisyphos, der „immer den gleichen Stein“ hochwälzen muss, mit der Stimme Heiner Müllers – schwankende Gestalt, da naht sie wieder. Harte Schläge weichen wippenden Rhythmen. Autohupen und Gewitterwellen deuten die Berliner Baustelle von „Under Construction“ von 2019 an, das auf einer Liveaufnahme aufbaut, bis schließlich die Musik erstarrt und in den zweiten Abschnitt „Il Grain de la Voix“ übergeht. Er besteht aus vier Sätzen, aus denen sich jeweils die Aufnahme einer exotischen Stimme herausmüht: Georgische, persische, armenische. Leider faselt das Programmheft nur von „Spuren tragischer Biographien“, statt die Sache beim Namen zu nennen. Der Georgier wurde 1916 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager aufgenommen, die armenischen Gesänge von 1914 erinnern an den Völkermord. Der Sänger des Volkslieds „Krunk“, Armenak Shahmuradian, ist heute vergessen, nur die alte Aufnahme erinnert an ihn – und Heiner Goebbels schreint sie ein in sein akustisches Tagebuch. Die irritierende Wirkung tritt auch ein, wenn man nicht weiß, was für eine Aufnahme da gerade vorgespielt wird: Die Erinnerung an die Verbrechen wird weggespült vom Betrieb der Gegenwart.

Auch das Orchester bekommt hier einen exotischen Einschlag, Cymbalklänge färben diesen langsamen Teil, schwere Ketten rumpeln darüber und löschen die vergessenen Stimmen ein zweites Mal aus. In der Mitte bilden Geigen und Bratschen bei gelöschten Pultleuchten ein schwarzes Loch, Harfe und Bassklarinette liefern sich ein Duett. Im dritten Abschnitt „Wax and Violence“ wird das Schleifgeräusch der Wachswalzen, die herrischen Ansage der Forscher, die die „Wilden“ in ihre Trichter singen ließen, und die erzwungene Aufnahme selbst thematisch. Wir hören fröhliche Schulkinder „Nun danket alle Gott“ singen, aber gleichzeitig wissen wir, dass die deutschen Kolonialisten in Namibia an diesen Hereros einen Völkermord verübt haben. Die alten Aufnahmen sind kein rein anthropologisches Dokument, sondern Erinnerungstafeln für ausgelöschte Kulturen. Und doch bricht der Abschnitt mit einem Ausbruch von Energie in fröhliche Anarchie aus.

Von Sprachlosigkeit spricht der vierte und letzte Abschnitt „When Words Gone“. Ein Dialog von 1980 aus dem bedrohten Amazonas-Gebiet wird im Loop abgespielt, während das Orchester vor sich hin flattert. Eichendorffs „Schläft ein Lied in allen Dingen“ weist uns nicht nur noch einmal darauf hin, dass Musik zwar alles sagen, aber nichts verändern kann, sondern die gebrochene Stimme der alten Frau zeigt uns auch, dass Kultur nur in den Menschen lebt und mit ihnen untergeht. Ein griechisches Lied beklagt die Seeleute, die nicht mehr zurückgekehrt sind. Den Schluss bildet der letzte Text, den Samuel Beckett 1983 eingelesen hat: „What When Words Gone“. Die Musik hat zu träumen begonnen, die Tonfolgen werden einfacher, bis sie sich wie in einer Litanei auf einem Ton einpendeln. Die Streicher unterstreichen den Verlust der Sprache bis zum gänzlichen Erlöschen.

Sein Stück „Landschaft mit entfernten Verwandten“ von 2002 hat Heiner Goebbels als Oper bezeichnet – warum sollte man „A House of Call“ nicht eine Sinfonie in vier Sätzen nennen? Wenn Gustav Mahler mit 50 schon drei Weltabschiedssinfonien konzipiert hatte, warum sollte Heiner Goebbels mit 70 nicht einen ebensolchen musikalischen Rückblick formulieren? Das Widerständige ist geblieben, die überbordende musikalische Fantasie auch, aber die Distanz ist stärker geworden, mit der die peinigenden Phänomene betrachtet werden. Der enthusiastische Jubel des Publikums zeigte, dass Goebbels hier wieder ein Meisterwerk gelungen ist.

Sommernachtstraum zum Mitspielen

Am dritten Abend des Musikfestes lud die australische Komponistin Cathy Milliken das Publikum zu einer fingierten Probe und zum Mitspielen ein: „Night Shift – The Rehearsal“. Auf dem Platz fand man eine Tasche mit den nötigen Spielzeug: Zeitungspapier zum Rascheln, Alufolie zum Knistern, eine Eierrassel zum Schütteln, ein LED-Licht in grün, blau, rot oder weiß, eine Karte mit Stift, zwei Steine oder zwei Glöckchen. Wer in den Blocks A und B am Gang saß, fand auch noch einen Gummischlauch zum durch die Luft Schwingen.

Michael Schiefel studierte die Publikumsbeteiligung ein und trug später kauzige Stimmakrobatik (sehr fern von Britten) bei. Helena Rasker spielte die zu spät kommende Diva, die nichts als ihre Arie im Sinn hatte. Und Catherine Larsen-Maguire dirigierte das Ensemble Modern (dessen Gründungsoboisten Milliken war, bevor sie die Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker aufbaute) bei den fünf Szenen, die die Komponistin sich aus Shakespeares Sommernachtstraum ausgesucht hatte. Der Neue Kammerchor Berlin, der in den ersten Reihen Platz gefunden hatte, trug den Elfenreigen (sehr fern von Mendelssohn) und ein Lied auf die Wand vor, von der Zettel so gerne träumt.

Die Menschen in der Philharmonie ließen sich gerne in den Zustand der Kindheit zurückversetzen und spielten engagiert mit. Am traumhaftesten war natürlich die Szene, als all die Fingerleuchten im dunklen Raum erglühten. Dem Ende zu stellte sich jedoch eine gewisse Ernüchterung ein: Es war doch bei einer Probe geblieben, und dabei hätten wir alle gerne den Zauber einer fertigen Komposition erlebt.

Strawinsky mit entfernten Verwandten

Für das Gastspiel des Mahler Chamber Orchestra hatte der Komponist George Benjamin ein schönes, kontrastreiches Programm zusammengestellt, das der Erinnerung an seinen Kollegen Oliver Knussen dienen sollte, mit dem Benjamin eine 40-jährige enge Freundschaft unterhalten hatte und der 2018 mit 66 Jahren gestorben war. Knussen war vor allem mit zwei Kinderopern nach Maurice Sendak bekannt geworden: „Wo die wilden Kerle wohnen“ und „Higgelty Piggelty Pop!“. Am Anfang stand daher die bezaubernde Suite aus der zweiten Oper, bildhaft, theatralisch und märchenhaft, und vor allem klangschön mit hochvirtuoser Instrumentierung.

In „Three Consorts“ folgte Benjamin der Tradition, verehrte Vorgänger zu orchestrieren, in diesem Fall drei Stücke von Henry Purcell – im ersten, „In nomine“, steckte sogar noch Purcells Bearbeitung einer Messe des englischen Renaissance-Komponisten John Tavener. In Sir Georges Lesung war das weder historisch informiert, noch à la Anton Weberns Bearbeitung von Bachs Ricercar, sondern Aneignung an den eigenen Stil. Webern stand allerdings in Strawinskys „Movements“ für Klavier und Orchester im Hintergrund, denn der 76-jährige Russe hatte damals in dem Wiener Komponisten einen Seelenverwandten in karger Raffinesse entdeckt. Die Pianistin Tamara Stefanovich spielte ihren Part mit beherztem Zugriff, konnte sich aber mit Strawinskys Ansicht, dass Musik nichts ausdrücken könne, nicht wirklich zufrieden geben und lieferte ein Klavierstück von Knussen nach, das sich durch eleganten Klangfarbenzauber, aber auch anspruchsvolle Struktur auszeichnet.

Danach dirigierte Benjamin sein neues Concerto for Orchestra, das dem Andenken Oliver Knussens gewidmet ist. Scharfe Schläge auf Metall deuten ein Ritual an, die Musik entwickelt sich aber immer mehr zur Begleitmusik zu seinem Thriller, bis kreisende Messiaen-Vögel zu einem von Pauken und großer Trommel akzentuierten Höhepunkt treiben. Hysterische Zuckungen von Geige und Trompete führen zu einer weiteren, zischenden Klimax, bevor die fesselnde Musik langsam ausschwingt.

Da das Musikfest Berlin in diesem Jahr dem Spätwerk Igor Strawinskys gewidmet ist, folgte als Abschluss dessen Pulcinella-Suite nach dem Ballett von 1920 – damals der Startschuss zum Neoklassizismus. George Benjamin trieb das fabelhafte, international zusammengesetzte Orchester zu einer in jedem Satz überraschend eigenwilligen Darstellung des allbekannten Werkes. Der Jubel nach dem spritzig-sarkastischen Schluss war groß.

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Enescus Œdipe in Berlin

Wer ist stärker als das Schicksal?

George Enescus „Œdipe“ begeistert an der Komischen Oper

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 29. August 2021) Bleierne Wände rechts und links, oben und unten, und hinten auch. Vorne kauert ein weißgekleideter Mann, hinten ein schwarzgekleideter. Rufus Didwiszus hat eine hermetische Bühne gebaut, und auch Eva Desseckers Kostüme machen die Menschen zu Chiffren. Hier gibt es von Anfang an keinen Ausweg, keine Chance. Szenenwechsel finden durch schlagartige Lichtwechsel statt. Fallhöhe hat die Tragödie hier nicht, Überraschungen kann es auch nicht geben. Blut fließt ebenfalls von Anfang an, wenn Jokaste den kleinen Ödipus – mit dem Kopf des großen, der die Szene gebannt verfolgt – auf die Welt bringt. „Der Mensch ist stärker als das Schicksal,“ wird Ödipus später zur Sphinx sagen und sie mit dieser Rätsellösung besiegen. Die Inszenierung des russischen Regisseurs Evgeny Titov aber sagt anscheinend das Gegenteil: Das Schicksal ist unausweichlich und die Schweinerei beginnt schon mit der Geburt.

George Enescu und sein Librettist Edmond Fleg haben sich entschieden, die ganze Geschichte des Ödipus zu erzählen, nicht nur die Tragödie, wie Sophokles sie dargestellt hat. sondern auch die in griechischen Sagen erzählte Vorgeschichte. Auch musikalisch geht die einzige Oper des Fauré-Schülers (uraufgeführt in Paris 1936, aber schon 1922 im wesentlichen abgeschlossen) einen eigenen Weg. Nicht die eherne, lateinische Wucht von Strawinskys Oratorium „Oedipus Rex“ von 1927, sondern eine viel menschlichere musikalische Welt kommt bei Enescu zum Klingen. Das Archaische ist ihm auch wichtig, doch gestaltet er es über alte Modi, wie er sie aus seiner rumänischen Heimat kannte. So findet er zu expressiven Akkorden von großer Farbigkeit, aber auch zu feinen Melodien mit unerwarteten Reibungen.

Und diese einzigartige Partitur wird von Orchester der Komischen Oper auf wunderbare Weise umgesetzt. Fagott, Englischhorn, Flöte, Oboe – man weißt gar nicht, wen man mehr bewundern soll. GMD Ainārs Rubiķis schwelgt in den aufrauschenden Klängen und modelliert mit sicherer Hand die lang ausschwingenden Bögen. Fabelhaft auch der Chor und der Kinderchor der Komischen Oper, die vom zweiten Rang herunter den Saal zum Beben bringen. Die Kargheit der Bühne und die schwer überschaubare Aktion überlassen es der Musik, die Geschichte zu erzählen und die Zuhörer mit Überraschungsmomenten zu beglücken; man hört in Chor und Orchester herrliche Details, die bei größerem optischen Getümmel überhört werden würden.

Ein Elementarereignis ist allerdings der Auftritt des grandiosen Jens Larsen als Teiresias. Wie der blinde Sänger auf die Bühne tappt und sofort die Szene beherrscht, wie dieser große Sängerdarsteller Angst und Schrecken verbreitet und auch den übermütigen Ödipus in die Schranken verweist, ist aufregend. Sängerisch beeindruckt der georgische Bass Shavleg Armasi (der Mann im schwarzen Anzug, eigentlich: Der Wächter) am stärksten; seine edle Stimme verheißt täuschende Sicherheit.

Doch noch stärker sind die drei Mezzosopranistinnen: neben Teiresias die Einzigen, die in dieser Inszenierung klar abgegrenzte Rollen haben und nicht in der grauen Masse der Lemuren untergehen. Karolina Gumos aus dem Ensemble als auch spielerisch eindrucksvolle Jokaste, Susan Zarrabi als mütterlich sorgende Merope und – mit ihrem kurzen Auftritt als Showstopper – als Sphinx der schneidend präsente serbische Mezzo Katarina Bradić. Sie trägt einen weißen Anzug wie Ödipus und auch seine Maske: Die Sphinx ist das Alter Ego von Ödipus!

Dieser Coup ist der Schlüssel zur Inszenierung: Es geht um die Selbsterfahrung. Noch lernt Ödipus nichts aus der Begegnung mit seinem Doppelgänger. Das kommt auch bei Enescu erst im 4. Akt, der nach dem „Ödipus auf Kolonos“ des Sophokles gestaltet ist. Hier kommt der geblendete und gestützte König an der Hand seiner Tochter Antigone am Ende seines Lebens vor Athen an. Die Erinnyen, die ihn bisher gejagt hatten, werden zu den Eumeniden, den „Wohlgesinnten“, und das Grab des Ödipus soll ein segensreicher Ort für die Stadt werden.

Die Musik Enescus wird hier weicher und freundlicher. Hier findet die Aussöhnung des Ödipus mit seinem Schicksal statt; der Tod erlaubt ihm endlich, ganz loszulassen. Leider ist der Auftritt der Eumeniden und der Athener mit ihrem König Theseus ebenso gestrichen wie der des scheinheiligen Kreon, der das Grab des Ödipus für Theben nutzbar machen möchte. So richten sich die zornigen Worte des Ödipus gegen Kreon nur an die graue Bleiwand. Klar wird nun aber die Absicht des Regisseurs: Ausweg aus dem Schicksal gibt es keinen, aber wenn der Mensch sich ihm stellt, wird er stärker.

Das Regieteam hat das Werk um 45 Minuten gekürzt, um ein pausenloses Drama zeigen zu können. Hans Neuenfels hat 2013 in Frankfurt gleich den ganzen 4. Akt gestrichen, weil ihm nicht nach Versöhnung war. Vollständig war „Œdipe“ vor dreißig Jahren in der Regie von Götz Friedrich und im Bühnenbild von Gottfried Pilz an der Deutschen Oper Berlin zu sehen, dirigiert von dem Enescu-Pionier Lawrence Foster. Auch in Altenburg-Gera kam 2018 das vollständige Werk eindrucksvoll auf die Bühne.

An der Komischen Oper dreht sich die Schlussszene also nur noch um den Protagonisten, den der britische Gast Leigh Melrose mit großer Verausgabung singt und spielt – noch in guter Erinnerung von der Uraufführung von Kurtágs „Endspiel“, und in Amsterdam verkörperte er in Rudi Stephans „Die ersten Menschen“ gerade auf grandiose Weise den Kajin. So alleingelassen, wirkt sein Schluss-Solo freilich auch ein wenig eitel. Das ist aber nur ein kleiner Einwand gegenüber einer in sich stimmigen Aufführung, die vom Publikum mit stürmischem Applaus gefeiert wurde.

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Beethoven Remixed in Berlin

Beethoven Remixed

Die Berliner Philharmonie startet mit einem kühnen Projekt in die neue Spielzeit – verschiedene Ensembles nutzen
Beethoven als Material für neuartige Musikerfahrungen

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 21. August 2021) Als der Gitarrist die Hymne an die Freude in der Art anstimmt, in der Jimmy Hendrix mit der amerikanischen Hymne umgegangen war, lacht meine Nachbarin auf – die Anspielung dürfte nicht jeder der jungen Leute im Saal verstanden haben, aber die bekannte Melodie auf einer E-Gitarre, das gefällt ihnen schon. Das Publikum ist sehr gemischt und geht durch alle Altersklassen an diesem Konzertabend, dem Auftakt zur „Welcome Back Week“ der Philharmonie.

Sitzen darf das Publikum ohne Abstände, aber mit FFP2-Maske, und der Senat erlaubt maximal 2000 Besucher, d.h. der Kammermusiksaal kann voll verkauft werden, während im Großen Saal der Philharmonie 400 Plätze frei bleiben – vorwiegend hinter der Bühne, wo man die schlechteste Sicht hat, denn es gibt ja keinen Stardirigenten. Dazu später mehr. Die Berliner Regeln sind kurios: Das Konzerthaus verkauft nur die Hälfte der Plätze im Schachbrettmuster, ebenso die Komische Oper und die Staatsoper, während die Deutsche Oper alle 1800 Plätze anbietet. Da herrscht eine klare Ost-West-Teilung.

Eingeladen sind zwei Ensembles, die Beethoven als Material für neuartige Musikerfahrungen nutzen. Doch unterschiedlicher könnten sie nicht sein: Einerseits die Jazzrausch Bigband aus München, andererseits das Stegreiforchester aus Berlin. Etliche Klassikfans flüchteten zwar vor der geballten Klangmacht der geölten Musikmaschine einer Techno-Bigband, aber für mich ging dieses Spiel für Berlin und München doch 1:1 aus. Das verbindende Glied war der schwedische Starposaunist Nils Landgren, der bei beiden Formationen wunderbare Soli einbringt.

Die jungen Musiker aus München – mit dem markanten schwarzen Strich übers rechte Auge – bestritten den zweiten Konzertteil mit einer Beethoven-Übermalung. Sie stehen ordentlich hinter ihren Pulten, die auch der Lichtshow dienen. Hervorgegangen ist die Band 2015 aus dem Elektro Club Harry Klein, und sie hat sich rasch auf die ganz großen Bühnen hochgespielt. Und jetzt eben in die Philharmonie, wo das Publikum nicht ganz so jung ist und wo man nicht tanzen kann. Das Programm ist aber zum Zuhören gemacht, etwa wenn die Musiker durch das Allegretto von Beethovens Siebter rauschen. Davon bleibt vor allem der Groove übrig, während sich die ausgezeichneten Musiker in Improvisationen über das Material hermachen. Für ihre begeisternden Soli werden sie gefeiert – Zwischenapplaus in einem Beethoven-Satz!

Der Arrangeur, der das hergerichtet hat, wendet seine Beethoven-Lektionen aber auch mit Selbstgemachten („Beethoven hat ja immer sein Ding gemacht, deshalb habe ich jetzt auch mein Ding gemacht und eine Sonate geschrieben“). Die Sonatenform ist ja geduldig (siehe Beethoven), und so gelingt Leonhard Kuhn mit seiner halbstündigen f-Moll-Sonate ein spannender Wurf, der keine Langeweile aufkommen lässt. Das Scherzo steht wie in Beethovens Neunter an der zweiten Stelle, folglich ist der Viersätzer menschenfreundlich und nicht demagogisch. Diese Musik will nirgendwo hin, sondern rotiert in hoher Frequenz auf der Stelle. Viel Jubel über jedes Solo und Standing Ovations am Ende.

Einen ganz anderen Weg sind die jungen Berliner gegangen. Das Stegreiforchester spielt ohne Noten und lässt die Improvisationskunst wieder aufleben, die den klassischen Musikern im 20. Jahrhundert abhanden gekommen ist. Die jungen Musiker stehen barfuß auf dem Podium, damit sie durch das Holz den Puls fühlen. Auch sie sind alle Solisten, aber bei ihrem Remix von Beethovens Neunter sind sie nicht so stark auf Solos fixiert wie die Münchner Kollegen. Obwohl die starke Trompeterin, der elegante Geiger, die virtuose Fagottistin dem Ganzen viel Würze geben. Die Arrangements stammen von Uri Caine, Juri di Marco, Alistair Duncan und Bertram Burkert und haben Pfiff. Toll, wie der Nebel des Chaos in den ersten Satz führt, aus dem dann auf einmal auch balkanische Banda-Energie springt – durch Beethoven wollen sie europäische Kulturen verbinden.

Von Beethovens Sätzen bleiben immer nur Episoden, von denen Ausflüge in andere Gefilde unternommen werden. Am raffiniertesten im Scherzo, dessen jagender Rhythmus dreimal unterschiedlich aufgenommen wird, mal entspannt, mal gehetzt von der technischen Wut. Im Adagio bläst Nils Landgren über dem Groove von sausenden 32-steln ein wunderbar lyrisches Posaunensolo. Im Freuden-Finale bleibt keiner der Ohrwürmer aus, auch der himmlische Vater strahlt und funkelt prächtig. Für das Motto „Alle Menschen werden Brüder“ haben sie sich sogar etwas Besonderes ausgedacht: Hier darf jeder, selbst der Bratscher, nach vorne treten und sich für fünf Minuten im Spotlight des Pultstars suhlen und berühmt sein. Nach dem – interessant interpretierten – Endspurt springt das Publikum auf zu großem Jubel und einer stehenden Ovation.

Keine Zugabe – die gibt es am Ende des 2. Teils, als die Stegreifler zu den Bigbandlern auf die Bühne kommen und nochmal gemeinsam über die Ode an die Freude improvisieren. Da flirtet der Stegreif-Geiger mit der Bigband Trompeterin, und alle musizieren sich in eine entspannt-gespannte Begeisterung hinein. Zwei Stunden guter Musik, gelungener Spielzeitbeginn auf neuen Pfaden.

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Dt. Erstaufführung in der Ucker Oper: Dein ist das Reich von Jonas Forssell

Flüchtlingsoper im Franziskanerkloster

Die neu gegründete Ucker Oper in Angermünde präsentiert in ihrer ersten Produktion die deutsche Erstaufführung der Oper „Dein ist das Reich“ des zeitgenössischen schwedischen Komponisten Jonas Forssell

Von Bernd Feuchtner

(Angermünde, 31. Juli 2021) Wo gerade noch die Nonnen so schön Choral gesungen und in Eintracht zusammen gearbeitet haben, ist plötzlich der Teufel los: Menschen wuseln über die Treppen, werden verscheucht und versuchen sich zu verbergen. Eine Flüchtlingsfamilie ist ins Kloster eingedrungen. Der Mann wurde in Chile aus politischen Gründen ermordet, der Sohn wurde gefoltert, die Tochter hat zwei kleine Kinder. Jetzt sollen alle fünf ausgewiesen werden und deshalb suchen sie im Kloster nach Asyl. Die Nonnen versuchen zu helfen.

Vor dreißig Jahren wurde die Oper „Dein ist das Reich“ von Jonas Forssell in der Vadstena-Akademie uraufgeführt. Doch das Thema ist heute in Deutschland so aktuell wie damals in Schweden. Vor dreißig Jahren schrieb das Opernmagazin Orpheus: „Man kann nur hoffen, dass sich ein Haus in Deutschland bald zum Nachspielen dieses wichtigen Stückes entschließen möge.“ Doch erst die neugegründete Ucker-Oper hat diese schwedische Oper für ihre erste Produktion ausgewählt. Die Sopranistin Birgitta Rydholm, in Braunschweig in Le nozze di Figaro oder Die verkaufte Braut zu erleben, hat sich mit dem Opernregisseur Holger Müller-Brandes zusammengetan, um der Uckermark einen neuen kulturellen Anschub zu geben. Die ausverkaufte Premiere in der ehemaligen Franziskanerkirche jedenfalls wurde ein voller Erfolg.

Die Ausbreitung der Bettelorden im 13. Jahrhundert war rasend schnell verlaufen: Nachdem sie 1212 in der Toskana ihr erstes Kloster gegründet hatten, erreichten die Franziskaner 1225 Lübeck und Bremen und 1250 waren sie auch schon in Angermünde. Ihre kleine Kirche bildet heute das Seitenschiff der großen gotischen Franziskanerkirche. Allerdings wurde das Kloster mit dem Einzug der Reformation in Brandenburg abgebrochen und die Kirche allerlei anderen Zwecken gewidmet; in der DDR war der Bau zuletzt eine Lastwagenwerkstatt. Die Kreuzrippengewölbe waren längst eingestürzt, eine hölzerne Notdecke verbirgt den Dachstuhl. Das von der Geschichte gezeichnete Gebäude bildete nun selbst ein perfektes Bühnenbild. Nur eine gewaltige Treppe auf den Lettner hinauf, gebaut von den Uckermärkischen Werkstätten, musste hinzugefügt und mit einer goldenen Marienstatue gekrönt werden. Etliche weitere regionale Partner sichern das neue Unternehmen ab, so auch die Uckermärkischen Bühnen Schwedt.

Acht Instrumentalisten braucht Jonas Forssell, der der Premiere beiwohnte, für seine Klosteroper. Die Musiker, vom Preußischen Kammerorchester Prenzlau, sitzen im Seitenschiff: neben Geige, Cello und Keyboard fünf Bläser. Jürgen Bruns, ihr Musikchef, geleitet sie sicher durch Forssells Partitur, die abstrakte musikalische Bilder unterschiedlicher Art erzeugt, aber weder die Handlung illustriert noch die Sänger stützt. Das macht es nicht einfach, die Darsteller und die Instrumentalisten immer zusammenhalten, aber es gelingt fabelhaft. Forssell liebt polytonale Klänge und gibt den Musikern bisweilen auch aleatorische Freiheiten, aber die Reibungen ergeben interessante Farben und tragen zur Entwicklung der dramatischen Spannung bei. Jeder der Instrumentalisten kann auch mit Soli auf sich aufmerksam machen – der Abend ist allein musikalisch schon interessant genug.

Besonders schön harmonieren die fünf bestens besetzten Frauenstimmen der Nonnen, wenn sie im abgetrennten Chorraum ihren Gebeten nachgehen. Die fein ausgehörten Dissonanzen verzaubern auch ein Publikum, das nicht auf modernistische Musik geeicht ist. Brigitta Rydholm, die auch das Libretto ins Deutsche übersetzt hat, singt die Schwester Beatrice mit sanftem Ton, bald mit Nachdruck, um Ordnung das richtungslose Reagieren ihrer Mitschwestern zu bringen. Schließlich bekommt auch Mutter Helena mit, dass mit ihren Schwestern etwas nicht stimmt: Regina Jakobi weiß sich auch stimmlich durchzusetzen. Anfangs teilen sich die Nonnen im Parlando mit, doch je mehr sie von Leidenschaft durchpulst werden, desto ausgreifender werden auch ihre Gesangslinien. Die junge Schwester Anna (sehr berührend dargestellt und gesungen von Laura Albert) trifft die Leidenschaft besonders: Marcos hat sich in sie verliebt und sie erwidert seine Gefühle, was in einen leidenschaftlichen Kuss unter den Augen der Madonna mündet.

Doch nicht Anna wird das Kloster verlassen, sondern die Novizin Elisabeth (sehr intensiv: Clara Maria Kastenholz): Sie hat mit dem Flüchtlingsmädchen Maria die Kleider getauscht und fühlt sich plötzlich ungewohnt frei. Maria wiederum (verkörpert von Paulina Woijtowicz), die nur mal gefahrlos an die frische Luft wollte, findet im Habit zu ihrer Berufung. Die etwas reifere Schwester Kristin (Tina Schütze) ist die Pragmatikerin im Konvent und sorgt dafür, dass die tägliche Arbeit nicht vergessen wird.

Die Männer kommen weniger gut weg. Da ist der Gärtner, mit Humor charakterisiert von dem Bassisten Ingo Witzke, der sich nur noch wundern kann über die Veränderungen, die im Kloster stattfinden, dann aber gutmütig Spielzeug einkauft für den Kleinen. Vater Georg, Beichtvater der Nonnen, hingegen paktiert mit der Macht. Er sollte bei der Ausländerbehörde herausfinden, wie die Ausweisung aufgehoben werden könnte, verrät die Flüchtigen aber an die Polizei – „Ich habe mich der Wahrheit verpflichtet“, singt Tenor Stephan Kelm scheinheilig.

Der junge Bariton Shokri Francis Raoof beherrscht weitgehend den ersten Teil vor der Pause mit seiner quirligen Verkörperung eines verzweifelten Flüchtenden, der sich aber rasch an das Zusammenleben mit den Nonnen gewöhnt, auch wenn er dafür viele hohe Treppen hinauf- und hinuntereilen muss. Forssell, der sein eigener Librettist war, hat das ernste Thema durch lustige Details aufgelockert: Er hat sein Stück ja auch Opera buffa genannt. Aus der lustigsten Verwicklung im zweiten Teil entspringt plötzlich das Glück. Teresa, anfangs verängstigt bis zickig, findet in der Debatte mit dem Gärtner über die gemeinsame Leidenschaft für Küchenkräuter zu einer neuen Liebe, die Vater Georg dann auch widerwillig segnet. Diesen Übergang meistert die Sopranistin Daniela Strothmann mit Bravour.

Die deutsche Erstaufführung in Angermünde hat das aufmerksame Publikum überzeugt. Der musikalische Zug, den Jürgen Bruns durchhält, und die szenische Sorgfalt, mit der Holger Müller-Brandes das Treiben im Kloster rhythmisiert, haben der Ucker Oper einen einhelligen Erfolg beschert. „Dein ist das Reich“ ist eine anspruchsvolle Oper, die die Zuhörer aber rasch mitnimmt und durch den gesanglichen Schwung dann auch begeistert. Schade, dass das dreißig Jahre lang kein Intendant gemerkt hat.

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Carmen in einer eigenen Fassung bei den Burgfestspielen in Mayen

Stirb zweimal

Ja, auch Burgfestspiele können spannend sein. In Mayen begeistert eine „Carmen“ in reduzierter Fassung.

Von Bernd Feuchtner

(Mayen, 3. Juli 2021) Zärtlich spielt die Gitarre die unsterbliche Melodie des Intermezzos aus der Oper „Carmen“ von Georges Bizet: Carmen und Don José liegen sich endlich knutschend in den Armen. Dann übernimmt die Flöte, wie wir es aus dem Opernhaus kennen. Aber ein Opernorchester hätte keinen Platz im Burghof von Mayen und richtige Opernsänger könnten sich die Burgfestspiele auch gar nicht leisten. Damit die Festspielbesucher Oper live und open air erleben können, wurde eine auf sechs Schauspieler und fünf Musiker reduzierte Fassung erarbeitet. Und gerade sieht alles nach einem Happyend aus.

Zum ersten Mal eine Oper auf der Genovevaburg – Intendant Daniel Ris hat in seiner zu Ende gehenden Intendanz nicht nur diese Neuerung eingeführt, sondern sich beispielsweise für den Ausbau des Jugend- und Volkstheaters stark gemacht. Da er zur Spielzeit 2022/23 ans Theater Senftenberg wechselt, wurde er von den Trägern der Festspiele vor Beginn der Vorstellung im Burghof mit Lob überhäuft.

Auch die „Carmen“ ist ein Erfolg. Obwohl es am Ende vier Tote gibt. Vier Tote? Ja, für eine solche Fassung muss man die Handlung schon leicht modifizieren. Alle Chorszenen fallen weg, die Soldaten und Schmuggler sind gestrichen. Am Schluss kann es nicht die Fallhöhe vom volksfestartigen Stierkampf zum einsamen Tod Carmens geben. Aber Daniel Ris hat sich dafür einen anderen Überraschungseffekt ausgedacht.

Überhaupt hat man sich Gedanken gemacht. Da man auf Deutsch singt und spielt, stellt sich die Frage, wie man mit dem Z-Wort umgeht. Carmen – von Wiebke Isabella Neulist hinreißend und facettenreich interpretiert – wird von Zuniga (Georg Lorenz) als Zigeunerin diskriminiert. Carmen selbst bezeichnet sich als Romni. Und fällt in der Habanera vom Deutschen bald ins originale Französisch, bald ins Englische. Und wenn es sein muss, singt und spricht sie eben auch Romanes. Das wirkt alles unverkrampft und souverän.

Florentine Beyer als Micaëla ist als Carmens Gegenspielerin keine Piepsmaus vom Lande, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die sich weder von übergriffigen Soldaten noch von Carmen einschüchtern lässt. Bizets süße Melodien singt sie mit einem leichten Musical-Einschlag und lässt sie doch in ihrer Substanz intakt. Überhaupt muss man Marty Jabaras Musikfassung loben, die das Wesen der Opernmusik auch in der Reduktion erhält. Er selbst leitet die Musiker auf dem überdachten Musikbalkon vom Keyboard aus, während neben ihm Peter Hansen für Rhythmus und Schlagzeugeffekte zuständig ist. Zwischen beiden steht Alexander Felder, der mit der analogen Gitarre noch viel sympathischer wirkt als mit der E-Gitarre, die dem Stück ja den andalusischen Ton beimischen soll. Oben auf dem Wehrgang stehen noch der Geiger (Jaroslaw Menzinsky) und der Holzbläser – Wolfgang Klüfer wechselt je nach Bedarf zwischen Flöte und Klarinette. Und das Ergebnis ist ein cooler, abwechslungsreicher Sound.

„Draußen am Wald von Sevilla, bei meinem Freund Lillas Pastia“ – dort schürzt sich der dramatische Knoten: Der gerade aus dem Knast entlassene Don José muss sich erst gegen seinen Vorgesetzten Zuniga und dann gegen den Aufschneider Escamillo, aber auch gegen den schrägen Wirt durchsetzen. In den dramatischen Duetten überzeugt Andreas Schneiders José stärker als in den Solo-Arien, die dann doch etwas zu musicalsoft erscheinen. In seiner Verkörperung des Wirts Lillas Pastia schrammt Merten Schroedter haarscharf an der Knallcharge vorbei, das aber virtuos und publikumswirksam. Gabriele Kortmann hat ihm dafür ein Kostüm verpasst, das mit Genderrollen spielt, ohne explizit zu werden.

Steven Koop hat eine praktikable Bühne erstellt, die bei allem mitspielt – viel braucht es ja nicht für gutes Theater. Einen besonderen Effekt setzt das Team in der zweiten Hälfte ein (die vier Akte werden ohne Pause gespielt): Da öffnet sich das Burgtor und gibt den Blick frei über die Giebel der Stadt. Und herein kommt Carmens Ehemann. Den hat Ris aus der Novelle von Prosper Merimée, die Bizet als Vorlage gedient hat. Und wie bei Merimée endet der Kampf zwischen Ehemann und Liebhaber mit dem Tod des ersteren (gespielt wieder von Georg Lorenz, der auch als Zuniga bereits durch Don Josés allzu rasche Hand verschieden war).

Durch das Burgtor dringen die Rufe des Volkes an unser Ohr, als die Corrida beginnt und der schnittige Escamillo erscheint. In seinem blütenweißen, spitzenbesetzten Kostüm ist er der Hingucker der Aufführung. Jan Nicolas Bastel, ausgebildet an der Akademie des Tanzes in Mannheim und im Musicalstudiengang der Folkwangschule Essen, singt und tanzt so temperamentvoll, dass er vom Publikum den stärksten Beifall erhält. Bastel hat auch die Tänze der übrigen Darsteller einfallsreich und dynamisch choreographiert, was der Aufführungen einen zusätzlichen Schub verschafft. Umso größer die Überraschung, als während des Showdowns zwischen Carmen und Don José – statt des Jubels über Escamillos Triumpf, den der Chor sonst in der Arena besingt – plötzlich der tote Torero über die Bühne getragen wird: Diesmal hat der Stier gesiegt.

Nett für den Stier, aber schrecklich für Carmen. Der Tod ihres Liebhabers bestärkt sie in ihrem Fatalismus und sie rennt blindlings in Don Josés Messer. Ihr Ende ist so tragisch einsam wie in der Oper. Die Mayener Fassung folgt geschickt den psychologischen Fäden der Handlung und drückt doch das Wesentliche durch Bizets Musik aus, die in diesem Arrangement weniger die Köpfe vernebelt als bisweilen im Opernhaus, wenn das Kulinarische siegt. Die letzten zwanzig Minuten müssen die Darsteller im strömenden Regen spielen, aber sie lassen sich nichts anmerken. Ihr Durchhalten bestärkt sogar noch die Begeisterung und den Beifall des Publikums, das unter seinen Regencapes ja trocken geblieben ist. Ein rundum lohnender Abend, fanden wir. Noch zu sehen bis zum 27. August.

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Die Nürnberger Oper kombiniert erfolgreich Bartok und Telemann

Nach dem Beischlaf liest Blaubart Zeitung

Telemann und Bartók: Die erste Nürnberger Premiere nach dem Lockdown bringt eine spannende Kombination aus „Herzog Blaubart“ und „Pimpinone“

Von Bernd Feuchtner

(9. Juni 2021) „Herzog Blaubarts Burg“ ohne die notorischen sieben Türen zu spielen ist nicht neu. Der jungen Regisseurin Ilaria Lanzino ist dazu aber etwas durchaus Triftiges eingefallen: So ist die erste und die letzte Tür die gleiche, das blumenbekränzte Portal, durch das Blaubart seine vierte Frau ins Haus gebracht hat. Erinnerungsfotos dekorieren die imaginäre Wand, vor der das Abenteuer seinen Ausgang nimmt. Die Richtung gibt schon der aus dem Off gesprochene Prolog zu erkennen: Statt Béla Balázs‘ männlichem Schauspieler kommt eine Frauenstimme mit dem Gedicht „Morituri“ von Else Lasker-Schüler zu Wort.

„Herzog Blaubarts Burg“, dieses Riesenstück? Natürlich nicht, denn coronabedingt kommt die reduzierte Fassung von Eberhard Kloke zum Einsatz. So sitzen die Musiker mit Abstand im Graben und je zwei Hörner und Posaunen rechts und links in den Proszeniumslogen. Mit bedachter Vehemenz dirigiert Guido Johannes Rumstadt Bartóks Werk. So wirkt der expressionistische Holzschnitt nicht weniger opulent als das prachtvolle Ölgemälde, und dabei sogar zugeschärft und dringlicher.

Mit dem Bariton Jochen Kupfer und der Mezzosopranistin Almerija Delic kann das Nürnberger Staatstheater zwei wunderbare Ensemblemitglieder einsetzen, die sich mit vokalem Glanz einen Ehekrieg von hoher Güte liefern. Wenn das Hochzeitsportal nach oben entschwunden ist, werden zwei identische Schlafzimmer sichtbar: Im linken, freundlichen, hellen agiert Blaubart, im rechten sieht Judith dasselbe in Grau. Da beide ganz normal miteinander agieren, wird klar: Beide sind im gleichen Raum, sie nehmen die Dinge nur anders wahr. Blaubart sieht die Welt durch die rosa Brille, wenn er seine Schätze vorführt. Zu seinem Blick gehört das, was er für Männlichkeit hält. Und ebenso konservativ ist sein Blick auf die Rolle seiner Ehefrau. Das zu entdecken, ist spannend für den Zuschauer.

Jede Tür bedeutet ein Handeln Blaubarts und eine Reaktion Judiths. Wenn er seine Waffen vorzeigt, bedeutet das den ehelichen Beischlaf – danach ist Judith blutig und Blaubart liest Zeitung. Gefühle spielen bei ihm keine Rolle. Das alles ist ja in der Musik und in dem symbolistischen Libretto schon da. Die Regisseurin musste es nur noch zur Darstellung bringen. Delic übertreibt es nicht mit der feministischen Opferklage, sondern erfüllt das hohe Pathos der Partitur. So geht dieser Leidensweg einer Ehefrau dem Publikum unter die Haut.

Bei der fünften Tür fährt die Trennwand nach hinten und verschwindet in der Versenkung. Nun sehen die Beiden das Zimmer des Anderen und agieren nicht mehr mit imaginärem Partner, sondern in direkter Konfrontation: Die Karten liegen auf dem Tisch. Zum strahlenden C-Dur eskaliert der Geschlechterkampf. Blaubarts Stolz auf seinen Herrschaftsbereich tritt in Kontrast zu Judiths Wahrnehmung ihres Gatten als armem Tropf. Die siebte Tür offenbart drei Frauen mit der gleichen Gewalterfahrung. Judith packt ihre Sachen und tritt durch das blumenbekränzte Portal des Anfangs wieder hinaus vor das Publikum – sie ist entkommen, aber alle Fragen sind offen.

Vor die Tragödie hatte das Opernhaus das Satyrspiel gesetzt, wie man früher sagte: Auch Pimpinone ist auf der Suche nach dem perfekten Weib und denkt dabei nur an sich. Georg Philipp Telemanns „Pimpinone“, die Barockversion eines Ehekrieges, zeigt, dass die Menschen früher die gleichen Probleme hatten. Nur konnten sie noch darüber lachen. Bariton Hans Gröning braucht eine Frau – zur Hälfte zur Erfüllung der ehelichen Pflichten, ansonsten zum Bügeln, Kochen und Putzen. Da kommt ihm die Anzeige eines stellungsuchenden Dienstmädchens gerade recht. Andreas Paetzold leitet im hochgefahrenen Graben vom Cembalo aus ein munteres Streichquintett.

Emine Güner hat sich – wie im Blaubart – einiges an witziger Ausstattung einfallen lassen: Das Dienstmädchen ist ein Roboter, der per Bildschirm bei „Amazoom“ bestellt wird. Am Ende der spielfreudig dargestellten Geschichte hat sie sich aber zur modernen Frau entwickelt, die Ansprüche stellt – die Sopranistin Maria Ladurner mutiert dabei von der Zwitschermaschine zur souveränen Sängerdarstellerin. Das Thema ist von „Don Pasquale“ bis „Die schweigsame Frau“ sattsam bekannt, doch Ilaria Lanzino ist für diesen Vorläufer erfrischend Neues eingefallen. Das Publikum – 156 Personen mit Sicherheitsabstand (es hätten auch mehr ins Haus gedurft, sie trauten sich aber offenbar noch nicht) – genossen es sehr, endlich wieder lebendigen Orchesterklang und gekonnten Operngesang zu erleben, und klatschte begeistert.

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Monteverdis Poppea an der Wiener Staatsoper

Immer setzt sich die schlimmere Seite durch

Die Wiener Staatsoper übernimmt Jan Lauwers‘ Salzburger „Incoronazione di Poppea“

Von Bernd Feuchtner

(Wien, 22. Mai 2021) Der Concentus musicus in der Wiener Staatsoper. Dass Harnoncourt das nicht mehr erleben durfte! Sein Zürcher Monteverdi-Zyklus (L’incoronazione du Poppea gab es im Januar 1977 mit Jean-Pierre Ponnelle) hatte die Frühzeit der Gattung Oper vom Staube befreit und in putzmunterer Jugend präsentiert – der Durchbruch des Frühbarock ins Opernrepertoire.

Jetzt in Wien spielen Harnoncourts Musiker unter der Leitung von Pablo Heras-Casado mit so viel Schwung, dass die wechselnden Tänzer der Needcompany, die sich auf einem Podest mitten auf der Bühne fortwährend um die eigene Achse drehen, nicht aufhören zu kreiseln. Und dass auch die übrigen Mitglieder von Jan Lauwers‘ Tanzcompagie in ständiger Bewegung bleiben: in schönster Illustration des irren Laufs der Welt. Vor Jahrzehnten hatte Herbert von Karajan die Oper hier noch unter dem Titel „Die Krönung der Poppäa“ mit den Philharmonikern im satten, edlen Orchesterklang dirigiert. Regisseur Jan Lauwers weiß sich aber offenbar mit dem Dirigenten einig, dass ein informierter Blick zurück zu größerer Aktualität führt.

Für das erste öffentliche Opernhaus von Venedig schrieb Claudio Monteverdi, Kapellmeister am Markusdom, im Jahr 1642 seine Oper „L’incoronazione di Poppea“. Was für eine Entwicklung seit seinem Mantuaner „Orfeo“ von 1607! Freilich hatte er in Giovanni Francesco Busenello einen kongenialen Librettisten, so dass hier wirklich Musik und Text gleich genial sind – ein Theaterstoff, heute so aktuell wie vor 379 Jahren! Der Bühnenboden ist bedeckt mit nackten Leibern aus barocken Gemälden, doch die Menschen darauf tragen entweder Tanztrikots oder die fantastischen Kostüme von Lemm & Barkey. Der rote Mantel der Poppea, den sie nachlässig über den Unterrock zieht, in dem sie Nero verabschiedet, deutet schon auf ihre Ambitionen: Kaiserin werden!

Slávka Zámečníková in der Titelrolle hat genau die richtige Eiseskälte in der Stimme, wenn sie Nero so lange hinhält, bis sie am Karriereziel ist und alle hinderlichen Menschen aus dem Weg geräumt hat. Und sie spielt die Schlange mit Lust! Wenn sie den Philosophen Seneca denunziert, schaltet sie auch die Vernunft aus. Wie hatte Williard White gesungen: „Immer setzt sich die schlimmere Seite durch, wenn Gewalt und Vernunft streiten.“ Der Bassist steht in seinem bizarren Filzmantel wie ein ehrfurchtgebietendes Relikt aus alten Zeiten inmitten des Getümmels fehlgeleiteter Leidenschaften. Und er singt die Rolle von Neros Lehrer in stoischer Ruhe, klaren Linien und mit Haltung.

Xavier Sabatas Ottone steht mit seinem sämigen, männlichen Counter scheinbar ebenfalls auf der Seite der Vernunft. Jedenfalls singt er seine eindrucksvolle Partie mit Wärme und tiefer Empfindung, doch wenn Ottone zwischen Poppea und Drusilla (Vera-Lotte Becker bietet alle Süße ihres Soprans dafür auf und zeigt doch den Wahn der Einsamkeit) wählen soll, verliert er doch den Verstand und lässt sich sogar zu einem Attentat auf Poppea verleiten. Da hat er die Rechnung ohne deren Amme Arnalta gemacht: Tenor Thomas Ebenstein singt ihr gerade im Falsett ein Schlummerlied. Auch für die witzigen Seiten der alten Fregatte hat er die richtigen Töne.

Mit Ottavia, der Kaiserin auf Abruf, würde man sich ja gerne identifizieren, vor allem wenn Christina Bock die wunderbare Arie „Addio, Roma“ singt. Aber Neros erste Gattin ist halt doch ebenfalls ein Machtmensch, der gerne Strippen zieht. Die Mezzosopranistin gibt der scheiternden Frau ein faszinierend doppelbödiges Portrait. Der brillante junge Tenor Daniel Jenz als Ottavias kapriziöse Amme sekundiert ihr mit ebenbürtig subtilem Humor. Im Hintergrund tobt der Kampf aller gegen alle; die Tänzer machen das grandios und nie explizit; Sarah Lutz und Camilo Mejía Cortés ragen heraus.

Zum Jubelfinale versammeln sich noch einmal alle Charaktere auf der Bühne, auch die vorzüglichen Solisten, die wir nicht einzeln erwähnt haben. Danach ziehen sich alle wütend und schmerzerfüllt zurück und lassen das „hohe Paar“ allein. Am Ziel singt Poppea zusammen mit ihrem Nero eines der schönsten Duette der Operngeschichte: Die Bösen haben gesiegt. Kate Lindsay segelt mit Hüftschwung und Drive
durch die Intrigen, immer souverän fies und mit prachtvollem Mezzo. Es war wieder einer jener eingekauften Hits, mit denen der neue Intendant Bogdan Roščić seine erste Spielzeit bestückt. Gut gewählt, muss man sagen, ein intelligenter, hochmusikalischer Abend, der in Erinnerung bleibt.

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Catáns Oper Florencia en el Amazonas erstmals in der Schweiz

Auf dem Fluss der Verwandlungen

Schweizer Erstaufführung von Daniel Catáns magischer Oper „Florencia en el Amazonas“

Von Bernd Feuchtner

(St. Gallen, 8. Mai 2021) Der erste Akt hatte mit einem gewaltigen Sturm geendet, bei dem das Schiff gestrandet und Alvaro über Bord gegangen ist. Da konnte sich das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Pedro Halffter (pandemiebedingt auf der Hinterbühne platziert) in allen Prachtfarben entfalten, die die Partitur des mexikanischen Komponisten Daniel Catán bereithält. Im zweiten Akt sammelt sich die Reisegesellschaft langsam wieder zusammen, die amazonasabwärts unterwegs ist zu dem Auftritt der legendären Diva Florencia Grimaldi im Theater von Manaus. Sie alle wissen nicht, dass Florencia mit an Bord ist und sich danach sehnt, ihren Liebhaber Cristóbal wiederzusehen, einen Schmetterlingsfänger, den sie vor zwanzig Jahren am Amazonas hat sitzen lassen, als sie zu ihrer Weltkarriere aufbrach.

Selbst die Journalistin Rosalba erkennt ihr Idol nicht, obwohl sie ein Buch über die Grimaldi geschrieben hat und hofft, die geheimnisumwitterte Sängerin in Manaus endlich kennenzulernen. Zwischen Rosalba und Arcadio, dem Neffen des Kapitäns, knistert es zwar, aber die beiden liefern sich ein leidenschaftliches Duett darüber, wie man der Liebe entkommen könnte. Die Sopranistin Tatjana Schneider, gehüllt in ein Ganzkörperkondom (Kostüme: Bente Rolandsdotter), spielt die Verklemmte und widerspricht sich doch selbst mit ihrer farbenreichen, warmen Stimme. Arcadio, quicklebendig gesungen und gespielt von dem Tenor Gustavo Quaresma, phantasiert von einem freien Leben in Traumstädten, dem eine Bindung im Weg stehen würde: „Schluss mit der Liebe!“ singen beide voller Emphase.

Paula hingegen, die im ersten Akt mit ihrem Ehemann Alvaro ganz wunderbar ein verzanktes Paar gespielt hatte, dem die Liebe abhandengekommen ist, spürt nach dem Tod Alvaros endlich wieder ihre Zuneigung. „Ich ließ mich vom Stolz besiegen,“ singt die Mezzosopranistin Jennifer Panara klagend. Doch der Flussgeist Riolobo (der wandlungsfähige Bariton Luis Alejandro Orozco), der zwischendurch kellnernd auch mal mit den Reisenden kommuniziert und den Schiffbruch für sie als Katharsis inszeniert hatte, kann Paula trösten, indem er Alvaro aus dem Totenreich zurückführt. Bariton Shea Owens lässt sich im Spiel der bewegten Dialogwellen von den Mitreisenden bestaunen und von seiner Paula in die Arme schließen.

Danach steigt die Energie der Musik noch um weitere Grade, wenn Florencia der neugierigen, aber unwissenden Journalistin Rosalba den Kopf wäscht: Die Sopranistin Katia Pellegrino als Titelfigur liefert sich mit Tatjana Schneider ein spannendes Duett. Rosalba behauptet, die Grimaldi sei eine frei Frau, die den Verlockungen der Liebe niemals nachgegeben habe. „Niemand rettet sich vor der Liebe,“ hält Florencia ihr entgegen und enthüllt, dass nur die Liebe zu Cristóbal ihre Stimme zu dem Wunder reifen ließ, das ihren Weltruhm begründete. Von der Höhe dieser Erkennungsszene stürzt die Musik jäh in die nächste Katastrophe: „Cholera!“ ruft Riolobo und der Kapitän zeigt auf die im Fluss treibenden Särge. Man wird die Diva nicht erleben können.

Florencia ist am Boden zerstört. Doch die Erinnerung an die Liebe zu Cristóbal ist stärker und treibt ihre Schlussarie zu intensiven Sehnsuchtswellen. Der aus der Liebe entsprungene Gesang preist die Natur – den Schlag des Schmetterlingsflügels ebenso wie den Dschungel. Die Projektionen der grünen Amazonaswälder haben jedoch die Farbe gewechselt; jetzt lodern Flammen und es zeigt sich die rotbraune Erde, die bald dem Sojaanbau für die Mast unseres Fleischviehs dienen wird. „No music on a dead planet“ steht auf Florencias T-Shirt.

Der Videokünstler Sebastian Beysen hatte schon zuvor witzige Filmchen gezeigt, in denen die Darsteller im entkernten Theaterbau umherliefen und nach ihren Rollen suchten. Zusammen mit dem Regisseur Krystian Lada hat er das Thema erkannt, das diese wunderbare Oper antreibt: Die Verwandlung, die Metamorphose, die Transformation. Sie beginnen mit einem Vorspann, der an das Schicksal von Maria Callas anknüpfte und die stimmlose Diva in die Psychiatrie verfrachtete (Bühne: Didzis Jaunzens), wo sie den ersten Akt verbringt. Doch ein kluges Konzept ist die eine Sache, dessen Verankerung in den Sängerkörpern die andere. Die Idee, die reale Figur des Kapitäns mit der fiktiven des Schmetterlingsfängers zusammenzulegen und dieser Doppelfigur auch noch die Transformation zur Frau aufzuerlegen – was Florencia vor eine Überraschung gestellt hätte – kam in Sam Taskinens Bühnenfigur nicht recht an. Die wunderbare Bassistin ist zwar eine Transfrau, aber sinnlich erleben konnte das Publikum diese Metamorphose nicht.

Das konnte die Zuschauer freilich nicht davon abhalten, am Ende mit großer Sympathie kräftig zu applaudieren – soweit das den erlaubten fünfzig Menschen möglich war. Sie hatten die Bekanntschaft mit einer großartigen Oper gemacht, die zwischen Richard Strauss und John Adams oszilliert. Der Komponist hat damit Sänger, Instrumentalisten und Publikum beglückt; die erfolgreiche Uraufführung hatte 1996 im texanischen Houston stattgefunden, wo auch eine CD produziert wurde, und 2005 war „Florencia en el Amazonas“ in Heidelberg zum ersten Mal auch außerhalb Amerikas gezeigt worden – mit gleichem Erfolg. Die Inszenierung, die die Emotionen der Bühnengestalten auch ohne Amazonasdampfer deutlich werden ließ, hatte auch das Schweizer Publikum offensichtlich mit in den Strudel dieser Klang- und Gefühlssensationen gezogen und bis zum Sehnsuchtsschluss nicht wieder aus dem Griff der Spannung entlassen.

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Buch über Weinbergs Oper Die Passagierin

Der Lieblingswalzer des Lager-Kommandanten

Ludwig Steinbachs Monographie über Mieczysław Weinbergs fantastische Oper „Die Passagierin“ enthüllt die Identität der darin vorkommenden KZ-Aufseherin von Auschwitz

Von Bernd Feuchtner

Bei den ersten Aufführungen der Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg in Bregenz und Karlsruhe begeisterte sich der Journalist Ludwig Steinbach so sehr, dass er eine Monographie über diese großartige Oper schrieb. Und die fand so viele Leser, dass sie jetzt in 2. Auflage erscheint. Im Vorwort zur Neuausgabe beschreibt Steinbach kurz die weiteren Produktionen, die er in Frankfurt, Gelsenkirchen und Braunschweig gesehen hat. Brisant ist aber ein neuer Essay am Ende des Buches. Steinbach hat sich nämlich auf die Suche gemacht nach Lisa Franz, die ehemalige KZ-Aufseherin im NS-Vernichtungslager Auschwitz, um deren zwiespältige Rolle gegenüber ihrer Gefangenen Martha es in der Oper geht. Dass es die Gefangene wirklich gab, wissen wir: es war Zofia Posmysz, die Autorin der Romanvorlage, die 1968 erschienen war. Dimitri Schostakowitsch hatte das Buch gelesen und seinem Freund Weinberg als Opernstoff vorgeschlagen.

Steinbachs Buch empfiehlt sich weiterhin vor allem durch seinen Hauptteil, in dem er die Musik der Oper detailliert aufschlüsselt, Erinnerungsmotive bezeichnet und benennt und mit vielen Notenbeispielen deren Verlauf und die weitere Entwicklung der Musik verfolgt. Denn das ist mit jeder Aufführung ja immer deutlicher geworden: „Die Passagierin“ ist ein musikalisches Meisterwerk, das von einer klug gestalteten Musik getragen wird, die der Geschichte der KZ-Aufseherin und ihres Opfers und auch der übrigen Figuren auf emotional äußerst eindringliche Weise nachgeht. Da der Originaltext russisch ist, entschied sich die Karlsruher Fassung, jede Gefangene in ihrer eigenen Sprache singen zu lassen: polnisch, jiddisch, französisch, russisch. Und die Unterdrücker singen deutsch, auch das erfundene Ehepaar, mit dem die Oper beginnt: Lisa und ihr Mann, der neue westdeutsche Botschafter in Brasilien, glauben auf der Schiffsreise ihrer Vergangenheit zu entrinnen, doch eine Passagierin bringt Lisa so aus der Fassung, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Es gibt in dieser Oper ganz offensichtliche Motive wie das der schwarzen Todeswand, des Lieblingswalzers des Lager-Kommandanten oder auch die Bach-Chaconne, die Tadeusz spielt, als der die SS mit dem Walzer unterhalten soll. Wer sich mit dieser Oper beschäftigt hat, weiß, wie genau sie konstruiert ist. Aber Steinbach weist nach, wie tiefgründig Weinberg auch das Verdrängen und Verheimlichen, die Albträume und Höllen der Verdränger und die bedrängende Gegenwart ihrer Opfer musikalisch symbolisiert hat. Die Musik nimmt das Trauma der Täter genauso ernst wie das Schicksal der Opfer, und weil sie die KZ-Aufseherin als Mensch wahrnimmt statt bloß als Bestie, hatte „Die Passagierin“ keine Chance, in Russland aufgeführt zu werden. Das Leiden der Opfer gestaltet sie sowieso aufrüttelnd, etwa im „Massenmordmotiv“ – man mag Steinbachs Konkretismus nicht immer folgen wollen, aber die Musik so detailliert erzählt zu bekommen, ist äußerst spannend.

Zofia Posmysz verdankt der deutschen SS-Frau vielleicht sogar ihr Leben, denn diese bot dem jungen polnischen Mädchen den Posten der Küchenbuchhalterin an. Sie half ihr auch manchmal mit kleinen freundschaftlichen Hinweisen. Auch diese Anneliese Franz hat es tatsächlich gegeben. Doch was wurde aus ihr? Zur Rechenschaft wurde sie jedenfalls nicht gezogen, ein Haftbefehl im Vorfeld der Frankfurter Auschwitz-Prozesse konnte 1960 nicht vollzogen werden. Steinbach klärte zunächst die bürgerliche Identität dieser Frau. Ernst Klee war ihr schon in seinem Buch „Auschwitz – Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde“ von 2013 auf die Spur gekommen.

Geboren wurde sie am 28. Dezember 1913 in Görlitz und zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth wurde sie ab Frühjahr 1943 in Auschwitz als Aufseherin eingesetzt. Der NSDAP war sie 1941 beigetreten. Sie war stämmig und etwa 1,60 m groß, wog rund 65 kg, hatte rötliche Gesichtsfarbe, blonde Haare, blaue Augen nach dem einem Zeugen, wog ca. 60 kg und hatte braune Augen und braune Haare nach einem anderen Zeugen. Steinbach versucht aber nicht nur den Fakten, sondern auch der Persönlichkeit der Anneliese Franz näherzukommen. Dabei kann er sich auf mehrere Äußerungen von Zofia Posmysz am Rande von Opernpremieren und auch auf ein eigenes Interview stützen.

Nach dem Ende der Vergasungen in Auschwitz wurde Franz nach Mühldorf-Mettenheim versetzt, einem Außenlager von Dachau, und bot Posmysz an, sie zu begleiten. Die Polin blieb aber lieber in der Nähe ihrer Heimatstadt Krakau. In Mettenheim befreundete sich Franz mit einem verheirateten, ziemlich üblen Nazi, der 1945 von den Amerikanern zu 25 Jahren Haft verurteilt, aber schon nach 10 Jahren entlassen wurde. Anneliese Franz meldete sich 1946 in Holtum bei Werl an und holte ihre Eltern zu sich. 1948 bekam sie eine Tochter, deren Vater unklar ist, und zog mit ihr und ihrem neuen Ehemann 1953 nach Freienohl im Kreis Arnsberg. Durch den neuen Familiennamen Kerstholt war die Spur zu ihrer Vergangenheit verwischt. Zwar bekamen beide im März 1956 auch noch einen Sohn, doch bereits am 29. August verstarb die ehemaligen KZ-Aufseherin in Arnsberg an Bluthochdruck, Gehirnblutung und Nephrosklerose. Sie wurde also nicht einmal 43 Jahre alt.

Ludwig Steinbach: Weinbergs „Passagierin“. Eine Analyse der Auschwitz-Oper. Verlagshaus Schlosser, Kirchheim 2015

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Rattle dirigiert Jenufa an der Staatsoper Berlin

Aus einem Frauenhaus

Die Staatsoper Unter den Linden versammelt ein fabelhaftes Ensemble für „Jenůfa“, Simon Rattle dirigiert mit glühender Intensität

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 13. Februar 2021) Dem Zauber und der Wucht dieser „Jenůfa“ kann man sich schwer entziehen. Von Anfang an spürt man die Last, die auf allen Figuren liegt. Alle paar Momente explodiert sie in einer von ihnen, und doch glänzt aus den Menschen immer wieder ihre Liebesbedürftigkeit hervor: Etwa wenn Jenůfa erst von der Schande singt, die ihr das Seelenheil rauben werde und dann zu Maria fleht, sie möge ihr das ersparen. Camilla Nylunds Stimme leuchtet dann so innig, dass man das innere Feuer spürt, das ihre Lebensenergie antreibt. Dieses innere Feuer zeichnet alle Figuren in diesem Frauenhaushalt aus, doch nutzbar machen können sie es nicht mehr. Die alte Buryja nicht, der die großartige Hanna Schwarz eine tiefgründige, aber dezente Verstörung mitgibt, die verhärmte Küsterin nicht, als die sich Evelyn Herlitzius immer mehr ins Zentrum der Aufführung singt, und auch die Männer nicht, die um dieses Frauenhaus herum irrlichtern.

Alle drängen nach klaren Verhältnissen und Respektabilität, doch schon die Verwandtschaftsverhältnisse sind so undurchsichtig, dass sie die Realität des Bauernlebens spiegeln, der Janáček seine Oper gewidmet hat. Der Druck der Kirche und die Kontrolle der Nachbarn haben die Menschen seelisch verkrüppelt. Zuerst wird das sichtbar an Laca, dem Müllersohn aus erster Ehe, der sich behandelt fühlt wie ein Knecht. Und deshalb verhält er sich auch wie ein Knecht. Stuart Skelton singt den Leidenston so intensiv heraus, dass er unter die Haut geht, und er spielt diese auch durch die unglückliche Liebe zu Jenůfa gequälte Natur mit solcher Selbstverachtung, dass wir sofort verstehen. Überhaupt drücken Carla Tetis so unvorteilhafte Kostüme allen Sängern das Kainsmal des Verworfenen auf.

Selbst der eitle Steva, Jenufas verwöhnter Liebhaber, offenbart in Ladislav Elgrs ausdrucksstarkem Tenor nur das Leiden einer verkorksten Existenz. Das Gegenbild liefern Jan Martiník als Altgesell und David Oštrek als Richter, die mit schönem Einsatz die Routiniers des Elends geben. Die junge Sopranistin Evelin Novak als Richterstochter Karolka spielt kurz und eindringlich das dumme Girlie, während ihre Sopran-Kollegin Adriane Queiroz aus Barena viel verdrängte Menschlichkeit tönen lässt. Aufmerken lässt die junge Victoria Randem als noch nicht verbogener Jano, der aus Freude übers Lesen Lernen sogar ein Rad schlagen darf. Jano ist es dann allerdings auch, der den Botenbericht über das ermordete Kind Jenůfas überbringt und damit das Lügengebäude der Küsterin zum Einsturz bringt.

Regisseur Damiano Michieletto versetzt Janáčeks Bauernszenen in ein chices, kaltes Niemandsland, in dem er ganz und gar der schauspielerischen Qualität der Sänger vertraut. Dabei liebt er die großen, expressiven Gesten, wie die Musik sie nahelegt. So viel dazutun muss er nicht. Von Paolo Fantin hat er eine Bühne entwerfen lassen, in der geriffelte Plexiglaswände die Bühne umstellen, auf der sich lediglich Kirchenbänke finden – auf einer davon Kreuz und Monstranz inmitten einer Batterie von Kerzen. Solcher Minimalismus setzt den Blick frei für die Musik, durch die Simon Rattle mit viel Einfühlung und glühender Intensität geleitet. Den Druck und das Elend vermittelt die – in großer Form spielende – Staatskapelle ebenso wie die glühende Sehnsucht nach Freiheit. Dass der von Martin Wright einstudierte, schlagkräftige Chor coronabedingt im ganzen Zuschauerraum verteilt ist, unterstreicht noch seine stumme Beredtheit, die das Publikum ins Mark trifft – auch wenn in dieser Spielzeit nur am Bildschirm.

Im zweiten Akt senkt sich langsam ein umgekehrter Eisberg aus dem Schnürboden, der auf Kommando schmelzen und nicht schmelzen kann, je nach dem, was der Regisseur gerade vorhat. Das scheint mir eher ein Imponiergestus denn ein gelungenes Symbol, denn es ist ja nicht eine Eiszeit, die diese Menschen versehrt hat, nicht die Natur, sondern der Druck einer unmenschlichen Gesellschaft. Und leider gibt es ja wieder Menschen, die sich in diese schöne heile Welt zurückträumen, die so schön und heil nur denen erscheint, die sie nicht erlebt haben. Da ist Jenůfas Rosmarinstöckchen doch das bescheidenere Natursymbol, zumal es in dieser genialen Partitur auch wirklich drinsteht.

In der 3sat-Madiathek noch bis zum 13. März