Nézet-Séguin gastiert mit dem Philadelphia Orchestra in Baden-Baden – Interview

Klassische Musik ist enorm lebendig

Mit seinen drei Chefpositionen in Montréal, New York und Philadelphia und zahlreichen Gastauftritten gehört Yannick Nézet-Séguin zu den am meisten beschäftigten Dirigenten im Klassikbetrieb. In Baden-Baden ist der Kanadier ebenfalls Stammgast. Vor den Konzerten mit dem Philadelphia Orchestra im Festspielhaus vom 3.-5. November hat Georg Rudiger mit ihm gesprochen.

(Baden-Baden, 31. Oktober 2023) Das Philadelphia Orchestra ist zum ersten Mal im Festspielhaus zu Gast. Im Südwesten Deutschlands war es zuletzt im Jahr 1975 zu hören, als das Orchester in Stuttgart und Ulm spielte. Was für ein Klangkörper ist dieses Orchester, das im Jahr 1900 vom deutschen Dirigenten Fritz Scheel gegründet wurde?

Unter den amerikanischen Orchestern ist es wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht das europäischste. Das hat viel mit der Grundierung der Streicher zu tun, aber auch mit der großen Individualität der Holzbläser und der speziellen Mischung des Blechs. Mit Wolfgang Sawallisch und Christoph Eschenbach hatte das Orchester deutsche Chefdirigenten. Das hört man diesem Orchester an.

Das Philadelphia Orchestra hat historisch eine sehr besondere Beziehung zur Musik von Sergej Rachmaninow, weil es direkt mit dem Komponisten zusammenarbeitete und viele seiner Werke uraufführte. Einige von ihnen wie die Symphonischen Tänze, die dritte Symphonie, das vierte Klavierkonzert und die Paganini-Variationen sind auch im Festspielhaus zu hören. Fühlen Sie immer noch diese besondere Beziehung?

Wenn ich mit diesem Orchester Rachmaninows Musik interpretiere, ist das für mich eine quasi spirituelle Erfahrung. Diese enge Verbindung konnte ich sofort spüren, als ich 2008 mein Debüt beim Orchester mit Werken von Rachmaninow hatte. Das Orchester versteht die Form dieser Musik auf eine ganz intuitive Weise. Und hat ein besonderes Gefühl für das Rubato.

Was ist für Sie wichtig, wenn Sie diese Musik interpretieren?

Natürlich dieses Rubato – also das sich Zeitnehmen für besondere musikalische Momente. Ich möchte einen dunklen, tiefen Klang, der auf den Bässen und den Celli ruht. Aber, und das vergisst man häufig: Auch das Delikate, Leichte ist gerade in den schnellen Passagen essentiell. Das hört man auch in Rachmaninows eigenen Interpretationen am Klavier.

In deutschen Kinos feiert „Maestro“ im Dezember Premiere – ein Film über den amerikanischen, 1990 verstorbenen Dirigenten Leonard Bernstein. Sie haben mit dem London Symphony Orchestra nicht nur den Soundtrack aufgenommen, sondern auch den Hauptdarsteller Bradley Cooper in Sachen Dirigieren beraten. Haben Sie selbst auch etwas gelernt von Leonard Bernstein?

Es war mir eine große Ehre, bei dem wunderbaren Film über diesen außergewöhnlichen Dirigenten mitzuwirken. Leider habe ich Lenny nie persönlich kennengelernt. Ich war fünfzehn, als er starb. Aber mich hat sein emotionaler Zugang zur Musik immer inspiriert. Er ist einer meiner Vorbilder.

Sie bringen eine große Lockerheit in die steife Klassikwelt. Sie teilen Momente aus Ihrem Privatleben auf Instagram und kommen auch mal in Boxhandschuhen und einem Boxermantel auf die Bühne wie bei der Premiere von Terence Blanchards Oper „Champion“ an der MET. Wieviel Unterhaltung braucht die klassische Musik?

Meine Lockerheit hat für mich nichts mit Unterhaltung zu tun. Ich möchte kein Entertainment in die klassische Musik bringen. Ich möchte Menschlichkeit und Echtheit – und die Distanz zum Publikum überbrücken. Wir sollten nicht in einem Elfenbeinturm leben. Klassische Musik ist enorm lebendig. Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven oder auch Sergej Rachmaninow waren Menschen aus Fleisch und Blut, die mit ihrer Musik Gefühle ausdrückten, aber auch Kontroversen auslösten. Klassische Musik hat eine hohe Unmittelbarkeit. Jeder sollte sich eingeladen fühlen – das ist mir wichtig!

An der MET, wo Sie seit 2018 als musikalischer Direktor wirken, ist es Ihnen gelungen, durch ein anderes Repertoire ein neues, diverseres Publikum anzulocken. Die nächste Produktion „The Life and Times of Malcom X“ von Anthony Davis, in der es um den amerikanischen Bürgerrechtler geht, wäre an einem europäischen Haus ungewöhnlich. Welchen Tipp haben Sie für deutsche Opernhäuser, wo sich zeitgenössische Opern, wenn sie einmal programmiert werden, selten an ein breites Publikum wenden?

Das ist sehr einfach. Wir haben überall auf der Welt einen großen Nachholbedarf in der klassischen Musik. Wir müssen auf der Bühne die Geschichten von den Bevölkerungsgruppen erzählen, die bislang dort völlig unterrepräsentiert sind. Jedes Land sollte seine eigene Geschichte betrachten. Wer lebt hier in diesem Land? Welchen Themen sind wichtig? Wenn wir ein anderes, diverseres Publikum möchten, müssen wir auch andere Geschichten erzählen. Das kann durch neue Opern passieren oder durch Werke, die in Vergessenheit geraten sind. Wir müssen andere Werke, andere Stile, andere Farben in unseren Opernkanon einbeziehen. Das kann schnell passieren, wenn jeder mitmacht.

www.festspielhaus.de

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