Jan Lisiecki mit den Berlinern in Baden-Baden

Verständnis für die Strukturen

Von Georg Rudiger

Jan Lisieckis bemerkenswertes Debüt bei den Berliner Philharmonikern zu Gast in Baden-Baden – nur der Dirigent enttäuscht

(Baden-Baden, 25. März 2024) Ein langer Schlaks kommt mit großen Schritten auf die Bühne. Jan Lisiecki könnte auch auf dem Weg zum Abi-Ball sein, so jugendlich wirkt der gerade 29 gewordene Kanadier, so unverbraucht und natürlich sein Auftreten im Festspielhaus Baden-Baden. Es war die Idee der Festspiele, ihn an diesem Abend zum ersten Mal mit den Berliner Philharmonikern zusammenzubringen. Mit der Academy of St. Martin in the fields hat der Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon alle fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven aufgenommen. Beim Konzert in Baden-Baden steht das 3. Klavierkonzert in c-Moll auf dem Programm.

Ein Werk, mit dem Beethoven besonders im zweiten Satz die Tür zur Romantik weit aufstößt, das ans große Publikum appelliert und sich von der Dunkelheit ins Licht bewegt. Bereits im ersten Soloeinsatz schickt Jan Lisiecki mit den Unisono-Aufgängen viel Energie in den Saal. In der Weiterentwicklung behält er die Intensität, auch wenn Beethoven hier einen lyrischen Ausdruck fordert. Lisiecki kann beides – und alle Nuancen dazwischen. Genauigkeit und Deutlichkeit sind seine Prämissen. Museal rekonstruieren möchte er aber nichts, sondern eher Beethovens Intention, den Charakter der Musik erfassen. Beim Seitenthema stellt Lisiecki die harmoniefremden Töne in der linken Hand heraus, um das Neuartige der Begleitung zu zeigen. Jede Melodie hat bei ihm eine klare Phrasierung. Die Struktur ist ihm wichtiger als der reine Klang.

Die Berliner Philharmoniker begleiten unter Tugan Sokhiev sensibel und behutsam. Allerdings schafft es der russischen Dirigent nicht immer, die Energie von Lisiecki aufs Orchester zu übertragen. Da kommen Einwürfe eine Millisekunde zu spät, was den vom Pianisten etwas beschleunigten Puls wieder ausbremst. Auch, was die Balance angeht, wünscht man sich in manchen konzertanten Passagen mehr Präsenz im Orchester.

Magisch gelingt der Pianissimo-Einsatz in Streichern und Pauke nach der Solokadenz. Im hellen E-Dur-Largo entwickelt der gänzlich uneitle Pianist auf dem gedämpften, voll vibrierten, eine Spur zu süßlichen Streicherklang Freiheit im Kleinen wie im Großen. Sein tiefes Verständnis und sein musikalischer Geschmack sind ihm auch hier Richtschnur. In den spektakulär schnellen Triolen des Finales ist in seiner fulminanten Interpretation jede einzelne Note zu hören – die heiklen Anschlüsse zu den Tutti-Einsätzen gelingen wie aus einem Guss. Als Zugabe Chopins Prélude op. 28 Nr. 15: innig, konzentriert, berührend.

Diese Tiefe hat leider die Interpretation von Anton Bruckners 7. Symphonie in E-Dur nicht. Gerade in den beiden ersten Sätzen fehlt es an klaren Konturen und einer Gesamtdramaturgie. Natürlich spielt die exquisite, homogene Cellogruppe das vom Horn veredelte Thema zu Beginn wunderbar schwebend. Aber es fehlt dem von Sokhiev zu langsam genommenen Allegro moderato an Puls und an Richtung. Jeder Beginn einer Phrase wird bei ihm zu einem Neuanfang. Die Musik tritt auf der Stelle und stirbt in Schönheit.

Auch das seltsam eitle, der Sache nicht dienende Dirigat passt in keiner Weise zu Bruckners symphonischer Architektur, die Raum und Spannung braucht, um sich zu entfalten. Immer wieder fordert Sokhiev von den Streichern mit heftigen Bewegungen ein Zurücknehmen der Lautstärke und legt den Finger auf den Mund. Diese spielen aber schon wunderbar leise und gehen gar nicht darauf ein, weil man die Einsprengsel in den Holzbläsern sowieso schon wunderbar hört.

Neben vielen unnötigen Zeichen und Gesten fehlen aber Sokhievs Dirigat auch entscheidende Impulse. Der Beginn des Adagios in den Streichern und Wagnertuben ist deshalb nicht zusammen, weil Sokhiev seine Aufmerksamkeit nur auf die Bratschen richtet. Auch bei Tonwechseln im langsamen Tempo bedarf es selbst bei den Berliner Philharmonikern eines klaren Impulses vom Dirigenten, um wirklich alle Orchestermitglieder mitzunehmen. Eindrucksvoll der mehrfache klanglich Aufbau in den Steigerungen bis zum Durchbruch samt dem später von Bruckner hinzugefügten Beckenschlag – der Trauergesang danach, den der Komponist nach dem Tode Richard Wagners für die Wagnertuben uminstrumentierte, berührt.

Im Scherzo nimmt sich Sokhiev mehr zurück und wählt einen guten Puls, um die Motorik des Satzes in Gang zu setzen. Das Trio wird zur romantischen Gegenwelt. Im Finale findet die Interpretation eine gute Balance zwischen Zurücknahme und Prachtentfaltungen in den Blechbläsern. Selbst im Fortissimo bleibt der Orchesterklang rund und üppig bis zum Schluss, wenn das Thema des ersten Satzes wieder aufgegriffen wird und sich der Bogen schließt.

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