Händels Ariodante an der Pariser Oper

Das Prinzip Öffnung

Die Pariser Oper öffnet ihre Pforten regelmäßig für ein junges Publikum und hat damit Erfolg

Von Roberto Becker

(Paris, im April 2023) In Deutschland zieren sich manchmal Provinzbühnen und Nachwuchsregisseure, interessierten Kritikern den Besuch einer Generalprobe zu gestatten. Man feilt schließlich noch bis zu letzten Sekunde am Kunstwerk und der eigenen Perfektion (oder ist einfach nicht fertig geworden). In Paris, das allein mit dem Palais Garnier und der Opera Bastille als den beiden größten Opernhäusern der französischen Metropole immer noch einen Teil seines Selbstbildes als Welthauptstadt der Oper aus dem 19. selbst im 21. Jahrhundert behauptet, schaltet man vor eine reguläre Premiere eine „Avant-première junes“. Da kriegt der Zuschauernachwuchs unter 28 äußerst günstige Tickets (die Preise für den Pausenchampagner sind wie immer, stört aber nicht wirklich). Als Gegenleistung bekommt man ein Opernhaus voller junger Leute. Was tatsächlich ein Traum und keineswegs ein Alptraum ist. Wenn man sich mit Hilfe der Presseabteilung unters junge Volk mischt, stellt man fest, dass die jungen Franzosen die Anzugsordnung so locker nehmen wie es ihnen ihre Eltern oder Großeltern vormachen, wenn sie in die Bastille gehen. Völlig anders, als die jungen Milanesen bei einer Jugendvorstellung in der Scala etwa. Es gibt die Unterschiede eben doch!

Das eigentlich Verblüffende aber ist die mustergültige Disziplin, mit der sie, wie jetzt im Falle des neuen „Ariodante“ im vollbesetzten Palais Garnier, selbst einer recht langen, mit zwei Pausen versehenen, nicht besonders aufregenden Inszenierung folgen, Szenenapplaus für die Sänger kundig dosieren und dann am Ende (ohne erkennbaren Publikumsschwund) das Ganze enthusiastisch bejubeln.

Wenn es im Französischen auf dem Programmzettel „nouveau spectacle“ heißt, so sollte man sich in diesem Falle lieber nicht zu einer assoziativen Übersetzung verführen lassen. Richtig neu (im Sinne von originell) und wie ein mitreißendes oder hinterfragendes szenisches Ereignis, das man Spektakel oder Event nennen könnte, wirkt dieser von Robert Carsen inszenierte Händel jedenfalls nicht. Was schon enttäuscht, da dieser Regisseur eigentlich in die Gruppe der Szeniker gehört, die man lange als sichere Bank bezeichnen konnte. Bei „Ariodante“ scheint ihm die Luft ausgegangen zu sein. Das wirkt derartig routiniert, dass man sich nochmal vergewissern möchte, ob es tatsächlich der Carsen ist, der – gerade in Paris – mit großen Bildern und ausgefeilter Personenregie meist bleibende Eindrücke hinterließ und für große Opernabende sorgte.

Diesmal funktioniert nicht nur die mäßig opulente Bühne (bei der sich Carsen von Luis F. Carvalho helfen ließ) wie ein vorgefertigter, vor allem auf reibungsloses Funktionieren ausgerichteter Baukasten. Diesmal wirkt die ganze Inszenierung so. Ein geräumiger Guckkaten-Saal in Grün. Rechts und links mit bis zu vier Riesentüren samt Jagdtrophäen oben drüber. Dann auch mal mit Ritterrüstungen sparsam zum Thronsaal aufgehübscht. Wobei das schon eine Übertreibung wäre – es geht eher (kostüm-)kariert und (einfalls-)sparsam in diesem Opern-Schottland zu. Zwei Dudelsäcke und Röcke für die Herren bringen nicht wirklich was. Und eine zu diesem in die Neuzeit versetzten Königshof, dazu erfundene Meute aus Presse und Paparazzi auch nicht. Die Zutaten wirken mehr wie eine bemühte Aktualisierung, die den Blick fürs psychologische Potenzial dieser Geschichte eher verdeckt als erhellt. Immerhin gibt es einen echten und zwei Beinahetodesfälle in diesem für ein barockes Libretto vergleichsweise klaren Plot.

Im ersten Akt ist alles hell und in Butter. Mit Ariodante hat Prinzessin Ginevra einen Bräutigam, der obendrein für die Nachfolge des königlichen Vaters höchst willkommen ist. Vokal schafft es Emily D’Angelo als Ariodante nicht wirklich zum Kraftzentrum des Ensembles zu werden. Dieser Ariodante ist eher ein braver Musterschüler als ein draufgängerischer Thronanwärter. Seine Solo-Arien – inklusive des krönenden Hits der Oper „Dopo notte…“ im dritten Aufzug bieten zwar eine wohlkalkulierte Steigerung an Durchschlags-und Ausdruckskraft, bleiben aber doch weit hinter dem, was etwa eine Cecilia Bartoli daraus zu machen versteht, zurück. Olga Kulcheynska hingegen überzeugt mit einer gradlinig eleganten und dann auch die Talfahrt der Gefühle glaubhaft verkörpernden Ginevra.

Christophe Dumaux fädelt als Bösewicht Polinesso (ein Vorfahre Jagos) mit seinem intensiv gestaltenden Counter-Timbre eine simple Intrige ein, die Ariodante einen Seitensprung Ginevas mit ihm vorgaukelt. Seine Verehrerin Dalinda (blind vor Liebe!) lässt sich zu dem dafür nötigen Kleidertausch verleiten. Tamara Banjesevic wertet mit temperamentvollem Spiel und souveränen vokalen Höhenflügen diese Rolle deutlich auf. Ariodante jedenfalls nimmt das Täuschungsmanöver ungeprüft für bare Münze und taucht erstmal ab. Er geht zwar nicht im wahrsten Wortsinn unter, wie zunächst alle denken (weil es in der Zeitung steht), aber er verschwindet bis zum Showdown einen Akt später von der Bildfläche. Im dritten Akt gibt es die Zuspitzung mit Gottesgericht, plötzlichem Wiederauftauchen Ariodantes, einem rechtzeitig und wohl platzierten Enthüllungs-Geständnis Dalindas und dem Tod des Finsterlings. Also ein allgemeines Durchatmen und ein alles auf Anfang. Zumindest bis zum Finale des ersten Aktes. Dass vor allem Ginevra dieses ganze Theater ohne Bläsuren und Langzeitschäden übersteht, ist schwer zu glauben. Die meisten Regisseure glauben es Händel auch nicht. Carsen lässt sich erstaunlicherweise nicht wirklich auf die berechtigten Zweifel ein. Am Ende wechseln Ginevra und Ariodante sowie Dalinda und ihr nun nicht mehr verschmähter Verehrer Lurcanio (geschmeidig: Eric Ferring) vom formell royalen Dresscode ins Freizeitzivil und verlassen das Stück. Zurück bleiben die Wachsfigurendoubles der „richtigen“ Royals. Neben dem schottischen König aus dem Stück, Charles (noch ohne Gemahlin), William und Kate sowie Harry mit Anhang…. Zu dieser Königsfamilie jenseits des Kanals strömt schließlich auf der Bühne ein selfieversessenes Touristenpublikum. Und das echte, republikanische Publikum im Saal jubelt dazu. Wohl auch, weil sie von hier aus betrachtet, weit genug weg sind.

Wo die Szene das psychologische und auch politische Potential der Geschichte nur zum Teil ausschöpft, bleibt auch das musikalische Begeisterungspotenzial einer Oper, deren Ansammlung von Arienhits geradezu auf Szeneapplaus hin komponiert ist, hinter den Möglichkeiten zurück, die Händel bietet. Eine respektable Ensembleleistung, die von Harry Bicket und den Musikern von The Englisch Concert im Graben geschmeidig begleitet wird, das ja. Man hätte aber schon gerne den Tick mehr an Faszination, für den der Jubel des jungen Publikums angemessen gewesen wäre.

 

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