Eine politische Carmen in Glyndebourne zum Jubiläum

Glyndebourne wird politisch

Vor 90 Jahren wurde das Opernfestival auf dem Landsitz von Glyndebourne, südlich von London gegründet. Das Jubiläumsjahr wird aufgrund der finanziellen Situation nicht so opulent gefeiert wie erwartet. Bis zum 25. August sind auf dem Landsitz südlich von London – mit den berühmten Picknicks in den Pausen – fünf Opernproduktionen zu sehen. Zwei davon traditionell als Neuproduktionen. Während sich für Franz Lehars „Lustige Witwe“ am 9. Juni der Vorhang hebt, sorgt die Eröffnungs-Neuinszenierung von Bizets „Carmen“ für Erstaunen.

Von Susanne Lettenbauer

(Glyndebourne, im Mai 2024) Eigentlich hatte man etwas anderes erwartet in diesem 90. Jubiläumsjahr: Dass da auf der Bühne des pittoresk zwischen schafbesetzten Hügeln gelegenen Opernhauses von Glyndebourne eine Neuentdeckung wie 2022 „The Wreckers“ der fast vergessenen, englischen Feministin Ethel Smyth präsentiert wird. Oder die Uraufführung eines Auftragswerkes. Oder eine Wagner-Oper, wegen der das Festival 1934 einst gegründet wurde als Zufluchtsort auf nicht einem, sondern zwischen gleich mehreren grünen Hügeln.

Seinen englischen Landsitz am Vorabend des Zweiten Weltkrieges für in Deutschland immer stärker unter Druck geratene Künstlerinnen und Künstlern zu öffnen, ist noch heute ein Verdienst von John Christie, ein Wagner-Verehrer. Das Herrenhaus von Glyndebourne sollte vor 90 Jahre ein Ersatz für – weil Nazifreies – Bayreuth werden, mitgegründet von den deutschen Sängern und Musikmanagern Fritz Busch und Carl Ebert, 1933 von Berlin und Dresden emigriert nach England.

Dass zur Eröffnung des anfangs 300 Plätze umfassenden, ersten Theaters 1934 dann nicht Wagner, sondern Mozart gespielt wurde, sei’s drum. Dass heute rund 1200 Zuhörerinnen und Zuhörer in einem runden, ans Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert angelehnten Backstein-Neubau dieses Festival fast täglich erleben können, 90 Jahre nach der Gründung, das ist beeindruckend. Denn im Unterschied zu Bayreuth, wo heute fünf Gesellschafter das frühere Familienunternehmen Wagner mehr kontrovers als einmütig steuern, hält Christie-Enkel Gus Christie noch immer die Fäden in der Hand, in Kürze folgt ihm seine Tochter nach. Alles nur möglich mit Hilfe spendabler Privatsponsoren, heute mehr denn je, seit sich die öffentliche Hand mehr und mehr zurückzieht und die Streichung von staatlichen Geldern nach dem Brexit ein großes Loch in die Finanzierung des Glyndebourne-Festivals gerissen hat. So groß, dass die prestigeträchtige, marketingrelevante, landesweite Tournee des Ensembles, traditionell im Herbst nach der Festivalsaison, 2023 zum ersten Mal in der Geschichte abgesagt werden musste.

Wohl deshalb in diesem Jahr also nun ein zuverlässiger Dauerbrenner wie Georges Bizets „Carmen“ zur Eröffnung des Jubiläums-Festivals. Kein Wunder beim traditionellen und gern auch konservativen Opernpublikum Großbritanniens, das zu schnell verschreckt ist bei zu modernen Inszenierungen, finanziert doch genau dieses Publikum mit seinen Spenden und Zuwendungen seit Jahrzehnten dieses dreimonatige Festival mit angeschlossenem, hochbeliebten Picknickmarathon großteils mit.

„Uns wurden 52 Prozent der Gelder gestrichen, nicht so viel wie dem Royal Opernhaus Covent Garden, aber das hat uns getroffen“, gibt Stephen Langridge zu, künstlerischer Leiter in Glyndebourne. „50 Jahre lang sind wir durchs Land getourt, in große und kleine Städte, um klassische Musik auch dorthin zu bringen. Dieses Jahr laden wir die Menschen aus diesen Orten zu uns ein, d.h. wir spielen weiter und das eben nicht außerhalb sondern in Glyndebourne im Herbst.“

So einfallslos die Wahl von Bizets Dauerbrenner „Carmen“ als Eröffnungspremiere anfangs gewirkt haben mochte, so schnell kam die Überraschung für das hörbar durchatmende Publikum:
Regisseurin Diane Paulus konfrontiert das Glyndebourne-Publikum mit einer Carmen, die direkt von einer Frauendemonstration im Iran, von einer Pro-Palästinenser-Demonstration oder einem Flüchtlingslager in Tunesien kommen könnte. Bizets romantische Bohemian-Welt wird bei der 58-jährigen Paulus, gemeinsam mit dem wohl einflussreichsten Kulturmanager des New Yorker Broadway Randy Weiner maßgeblich für große Musicalproduktionen in Manhattan verantwortlich, zu einer toxischen Männerwelt, in der der Schlagstock lockerer sitzt als die Militäruniform, in der auf Männer und Frauen und Kinder unterschiedslos eingedroschen wird.

Die Bühne, auf der die aus Tunesien stammende Sängerin Rihan Chaieb als durchweg faszinierende Carmen agiert, erinnert mit Militärcamp und angeschlossenem Freigangkäfig für die Frauen der Zigarettenfabrik an die Situation von Migranten-, oder Gypsy- oder Palästinenser- oder anderer benachteiligter Menschengruppen, begleitet von herumirrenden Kindern wie in der Ukraine oder im Gaza oder im Sudan. Folgerichtig sind die Schmuggler rund um Carmen Menschenschleuser, die kofferbeladenen Flüchtlingen mit einem Schulterklopfen ein besseres Leben versprechen.

„Als Künstler und Künstlerin muss man Stellung beziehen, sich politisch engagieren und Stimme zeigen“, sagt Carmen-Sängerin Rihab Chaieb. „Denn die Leute hören dir zu, daran muss man immer denken. Ich bin sehr dankbar an Orten wie hier in Glyndebourne auftreten zu können mit dieser Musik, um diese Ungerechtigkeit zu thematisieren. Ich bin zur Musik gekommen, weil sie mich mehr als alle Worte berührt, deshalb will ich mich damit für alle Menschen einsetzen, vor allem Frauen und Kinder, die unschuldig in Konflikten sterben.“

Chaiebs Engagement gegen Unterdrückung, Femizid und sexuelle Belästigung ist ihr auf der Bühne anzumerken. Und nicht nur das: Sie positioniert sich politisch. In Kürze tritt sie bei einer Benefizveranstaltung für den Palestine Children’s Relief Fund (PCRF) in Manchester auf.

Mit Verve schärft sie auf der Bühne von Glyndebourne die Stimme, treibt das gewohnt hervorragende London Philharmonic Orchestra vor sich her. Mit einem forsch und teilweise zu hektisch dirigierenden Robin Ticciati am Pult des strahlend intonierenden Orchesters, das sich im 3. Akt vor der Kulisse einer Fussballarena noch einmal beeindruckend steigert. Auch für den heutigen Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO) ein Jubiläum – seit 2014 bekleidet der 41-Jährige das Amt des Musikdirektors von Glyndebourne.

Die Geschichte rund um den liebestollen Soldaten Don José, der – toxisch männlich – nicht akzeptiert, dass Frauen nicht das Eigentum der Männer sein wollen, geht dabei fast unter, vor allem weil der ukrainische Tenor Dmytro Popov einen unglaubwürdigen, weil unbeteiligt wirkenden Liebhaber in der sehr auf Musical getrimmten Inszenierung abgibt. Umso überzeugender die Chorszenen im Pub von Lilas Pastia, eine Mischung aus Wrestlingclub und underground-graffiti-Szenetreff. Hier zeigt sich das Broadway-Faible von Regisseurin Diane Paulus.

Und das tut der teilweise angestaubten Carmen-Oper, aber auch dem 90 Jahre alten Glyndebourne-Festival richtig gut.

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