Jeremy Eichlers fantastisches Buch über musikalische Mahnmale

Klingende Mahnmale

Jeremy Eichler hat mit „Das Echo der Zeit – Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“ eines der interessantesten Musikbücher der letzten Jahre geschrieben

Von Robert Jungwirth

(Mai 2024) Im Oktober 1947 wurde in New York der Grundstein für das weltweit erste Mahnmal für die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Juden eingeweiht. Zur gleichen Zeit arbeitete der exilierte Wiener Jude Arnold Schönberg ebenfalls in den USA an dem ersten Musikstück, das sich mit dem Holocoust befasst – Ein Überlebender aus Warschau. Bevor es den Begriff Holocaust noch gab. Der Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, der bei Schönberg ein Orchesterstück bestellt hatte, war von dem, was er schließlich von Schönberg bekam, so verstört, dass er das Werk einfach liegen ließ und sich auch nicht bei Schönberg meldete. Schließlich wurde „ Ein Überlebender aus Warschau“ im November 1948 von einem Laienchor und -orchester in Albuquerque in New Mexiko uraufgeführt.

Arnold Schönberg war zu der Zeit ein vom Protestantismus zurück-konvertierter Jude, der im Wien der Jahrhundertwende alles unternommen hatte, um sein Judentum zu kaschieren und damit sein Deutschtum zu dokumentieren, konstatiert der Musikjournalist und Historiker Jeremy Eichler.
Auch Richard Strauss schrieb Ende des Zweiten Weltkriegs eine von tiefer Trauer und Betroffenheit geprägte musikalische Reaktion auf Krieg und Zerstörung: die „Metamorphosen“. Auch ein musikalisches Mahnmal, allerdings mit einem gänzlich anderen Hintergrund. Strauss war als Präsident der Reichsmusikkammer den Nazis zu Diensten gewesen war und hatte nicht erkannt oder nicht erkennen wollen, wie verderblich dies war.

Arnold Schönberg, Richard Strauss, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten komponierten jeweils Werke, in denen Sie aus der Erfahrung des Ersten und Zweiten Weltkriegs gegen Krieg und Zerstörung mahnen. Diese Werke stehen singulär im Repertoire von Orchestern. Sie sind klingende Mahnmale, die Jeremy Eichler in einem seinem Buch „Das Echo der Zeit – Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“ porträtiert und mit der konkreten Zeitgeschichte faktenreich kombiniert.

Eichler ist überzeugt davon, dass die Musik eine enorme Kraft besitzt, Geschichte und ihre Schrecknisse lebendig zu machen und uns wieder ins Gedächtnis zu rufen.
„Diese bedrohte lebende Erinnerung hat ihre Verbündeten im kulturellen Gedächtnis, in Kunstwerken, die ihre Zeit überdauert haben. Die Kunst behält im Gedächtnis, was die Gesellschaft gerne vergessen würde.“

Eichler zeigt verblüffende Bezüge und Verbindungslinien auf zwischen so unterschiedlichen Musikern wie Arnold Schönberg, Richard Strauss, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten, die alle auf ganz unterschiedliche Weise den Zweiten Weltkrieg, Tod, Verfolgung und Zerstörung in bedeutenden Werken thematisiert haben. Er schildert ihr Leben und ihre Zeitzeugenschaft.

Eichler bringt in seinem faszinierenden Buch die Schrecknisse der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen mit musikalischen Werken und der Lebensgeschichte ihrer Schöpfer. Dabei liefert er Details und Quellenforschungen in einer Detailliertheit, wie man das so noch nicht gelesen hat – zum Teil mit bislang unbekanntem Material. Dem Autor ist etwas Außerordentliches gelungen: Ein ebenso erschütterndes wie ungemein kluges Buch, das musikalische Mahnmale und ihre Entstehungsgeschichte mit Analysen der Zeitgeschichte zu einem spannenden und lebendigen Ganzen zusammenknüpft. Jeremy Eichler hat mit „Das Echo der Zeit“ eines der bedeutendsten Musikbücher der vergangenen Jahre geschrieben.

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