Händel-Festspiele in Göttingen

„Hellas!“

George Petrou stellt in seinem zweiten Jahr als künstlerischer der Händel-Festspiele Göttingen Griechenland ins Zentrum.

Von Elisabeth Richter

Seit 2021 ist der Grieche George Petrou der neue künstlerische Leiter des ältesten Händel-Festivals, der Händel-Festspiele Göttingen. Damit durchbricht er die Jahrzehnte lange „Phalanx“ der britischen Dirigenten in dieser Position, nach John Eliot Gardiner, Nicolas McGegan und Laurence Cummings. Es weht ein neuer Wind in Göttingen. Das Festspiel-Orchester, das Publikum mussten sich an den vor Energie nur so explodierenden Petrou erst ein wenig gewöhnen. Doch die Vertrautheit wächst, das war bei der diesjährigen Ausgabe deutlich zu spüren.

„Hellas!“ – Griechenland ist das Motto der diesjährigen Händel-Festspiele Göttingen. Doch George Petrou, der gebürtige Grieche, will dies nicht als einzige Motivation für die Wahl des Festival-Schwerpunkts verstehen. Händels Opern, Kantaten und Oratorien weisen eine Fülle von Bezügen zur griechischen Antike auf. Viele weitere Werke des Barock beziehen sich auf die griechische Kultur. Neben Festspiel-Oratorium und -Oper präsentierte George Petrou in einem Konzert das Melodram „Medea“ von Georg Anton Benda, eine weitere archetypische Figur der griechischen Antike, mit der Sängerin Eva Vogel in der Titelpartie. Es ist ein schauspielerischer, deklamierter Monolog, der von höchst dramatischer Musik begleitet wird. Mozart kannte das Werk und schätzte es, er trug die Partitur immer bei sich, um diese Musik zu studieren. Petrou präsentierte in diesem Konzert auch zwei Werke zeitgenössischer griechischer Komponisten: das manchmal etwas minimalistisch klingende „Five more steps until you fall asleep“ von Giorgos Koumendakis und eine Art Concerto grosso, „Lamento“ von Giorgos Kouroupos für Mezzosopran und Barockorchester.

Eröffnet wurden die Festspiele an Himmelfahrt mit dem Oratorium „Hercules“ in der St. Johanniskirche. Dejanira, Hercules Ehefrau, dichtet ihrem Mann Untreue mit Iole an. Der Kriegsheld kam siegreich aus der Schlacht. „Im Gepäck“ die Gefangene Iole, die Tochter seines Feindes, den er getötet hat. Erst freut sich Dejanira über die Rückkehr, aber dann steigert sie sich immer mehr in ihre Eifersucht. Dabei trauert Iole nur um ihren Vater und will auch nichts davon wissen, dass sich Hyllus, Hercules Sohn, unsterblich in sie verliebt hat.

Die tragische Geschichte nimmt ihren Lauf. Dejanira kommt nicht aus ihrer Eifersuchtsspirale heraus. Eindrücklicher Höhepunkt: der Chor entlarvt Eifersucht als „infernalische Pest“ (Jealousy, infernal pest). Mit voller Wucht setzen hier die Orchester-Streicher ein: Zackig punktiert der Rhythmus. Laut hallen die Schockklänge durch den Raum. Mit einem Oktavsprung stürzen alle in die Tiefe. Chromatisch, schlangenartig windet sich die Melodie wieder nach oben. Und dann! Der Chor im Pianissimo, leise auf einem spannungsreichen, dissonanten Akkord. George Petrou dirigiert mit berstender Spannung bei diesem zentralen Moment.

In der zweiten großen Szene dieses „musikalischen Dramas“ verfällt Dejanira dem Wahn. Sie will Hercules Liebe mit einem Zauberhemd zurückgewinnen. Der Zentaur Nessus hatte es ihr sterbend gegeben, er wollte sie erobern, wurde aber von Hercules getötet. Das Hemd war vergiftet. Hercules stirbt qualvoll. Dejanira erkennt ihren Irrtum, gerät in ein Delirium und fühlt sich von Furien und Schlangen verfolgt.

Die US-Amerikanerin Vivica Genaux, eine der renommiertesten Mezzosopranistinnen, singt die anspruchsvolle Szene mit viel Furor. Dejanira ist die eigentliche Hauptrolle, eine Art weiblicher Othello. Genaux, die besonders für ihre brillanten Koloraturen bekannt ist, stellt in ihren vielen Arien nachvollziehbar den Verfall dieser von Eifersucht zerfressenen Frau dar. Ihre Koloraturen haben einige Attacke, doch scheint die Stimme an Kraft verloren zu haben.

Exzellent besetzt die weiteren Rollen: Andreas Wolf leiht Hercules seinen kernigen Bassbariton. Lena Sutor-Wernich sorgte als Bote Lichas, damals eine Kastratenrolle, mit ihrem satt-dunklen Alt für eindrückliche Momente. Niemand sang aber so berührend wie die Sopranistin Anna Dennis als Iole. Sie verströmte mit ihrer warm und perfekt geführten Stimme ein unglaubliches Charisma.

Das NDR Vokalensemble war in der Rolle des kommentierenden Chores mit rundem Klang von Klaas-Jan de Groot optimal vorbereitet. George Petrou kristallisierte mit dem FestspielOrchester Göttingen souverän die dramatischen Momente heraus, minimale Ungenauigkeiten wegen recht zügiger Tempi ausgenommen. Aber das mag auch dem straffen und vollen Probenplan des Orchesters geschuldet sein.

Ging es bei „Hercules“ und „Medea“ um Eifersucht und Wahn, so war es bei der szenischen Festspiel-Produktion „Semele“ eher Eitelkeit und Maßlosigkeit. Semele, die sterbliche Königstochter und Geliebte von Jupiter, bezahlt ihren Wunsch nach Unsterblichkeit mit ihrem irdischen Leben. Beim Anblick ihres Geliebten in seiner wahren göttlichen Gestalt geht sie in Flammen auf. Aus ihrer Liaison mit Jupiter und dann aus ihrer Asche entsteigt aber ein Phönix, ein neuer Gott: Bacchus.

Anfangs sieht man zur Ouvertüre ein Ärzte-Team um das Bett der (fast) toten Semele, ihr Baby, eingehüllt in ein Tuch, kann gerettet werden. Das Schlussbild kehrt zur Anfangsszene zurück. Das Baby wird nun aus dem Tuch gewickelt und entpuppt sich als Champagner-Flasche. Bacchus lässt grüßen.

„Semele“ ist wie „Hercules“ ein Opern-/Oratorien-Zwitter. Dank des reichlich dramatischen Potenzials von Händels großartiger Musik funktioniert dies hervorragend. Immer wieder ist Händels Spätwerk in den letzten Jahren auf den Opernbühnen zu sehen gewesen, in Göttingen jetzt zum ersten Mal.

George Petrou war – wie im Vorjahr bei „Giulio Cesare“ – nicht nur Dirigent, sondern auch Regisseur. Er inszeniert die packende Geschichte ernst, aber auch humorvoll zwischen Antike, Barock und modernem Glamour, steckt Händels assoziationsreiche Musik doch voller Witz, aber auch schreckenerregender Dramatik und arkadischer Poesie.

Semele wird letztlich von Jupiters eifersüchtiger Ehefrau Juno aus dem Weg geräumt. Juno, die Göttin, nimmt die Gestalt von Semeles Schwester Ino an und träufelt ihr das Gift des Wunsches nach Unsterblichkeit ein. Für ihre Intrige holt sie sich auch die Hilfe Somnus, den Gott des Schlafes. Er tritt mit seinem Jünger-Chors als buddhistischer Mönch auf, ein sonores „Om“ lassen die Choristen immer wieder ganz harmonisch vernehmen. Vivica Genaux singt und spielt die Doppelrolle Juno/Ino schlicht phänomenal, wenn auch mit denselben stimmlichen Einschränkungen wie als Dejanira in „Hercules“. Die Göttin ist eine sonnenbebrillte Glamour-Figur a la Jackie Onassis, die Schwester – mittels eines entsprechenden Kostüms – eine korpulente Matrone.

Jeremy Ovenden hat einen wunderbar unprätentiösen Tenor, auch dann noch, wenn er Semele eindringlich warnt, um sie von ihrem Unsterblichkeitswunsch abzubringen. Wirkliche Passion spricht aus seiner Arie „Where’er you walk“, bei der sich die Szene in ein barockes Arkadien verwandelt – inspiriert von Kulissen des Schlosstheaters im schwedischen Drottningholm (Bühne: Paris Mexis). Der Chor agiert dazu mit barocken Gesten. Überhaupt hat George Petrou den Kammerchor Athens geschickt und ganz selbstverständlich handlungsaktiv eingebunden, er wandelt sich vom Ärzteteam zu Partygesellschaft und buddhistischen Mönchen.

Wie in „Hercules“ und „Medea“ bewies George Petrou am Pult des exzellenten Festspiel-Orchesters Göttingen sein Gespür für die dramatischen Entwicklungen. Das hatte Zug, das packte, entbehrte aber nicht der Sensibilität bei den introvertierten Arien. Und Marie Lys in der Titelpartie verzauberte mit ihrem runden, flexiblen Sopran mit Leichtigkeit in den Koloraturen, aber mit berührender Intensität und Substanz bei den reflektierenden Arien und ihren verzweifelten Ausbrüchen.

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