Erste Biographie über Gérard Grisey

Komponist in seiner Welt

Die erste Biographie über den französischen Komponisten Gérard Grisey

Von Bernd Feuchtner

(August 2023) Am 10. November jährt sich der frühe Tod von Gérard Grisey zum 25. Mal. Dass rechtzeitig die erste Biographie erscheint und tief in Leben und Werk dieses Meisters der Spektralmusik hineinleuchtet, ist ein Glücksfall. Jeff Brown, ein kluger Redakteur des VAN-Magazins, kennt nicht nur Griseys Musik genau und hat die Quellen studiert, sondern auch mit Familie und Freunden gesprochen, um ein genaues Bild vom Werdegang dieses ungewöhnlichen Menschen zu gewinnen.

Obwohl Grisey 1946 in der Festungsstadt Belfort an der burgundischen Pforte in eine kulturferne Arbeiterfamilie geboren wurde, begann der Junge schon mit sieben Jahren kleine Stücke zu komponieren – lange Zeit war das Akkordeon sein Instrument. Die Familienverhältnisse waren nicht rosig, aber letztlich unterstützten seine Eltern seinen Weg bis ans Pariser Konservatorium, wo er zuletzt bei Olivier Messiaen studierte. Mit diesem teilte er den schwärmerischen Katholizismus, nicht aber jede musikalische Überzeugung. Dennoch waren seine Lehrer von seinem Talent so überzeugt, dass sie ihm zum Rompreis verhalfen.

„Zwischen Griseys Methode und deren Klangergebnis besteht ein erstaunliches Paradox:“, schreibt Brown „Ein hypersensibler Musiker komponiert so schematisch, als wolle er das Gefühl auslöschen – doch der Hörer empfindet das Werk unmittelbar und aus dem Bauch heraus.“ Grisey war ein Kind seiner Zeit, und das war die Zeit des strengen Serialismus von Stockhausen und Boulez. Das imponierte dem jungen Komponisten zwar, doch er war immer sinnlichen Phänomenen auf der Spur und leitete seine Konstruktionen davon ab. Ihm ging es immer um den Klang im Raum, den er in seine Bestandteile zerlegte, damit er neu wiederauferstehen konnte.

Grisey ging auch nach Darmstadt und gab dort sogar Kurse, mit den jungen deutschen Kollegen hatte er jedoch ebenso Schwierigkeiten wie später in Berkeley mit den US-amerikanischen. Boulez und Stockhausen nahmen Grisey zwar nicht ernst, aber eine Gruppe von Freunden wie Tristan Murail, Hugues Dufourt oder Michaël Levinas forschten in die gleiche Richtung. Brown lässt uns lebhaft teilhaben an diesen Debatten, die inzwischen historisch geworden sind. Die Uraufführung von „Vagues, Chemins, le Souffle“ 1975 zeigte den ganzen Grisey: Der Atem und der Herzschlag sind wesentliche Elemente seiner Kunst. Und sie sind direkt vom Sexualakt abgeleitet – ein weiterer Grund für die Sinnlichkeit von Griseys Musik. Dabei meinte er nicht nur das Begehren, sondern auch den Sex: „Zunächst und in erster Linie hat Musik mit Liebe dies gemeinsam: durch sie versteht der Mensch die Zeit.“

Brown schildert das Heranwachsen als tiefgläubiger Jugendlicher – ab der Pubertät führte das in tiefe Konflikte. Später verschoben sich die Akzente und Grisey tauchte tief in die indische und andere Mythologien ein, die ja auch mit Klängen verbunden sind, man denke nur an Gamelan. „D’eau et de pierre“ heißt ein Klarinettenstück von 1971, und die Elemente Wasser und Stein sind von den Hindu-Prinzipien Purusha und Prakiti abgeleitet, die auch für Körper und Geist stehen. Unschärfe war auch ein wichtiger Faktor, wie er seinen Studenten anhand des menschlichen Herzschlags und den eben nicht total symmetrischen Ornamenten in Paestum demonstrierte. Wissbegierig wie er war, ließ er sich von Vielem inspirieren, am Ende aber war alles in Klang transformiert.

Der Begriff „Spektralismus“ stammt von seinem Kollegen Hugues Dufourt, aber Grisey akzeptierte ihn nie für sich. Jeff Brown nimmt uns mit auf die Reise, die zu den Entdeckungen der Arbeit mit den Obertönen im Raum führte, ihre Irrungen und Erfolge. Es ist spannend, Stück für Stück ins Innerste dieser Kompositionstechnik einzudringen. Dabei zitiert Brown stets auch die Reaktionen der Kritik und die späteren Analysen von Wissenschaftlern – mit Liam Cagneys Aufsatz „Synthesis and Deviation“ aus dem Oxford Handbook of Spektral Music von 2021 führt er geradezu einen Dialog. Deutlich wird, warum neben Messiaen, Stockhausen und Xenakis auch Janáček zu Griseys Hausgott wurde. Oder warum er vergeblich nach einem Projekt mit Robert Wilson suchte, aber in Claudia Doderer bei „Le noir de l’étoile“ seine kongeniale Ausstattungspartnerin fand.

Um in meiner Begeisterung glaubwürdig zu bleiben, muss ich auch einen Mangel feststellen: Warum im Index Murail auftaucht, Dufourt und Levinas aber nicht, hat sich mir nicht erschlossen, doch das ist unwichtig. Wenn Brown in Gesprächen mit seinen drei Frauen und seinen Freunden den Womanizer Grisey ergründet, dann zeigt er dabei die innere Verbindung zwischen dem nicht ganz einfachen Menschen und seiner Musik auf. Begegnungen mit Vivier, Scelsi, Lachenmann bestätigten ihn in seinem Weg. Inspirationen fand Grisey bei Debussys Gebrauch des Goldenen Schnitts ebenso wie in Machauts isorhythmischer Motette oder in der neuesten Astrophysik.

Brown gelingt es, das musikalische Universum lebendig werden zu lassen, in dem der Komponist lebte: Man liest sein Buch mit wachsender Faszination und würde die Werke am liebsten gleich hören können. Wie gut, dass gerade bei Bastille Musik als Nr. 24 eine neue Grisey-CD erschienen ist. Mit „Megalithes“ von 1969 ist dort ein frühes Werk vertreten, mit „Dérives“ ein Werk des Durchbruchs und mit „L’icône paradoxale“ (1992/94) Griseys Meditation über ein verwunschenes Meisterwerk der Malerei.

Jeffrey Arlo Brown: The Life and Music of Gérard Grisey – Delirium and Form. University of Rochester Press 2023, 305 S.

Plattentipp:

Soeben hat die Einspielung von Gérard Griseys „Dérives“ mit dem WDR Sinfonieorchester den Preis der Deutschen Schallplattenkritik in der Kategorie Zeitgenössische Musik erhalten.
Das WDR Sinfonieorchester spielt unter der Leitung von Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico die beiden Schlüsselwerke Dérives (1973–1974) und L’icône paradoxale (1992–1994) von Grisey. Darüber hinaus enthält die Aufnahme die Weltersteinspielung von Mégalithes aus dem Jahr 1969. Die Solopartien haben Katrien Baerts (Sopran) und Kora Pavelić (Mezzosopran) übernommen. Die Veröffentlichung ist das vierundzwanzigste Album des Labels bastille musique.

Die Begründung der Jury lautet: „Sein früher Tod vor 25 Jahren war ein Schock. Was bleibt, ist ein Schaffen, das vielgestaltiger ist als das Label »Spektralmusik«. Das offenbart dieses Grisey-Porträt. Alles beginnt mit einem Scherz: Während das Publikum applaudiert, scheint sich das Orchester in »Dérives« einzustimmen, doch es erwächst ein klangsinnlicher Organismus. In »L’icône paradoxale« wird der Wandlungsprozess um zwei Gesangsstimmen samt Echowirkungen ergänzt. Mustergültig die Ausgestaltungen: Hier glühen Leidenschaften, die einen ungeheuren Sog entfachen. Mit »Mégalithes« von 1969 ist eine Ersteinspielung vertreten.“

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