Ein besonderer Tannhäuser in Frankfurt

Sängerwettstreit im Hörsaal

An der Oper Frankfurt deutet Regisseur Matthew Wild Richard Wagners „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ radikal neu, trifft aber aber verblüffend genau den Kern Geschichte

Von Joachim Lange

(Frankfurt 28. April 2024) Bei seinem Ausflug zur Wartburg kommt der südafrikanische Regisseur Matthew Wild in seiner Frankfurter Inszenierung von Richard Wagners „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ ziemlich weit vom Wege ab. Und landet doch mitten im Zentrum des Stückes. Es gibt keinen Eichwald nirgends. Auch die Silhouette der Wartburg ist nicht in Sicht. Sein Held hat sogar einen anderen Nachnamen, heißt jetzt Heinrich von Ofterdingen, ist ein deutscher Schriftsteller, der nach der Machtergreifung der Nazis in die USA flieht, in Kalifornien eine Anstellung an der katholischen Maris Stella University findet, mit seinem Roman „Montsalvat“ einen Besteller landet und dafür 1956 den Pulitzer-Preis bekommt. Das erfahren wir alles aus den Videoeinblendungen mit entsprechenden Beitragen aus der überwiegend englischsprachigen Presse. Sein Venusberg ist die Einsamkeit von Hotelzimmern, in denen der Autor die erotischen Erfahrung verarbeitet, die ihm die hier als Todesgöttin auftretende Muse Venus vor allem in der Begegnung mit mythischen oder realen Jünglingen vermittelt. Und für die mehr als ein halbes Dutzend Darsteller mehr als doppelt soviel Gestalten annehmen. Von diversen Doubeln und Göttern bis hin zum Heiligen Sebastian oder Botticellis Venus als Mann.

Bei einer Grundsatzdebatte im Hörsaal der Uni (zu Musik und Text des Sängerwettstreits im zweiten Aufzug) outet sich der gefeierte Autor. Er löst einen Skandal aus, weil er in aller Öffentlichkeit einen Studenten küsst (was natürlich auch nicht geht). Er hatte vor diesem Aussetzer in Sekundenbruchteilen unter den Zuhörern, die jungen Männer wahrgenommen, denen er vorher in seiner Phantasie (oder im Leben) schon begegnet und nahe gekommen war. Selten hat man den Sängerwettstreit so klar in die Debatten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts transponiert gesehen, wie in diesem Auditorium, das Herbert Barz-Murauer hier auf die Bühne gesetzt hat. Beklemmend daran ist nicht nur die Borniertheit der Debatte, sondern auch wie die studentischen Fans des Autors plötzlich zu einem homophoben Mob mutieren, Seiten aus dem „Monsalvat“-Roman herausreißen, im Hörsaal verbrennen (!) und den schwulen Außenseiter zusammenschlagen. Natürlich muss man da an Oscar Wilde denken. Oder an den Briten Alan Turing (den Anno Schreier ja vor zwei Jahren mit einem Opern-Denkmal bedacht hat!). Benjamin Britten hielt sich unter dem Radar der homophoben Tugendwächter, Thomas Mann sowieso. An dessen Art der künstlerischen Sublimierung nicht exzessiv ausgelebter Obsessionen musste man beim Frankfurter Bacchanal denken. Nicht nur, weil Dirigent Thomas Guggeis es förmlich darauf anlegte, mit transparenter Präzision hörbar zu machen, was Wagner da an Moderne-Vorgriffen andeutet, sondern auch, weil die Szene so wirkt, als hätte sie der Autor von „Tod und Venedig“ und „Dr. Faustus“ gleichsam redigiert. Spätestens wenn beim „Naht euch dem Strande“ auch noch der schöne Jüngling Tadzio aus „Tod in Venedig“ auftaucht. Wild redet hier einer Art von Insidervertraulichkeit szenisch das Wort.

Immerhin fragt man sich in beiden Pausen, wie das wohl weitergeht und vor allem, wie er aus der Geschichte ohne logische Blessuren für seinen Ansatz wohl rauskommt. So die Spannung für eine über, neben, aber eigentlich doch haargenau mit der Vorlage erzählte Geschichte zu halten, ist eine Glanzleistung. Man fiebert mit, man bleibt neugierig, man stößt auf Parallelen etwa zur Selbstdemontage der akademischen Freiheit im Namen von Betroffenheiten, vor allem in den USA und Großbritannien, und erschrickt. Nachdem man am Anfang noch ein wenig Sorge hat, ob die assoziative Bilderflut erotischer Phantasien nicht zu viel des Guten ist, weicht die im Laufe des Abends der Begeisterung über die innere Stimmigkeit dieses inszenatorischen Umwegs auf dem Weg zu Richard Wagners Künstler-, Menschen- und Liebesdiskurses par excellence.

In diesem Bühnenamerika der frühen Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts ist es so, dass der Autor den Skandal (wie schon bei Wagner) nicht überlebt. Wenn sich Heinrich auf die Romreise einlässt, dann hat es etwas von einer erzwungenen Behandlung seiner „Verirrung“, wie man sie ja beispielsweise auch heute noch, gleich hinter der Ostgrenze unseres in dieser Beziehung ja längst zur Vernunft gekommenen Landes für normal hält. Erstaunlich wie denunzierend die bloße Wiedergabe von Bildern des zweiten vatikanischen Konzils heute wirken können. Da setzt Wild im dritten Aufzug im Umfeld der Romerzählung allerdings noch eins drauf. Da versammeln sich die Kirchenführer in ihren roten Kutten im Hörsaal und ziehen einem Mann mit Bockmaske auf dem Kopf die Hosen runter und schneiden ihm die Kehle durch. Deutlicher kann man nicht werden.

Entgegen der Befürchtung von Wolfram, dass die immer mit Zuneigung und Verständnis zu Heinrich stehende Elisabeth sich nach dessen Selbstmord auch umbringen könnte, überlebt sie nicht nur, sondern sorgt – ganz irdisch – zumindest für das Überleben des Autors Heinrich. Sie vollendet eines seiner Manuskripte. Die Oper endet da, wo sie begonnen hat: im Hörsaal bei einer Vorlesung der gestandenen Autorin Elisabeth über den Autor Heinrich, sein Werk und die Tragik seines Lebens. Spätestens bei dieser Pointe hat einen der Regisseur auch emotional. Und man kann so berührt wie verblüfft über diese zielsichere Umleitung ins Zentrum eines Werkes, von dem ja Wagner meinte, er wäre es der Welt noch schuldig, staunen. Ganz so extrem ist es nach dieser Premiere nicht mehr.

Musikalisch hat sich der junge Frankfurter GMD Thomas Guggeis am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters mehr als nur bewährt. Detailfreunde und Transparenz und der Blick auf die Sänger, die zu keiner Zeit überdeckt werden, sind bei ihm der Weg, um die emotional packende Inszenierung musikalisch zu beglaubigen. Die Sängerriege ist zwar nicht durchgängig auf dem Spitzenniveau, mit dem Frankfurt ansonsten immer zur Stelle ist – eine Ensembleleistung, die sich hören lassen kann, ist es aber allemal. Marco Jentzsch braucht etwas, um in der Titelpartie vokal auf Betriebstemperatur zu kommen, vermittelt aber zunehmend glaubwürdig die zerrissene Existenz eines exemplarischen Künstlers und Mannes. Natürlich ist Andreas Bauer-Kanabas ein profunder Landgraf – in der Riege seiner Kollegen fällt Magnus Dietrich als Walther von der Vogelweide schon in den Ensembleszenen auf, während Domen Križaj als Wolfram darstellerisch blasser bleibt, als stimmlich in seinen Soli. Zur warmtimbrierten Dshamilja Kaiser als Venus liefert die helle Gutmütigkeit, mit der Christina Nilsson ihre Elisabeth ausstattet einen wohltuenden Kontrast. Den erweiterten Chor hat Tilman Michael fabelhaft präzise einstudiert. Am Ende wird dieser erstaunlich unkonventionelle Tannhäuser in Frankfurt einhellig bejubelt.

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