Game over?

In der neuen „Meistersinger“-Inszenierung in Linz wird reichlich geflippert…

Von Roberto Becker

(Linz, 8. April 2023) Ob das Spiel und die Sorge mit und um die große (sprich Opern-) Kunst in unserer Gegenwart noch gewonnen werden kann oder verloren ist, wird sich zeigen. Auf der Bühne im gerade mal zehnjährigen Opernhaus am Volksgarten in Linz wird diese Frage zum Schluss von Hans Sachs gestellt. Er richtet seine berühmte Aufforderung, die Meister, also das Ererbte, nicht zu verachten, unmittelbar an die Kinder, die mit ihren Spielzeug-Rittern in der Hand unter dem Dutzend Flipperautomaten hervor krabbeln, die zum Finalen in einer Linie an der Rampe die Bühne füllen.

Diese Exemplare des vervielfachten metaphorischen Leitmotives auf der Bühne von Sebastian Hannak waren zur Festwiesenmusik anstelle der aufmarschierenden Zünfte in großen Holzkisten herbeigeschafft worden. Sie sind mit dem Namenszug und den Porträts der heute die Opernspielpläne prägenden Komponisten versehen und bieten diverse Archivaufnahmen von alten Inszenierungen ihrer Opern. Neben Händel, Mozart, Wagner und Strauss, sind hier die Italiener Monteverdi, Rossini, Donizetti, Puccini und natürlich Verdi ebenso vertreten, wie auch Meyerbeer, Offenbach und Tschaikowsky nicht fehlen. Eine illustre Versammlung, mit deren Werken man schon ziemlich weit käme, würde man auf die sprichwörtliche öde Insel jenseits der Kultur verschlagen werden, sollten die düsteren Ahnungen in der Schlussansprache von Sachs Wirklichkeit werden. Dass die Kinder in der Inszenierung von Paul-Georg Dittrich am Ende (neben dem Publikum im Saal) die Rolle der direkt von Sachs Angesprochenen spielen, ist aber nicht nur ein Schlussgag, sondern ein Resümee des Zugangs und seiner verblüffend schlüssigen, spielfreudigen Umsetzung.

Der Kinderchor hatte schon, mit einer etwas altklugen Vorwitzigkeit die Rolle des Nachtwächters übernommen und dessen Mahnungen „Bewahrt euch vor Gespenstern und Spuk, dass kein böser Geist eu’r Seel beruck!“ aus dem Off beigesteuert.

Mit einer dezidiert kindlichen Perspektive steigt Dittrich schon ein. Die erste Begegnung zwischen Eva und Walther von Stolzing findet nämlich in deren Kinderzimmer statt. Dort spielt sie mit ihren lebensgroßen Aufziehpuppen Magdalena und David und fügt aus der Schublade noch einen mit weißer Gesichtsmaske versehenen Traummann- bzw. -ritter hinzu. So, wie er ins Spiel kam, endet der auch zum Schluss. Für Eva war er „nur“ ein Mittel, um sich aus diesem Nürnberg ihrer Kindheit mit seinen Meisterregeln, die sie sogar zum Geschenk mit großer roter Schleife drum machte, zu emanzipieren. Was mit Evas „Mir ist, als wär ich gar wie im Traum“ auf dem Vorhang noch vor dem Einsetzen der Musik zu lesen war, und was wir dann zu sehen bekamen, endet damit, dass es Eva ist, die Walthers „Will ohne Meister selig sein“ singt und geht.

Sie beginnt als das phantasie- wie temperamentvolle Mädchen im roten Kleid, das sich ihren Traum von den guten Freunden und vom schönen Ritter zusammenträumt und in Gang setzt. Als der dann tatsächlich versucht, einen Platz in ihrer Welt zu finden, wird die Szene zum Alptraum. Eva flüchtet sich in den Schirm der Deckenlampe und beobachtet von dort aus, wie unten die gespenstischen Meister wie Schachfiguren auf ihren Regeln bestehen und dann mit ausgestreckten Zeigefingern und Spitzhüten wie mit Waffen auf den Eindringling losgehen. Nicht nur szenisch auch musikalisch wird das Chaos in dem Walthers Bewerbung endet, zu einer grandiosen Vorwegnahme der Prügelfuge des zweiten Aufzuges. Da läuft das Spiel mit Wagner auf vollen Touren: Die Bühne – sprich die Welt Evas – ist zur Oberfläche eines überdimensionierten Flipperautomaten geworden. Nürnberg liefert mit Versatzstücken seiner Architektur (Fachwerk, Burg, Reichsparteitagsgelände) und Klischees (Bratwürste als Portale) den Hintergrund.

Blinkende Turbulenz und bunte Opulenz sind freilich nur die großformatige Zugabe zu einer erstklassig packenden Personenregie im Einzelnen. In dieser Hinsicht liefert die Regie für Eva, Beckmesser und Sachs die ergiebigsten Vorlagen. Als Eva ist Erica Eloff beim exzessiv kindlichen Spiel und trotzigen Erwachsenwerden mit vollem Körpereinsatz gefordert und muss zugleich das hochdramatische Potenzial ihres Soprans für Eva im Zaum halten, was ihr beides imponierend gelingt. Martin Achrainer wiederum muss die Tragik eines attraktiven Mannes mit Rockstarqualitäten mit dessen Selbstdemontage in Übereinstimmung bringen, ohne die Figur vollkommen zu desavouieren und ihr das Format eines einigermaßen ernst zu nehmenden Konkurrenten von Hans Sachs zu belassen. Was er mit komödiantischer Verve und vokaler Eloquenz meistert.

Dass er hier nach seinem missglückten Preislied einfach in der Menge abhanden kommt, ist einzig der Logik des Zugangs geschuldet. Hans Sachs schließlich, den Claudio Otelli wohltimbriert mit balsamischen Legato strömen lässt und sich insofern auch von seinen Meisterkollegen abhebt, überzeugt mit der zunehmend packenden, ja berührenden Gestaltung seiner inneren Zerrissenheit. Es ist nicht neu, aber dieses Hätte-ich-nicht-doch-um-Eva-singen-sollen, sieht man selten so überzeugend erlitten. Zur Taufe der Mogentraumdeutweise muss er sich regelrecht zwingen und die „Schelle“, die David zum Gesellen macht, delegiert er an Stolzing. Der ist bei Heiko Börner bestens aufgehoben. Der erstklassige Wagnertenor liefert einen kraftvoll auftrumpfenden Ritter von der strahlenden Gestalt, der Freude macht und mitreisst.

Bewährte Wagnerkompetenz ist es auch, die Markus Poschner mit dem Bruckner Orchester Linz beisteuert: Transparent dynamisch und großräumig aufschäumend, aber auch poetisch zurückgenommen, wenn es erforderlich ist – immer mit den erstklassigen Protagonisten im Bündnis nie gegen sie und beim Vorspiel zum 3. Akt geradezu betörend. Elena Pierrini hatte zudem den Chor und den Kinder-und Jugendchor bestens integriert und was den Kinder- und Jugendchor betrifft auf seine besondere Aufgabe vorbereitet.

Dittrich schafft es mit seiner Personenregie mit einer Steigerung der Intensität von Akt zu Akt zu berühren und in den Bann zu ziehen. Dazu kommt auch eine szenische Opulenz, bei der man das Fahnenschwingen nicht vermisst. Er bleibt nämlich auch beim Festwiesenaufmarsch im kargen Raum vor dem bunkergrauen Rundhorizont bei seinem Thema. Und das ist neben der Frage, wie wir heute mit dem auch in dieser Oper überlieferten Frauenbild umgehen sollten, jene, was Kunst heutzutage ist und sein kann. Dazu werden die Besucher der Festwiese aus dem Schnürboden mit einer Garderobe versorgt, die für den Wiener Opernball passend wären. Dazu werden die Flipperautomaten mit den Heroen der Musikgeschichte aufgefahren.

Zum zehnjährigen Jubiläum des Linzer Opernhauses sind diese Fragen noch Teil einer musikalisch exzellenten und inhaltlich phantasiereich anregenden Inszenierung von Wagens vielleicht menschlichster Oper. Und damit, wie zu erwarten war, zu einem Gutteil pro Kunst beantwortet. Würde man für eine Wiederholung zum 50. oder gar 100. Jubiläum des Baus auch darauf wetten? Oder auf ein game over? Hier hilft vielleicht Wagners Überdosis an Selbstbewusstsein. Er hatte genug davon.

Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Premiere am 8. April 2023, Landestheater Linz

ML: Markus Poschner, R: Georg Paul Dittrich, B: Sebastian Hannak, K: Katharina John,

Mit: Claudio Otelli (Hans Sachs), Dominik Neckel (Veit Pogner), Heiko Börner (Walther von Stolzing), Matjaž Stopinšek (David), Erica Eloff (Eva), Manuela Leonhartsberger (Magdalena), Martin Achrainer (Sixtus Beckmesser), Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz (Ein Nachtwächter), Chor, Extrachor und Statisterie des Landestheaters Linz, Bruckner Orchester Linz

Werbung

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert