Gesprächskonzert zu Musik und Skulptur

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Alles im Fluss oder im Leerlauf?

Der Pianist und Philosoph Amadeus Wiesensee mit einem spannenden Gesprächskonzert zum Thema Musik und Skulptur in Neumarkt in der Oberpfalz

Von Bernhard Malkmus

(Neumarkt, im November 2023) In der klassischen Ästhetik stehen die Zeitkunst Musik und die Raumkunst Skulptur meist ziemlich zusammenhangslos nebeneinander. Der Pianist und Philosoph Amadeus Wiesensee nimmt eine Sonderausstellung im Lothar Fischer Museum in Neumarkt zum Anlass, die beiden Künste miteinander in Dialog zu bringen. Dort ist bis Ende Januar Ernst Barlachs einzigartiger Fries der Lauschenden neben den geheimnisvollen Modellen der Enigma-Variationen von Lothar Fischer zu sehen. Das Gesprächskonzert der „Neumarkter Konzertfreunde“ schärfte Blick und Gehör für die Variation als einem zutiefst menschlichen Bedürfnis.

Da stehen sie also, die neun Lauschenden, mitten unter uns – Teil von uns und doch ganz woanders. Um in ihren Kreis eintreten zu können, müssen wir erst einer Hingabe fähig werden, die uns beinahe übermenschlich erscheint. Ganz Ohr ist jede der aus warmem Eichenholz geschnitzten Figuren, doch in dieser Hingabe sind sie ganz bei sich und bilden eine eingeschworene Gemeinschaft der Lauschenden. Ursprünglich wurden die Figuren entworfen für ein Beethovendenkmal aus Bronze 1926 in Berlin, das allerdings nie umgesetzt wurde. Von 1930 bis 1935 überarbeitete Barlach die Entwürfe für Holz; die Lauschenden wurden nicht mehr um eine zentrale Beethovensäule gruppiert, sondern als selbständiger Fries gestaltet. Die gut einen Meter hohen Figuren sind auch nicht mehr auf ihre Hingabe an die Musik festgelegt, sondern werden zu einer Meditation über die menschliche Fähigkeit, sich in der Entgrenzung zu finden. Daher rühren auch die Bezeichnungen, etwa „Die Tänzerin“, „Die Erwartenden“, „Der Gläubige“.

Im gleichen Raum befinden sich die Modelle für die acht überlebensgroßen Bronzeplastiken Enigma-Variationen am Hamburger Meßberghof. Auch sie verbindet das Thema der Hingabe (alle Figuren, in denen sich organische und geometrische Formen kreuzen, halten uns im wörtlichen Sinne „etwas hin“), auch sie folgen Formprinzipien der Variation. Dass die beiden nun in einem Raum zusammenkommen, ist ein besonderes Ereignis: Die Lauschenden haben noch nie zuvor das Hamburger Ernst Barlach Haus verlassen, Fischers Modelle sind zu fragil für den Transport. Die überwältigende Erfahrung dieser zwei Figurenensembles in einem Raum vertieft Wiesensee mit Überlegungen zur Variation.

Heraklits Einsicht, dass alles im Fluss sei, habe für den Menschen eine unmittelbare psychologische Evidenz. Die Variation könne diese Erfahrung einfangen, neige jedoch auch immer zum Leerlauf mechanischer Wiederholung. Die moderne Ästhetik hat diese Spannung in mehreren Anläufen durchdacht, beispielsweise bei Kant und bei Schiller. Dessen Idee eines „Spieltriebs“ zwischen Formwille und Wahrnehmung konnte um 1800 auch interessante Verbindungen zwischen Variationstechnik und der dialektischen Entwicklung in der Sonatenhauptsatzform erklären. Wiesensee demonstriert dies eindrucksvoll anhand der Variationen in f-Moll von Haydn (Hob. XVII:6) und der letzten Klaviersonate von Beethovens (c-Moll, op. 111).

Haydns Variationen von 1793 weisen schon weit in die Zukunft und nehmen bereits die freie Variationskunst der romantischen Fantasie vorweg. Der besondere Reiz des Stücks liegt im Eindruck eines weiten architektonischen Bogens, der durch die ständige entwickelnde Variation der beiden Hauptthemen und deren immer engmaschigeren Wechsel erst ermöglicht wird. Wiesensee überzeugt mit expressivem Anschlag und rhythmisch differenzierter Phrasierung. Die melodischen Linien sind eng geführt und kristallin artikuliert; das erlaubt ihm, den Raum zu öffnen, in dem sich dann die freien Variationen mit psychologischer Stringenz entfalten. Man konnte darin durchaus eine Nähe zu Barlach sehen: die Einzelvariation dient als Gefäß für eine Entfaltung, die aus dem ursprünglichen Stoff- bzw. Tonmaterial ausbricht.

Die erschütternde Schlussklage Haydns verlässt dabei nie den Bereich des Kreatürlichen, in dem auch Barlach seine Figuren immer verortet. Daran anknüpfend spielt Wiesensee die drei Variationen op. 27 von Anton Webern, in denen er aus kleinsten Elementen Momente der Selbstüberschreitung der Musik schafft, die immer zurückgebunden bleiben an die unabschließbare Suche nach einem musikalischen Grundpuls.

Der Fluchtpunkt dieses Gesprächskonzerts war Beethovens letzte Klaviersonate. Wiesensee leitet das Variationsthema des zweiten Satzes durch Umkehrung und Reduktion aus dem ersten Satz ab. Aufschlussreich sind vor allem auch die Überlegungen zur „Gedächtnisspur“ in Beethovens Spätwerk, die Erkenntnisse der modernen Kognitionsforschung vorwegnehmen. Jede Variation klinge im Gedächtnis des Zuhörers nach, und Beethoven habe diese Rezeptionserfahrung in seine späten Variationswerke hineinkomponiert. Dadurch entstünde eine Art Vogelblick auf die Musik, eine Metaebene über die Wirkung von Musik. Dahinter verschwinde dann sogar die Vorstellung, dass es eine ursprüngliche Variation gegeben habe; wir als Lauschende werden zurückgeworfen auf uns selbst – als „Rätselwesen Mensch“. Damit schließt Wiesensee den Kreis und führt uns zurück zum Titel der Ausstellung.

Seine Interpretation von op. 111 ist rhythmisch äußerst variabel und schreitet die gesamte Ausdrucksamplitude forsch aus. Die strenge Verknappung in der Phrasierung der Grundelemente erlaubte es ihm, die expressiven Passagen umso wuchtiger zu spielen. Das baut im ersten Satz enorme Spannungen auf, die nicht immer in sich schlüssig aufgelöst werden können. Die etwas blecherne Akustik im Museum (die stark abfällt im Vergleich zu hervorragenden Akustik im Neumarkter Reitstadel) mag ihre Rolle dabei gespielt haben.

Im großartigen zweiten Satz gelingt es Wiesensee, die Spannungsbögen an unsichtbaren Schnüren hochzuziehen und den langen Variationsteil zu einer Ästhetik der mittleren Stimme durchzugestalten. Am Ende löst sich das Thema, wie in der Reflexion angekündigt, selbst auf, wird selbst zu einem Lauschenden, der sich hinhält in einem Hymnus, der über die Musik hinausweist.

Wiesensee stellt nichts Fertiges vor, sondern Werdendes. Seine Gedanken sind genau vorbereitet, werden aber frei vorgetragen. Sie bleiben offen für Veränderungen und Neuorientierung, sprechen nie vom Katheder herunter. Sein Spiel ist erfrischend, wenn auch stellenweise etwas überprononciert, stets in sich schlüssig und im anregenden Austausch mit den Skulpturen. Der oft kulturindustriell zugerichtete Klassikbetrieb bräuchte mehr solcher Persönlichkeiten – und solcher Veranstalter, die den Mut aufbringen, ihr Publikum aus einer passiven Rezeptionshaltung zu befreien. Ernst Barlach schrieb in einem Brief: „Zu jeder Kunst gehören zwei: Einer, der sie macht und einer, der sie braucht.“ Wiesensee ist beides, das macht ihn so überzeugend.

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