Festival Raritäten der Klaviermusik in Husum

Ein Fixstern am Firmament des internationalen Klavier-Himmels

Das Festival Raritäten der Klaviermusik 2023 im Schloss Husum

Von Elisabeth Richter

(Husum, im August 2023) Was treibt eine Pianistin, einen Pianisten an, die, der ohnehin alle Hände und Finger voll zu tun hat, neben der alltäglichen Übe- und Konzertvorbereitungsarbeit sich noch technisch schweres, bislang fast völlig unbekanntes Repertoire zu erarbeiten? Das Gros der „klavierspielenden Elite“ scheut sich in der Regel vor dem Aufwand, fordert es doch alle Kraft und Sinne, eine Musiker-Laufbahn erfolgreich „am Köcheln“ zu halten. Das gängige Repertoire in den Konzert-Metropolen des Globus will bedient werden, und zwar auf Spitzen-Niveau.

Nicht so die „Elite der Neugierigen“, die alljährlich, seit 37 Jahren, die mittlerweile weltweit schon legendär gewordenen „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss Husum bestreiten. Sie graben Jahr für Jahr Verschollenes, in Archiven Verstaubtes und oft Lohnendes aus und stellen es im historischen Rittersaal vor.

„Weil es total Spaß macht!“ Fabian Müller zögert nicht lang mit seiner Antwort auf die Frage, warum er sich für Klavier-Raritäten interessiert. „Man spielt einfach immer die großen Schinken, die jeder kennt, in Husum kann man das machen, was, glaube ich, früher immer gemacht wurde, nämlich einfach Sachen wagen.“

Husum 2023 Fabian Mueller Foto: Thomas Lorenzen

Wagnis Nummer eins war bei Fabian Müller in der aktuellen Festival-Ausgabe die veritable Klaviersonate As-Dur Op. 125 von Louis Spohr, entstanden 1843, gewidmet Felix Mendelssohn. Die Verehrung für den rund zwanzig Jahre jüngeren Kollegen hört man etwa im spritzig vorwärtsdrängenden Scherzo. Andere Passagen erinnern an Chopin, weitere an Schubert oder Beethoven.

„Es geht immer um den Unterschied!“ Festival-Leiter und -Gründer Peter Froundjian freut sich, mit der Spohr-Sonate eine unbekannte Facette des heute eher als Geigen-Virtuose und Komponist wahrgenommenen Spohr präsentieren zu können. „Es ist eben keine Wiener Klassik, es ist auch kein Schubert oder Mendelssohn, es hat trotzdem eine eigene Note, und das war interessant zu hören, und zwar für fast das ganze Publikum zum ersten Mal.“

Wagnis Nummer zwei von Fabian Müller waren „Thème et Variation Op. 72“ von Alexander Glasunow und „Variationen über ein Thema von R. Schumann Op. 20“ von Clara Schumann. Letztere sind schon gelegentlich auf CDs oder in Konzerten zu erleben gewesen. Die farbigen, facettenreichen Glasunow-Variationen wohl fast nie. Ein Stück, das nicht rein im russischen Idiom daherkommt, eher europäisch, kosmopolitisch.

Fabian Müller profilierte die Linien im Stimmengeflecht klar und gut unterscheidbar und fand auch feine dynamische Abstufungen. „Manchmal denkt, man wow, ist ja toll! Manchmal denkt man, hm, hm, doch nicht so gut!“ Das Ausprobieren von Vernachlässigtem ist der Spaß, den Fabian Müller hat: „Aber dieses Wagen und Nicht-wissen, wie es wird, das ist aufregend und macht das Festival so spannend!“ Womit wir bei Wagnis Nummer drei wären. Fabian Müller hatte diesmal in Husum seine erste Komposition, die Sonate Op. 1 „MCMXC:1“, vorgestellt. Inspiriert von verschiedenen Komponisten des 20. Jahrhundert und davor. Expressionistisch, leidenschaftlich und atmosphärisch entwickelt sich das Werk, melodisch-gesangliche und rhythmisch- kantige Passagen wechseln sich ab. Spannend auch der dramaturgisch sich zuspitzende, zwingende Verlauf!

Ein anderes Wagnis ging der russische Pianist Andrey Gugnin ein. Er schloss sein Recital mit einer Klavier-Version (Serhiy Salov) von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ ab. Das pianistische Wagnis, dieses ja nicht nur rhythmisch radikale, sondern auch klangfarblich brillant konzipierte Werk auf dem Klavier darzustellen, ist immens. Man muss sich von den magischen Farben mit ihren reizvollen und ungewohnten Instrumentenkombinationen verabschieden, am besten nicht daran denken. Hier erlebt man etwas anderes. Erstmal bestaunte man das differenzierte Spiel von Andrey Gugnin, der kompositorische Strukturen trotz der begrenzten Klavierfarben hörbar machte. Dann Gugnins atemberaubende Technik und Kraft, die er aber immer musikalisch einsetzte. Die rhythmische Kompromisslosigkeit und Härte dieser Musik Strawinskis wird in dieser Fassung noch radikaler, ursprünglicher, schroffer.

Die wenigen leisen Passagen rückte Gugnin mit seinem differenzierten Anschlag in unwirkliche Sphären voller Intensität. Ein Klavier kann nicht den Reichtum eines Orchesters darstellen, aber Gugnin zeigte eine faszinierende Palette der Möglichkeiten. Auch bei der Opern-Paraphrase „Reminiscences de l’opéra ‚La vie pour le Czar‘ de Glinka“ von Mili Balakirew oder bei dem Rachmaninow-Prélude D-Dur Op. 23/4 als Zugabe. Gugnin hat alle rhythmische Energie in sich, aber ebenso Farbsinn, melodische Intuition und vor allem Ausdruckstiefe.

Pianistische Herausforderungen und Neugier charakterisieren auch den Franzosen Jean-Frédéric Neuburger. Mit einem Musikwissenschaftler hat er die zehn „Contes fantastiques“ (Fantastischen Erzählungen) nach E. T. A. Hoffmann von der französischen Komponistin Juliette Dillon entdeckt, und sich das pianistisch hoch anspruchsvolle Werk erarbeitet. Dillon beendete den Zyklus kurz vor ihrem Cholera-Tod mit nur 30 Jahren 1854. Ihre Musik steht in der Tradition der literarisch inspirierten Klavier-Zyklen.

Dillon war in den 1840-er die erste und vermutlich Einzige in Frankreich, die sich mit E. T. A. Hoffmann kompositorisch auseinandersetzte. Natürlich kommt sofort Schumanns „Kreisleriana“ in den Sinn. Aber Juliette Dillon hat ihre eigene Sprache. Ihre zehn „fantastische Erzählungen“ kopieren nirgends den Stil von irgendwelchen ihrer Zeitgenossen. Jede Erzählung ist beispielsweise viel länger als die relativ kurzen acht Charakterstücke der „Kreisleriana“. Dillon schreibt im Stil ihrer Zeit, natürlich kannte sie Liszt oder Schumann und andere romantische Komponisten.

Ihre Hauptinspirationsquelle war aber die Oper. Der Geist von Meyerbeer, Halévy, Berlioz und anderen, etwa Gounod oder Bizet, durchweht den theatralischen Gestus dieser „fantastischen Erzählungen“. Dabei geht es Juliette Dillon nicht um Virtuosität per se. Sie schreibt dies auch in ihrem ebenso aufschlussreichen wie klugen Vorwort. Sie will nicht, dass „Pianisten vor einem großen Publikum glänzen“. Sie will „dem musikalischen Leser weite Felder für die Reisen seiner Fantasie“ lassen, das Klavier als „ein reiches und harmonisches Instrument“ zeigen, sie hatte „den Willen, Musik zu komponieren“. Die Schwierigkeiten sollen nur bestimmte musikalische, literarische Aussagen verdeutlichen. Jean-Frédéric Neuburger gab sich mit Verve in dieses attraktive Meisterwerk, ein bisschen Gefahr laufend mit seinem Forte die Akustik des kleinen Rittersaals im Schloss vor Husum zu sprengen.

Zwei Pianistinnen traten in dieser Festival-Woche bei den Raritäten der Klaviermusik auf. Vom Temperament her hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Da war die extrovertierte, mit überschüssiger Energie kraftvoll agierende Amerikanerin Tanya Gabrielian. Sie widmete sich in ihrem Recital hauptsächlich dem russischen Pianisten, Komponisten und Dirigenten Alexander Siloti, einem Cousin und Mentor Sergej Rachmaninows, und einem der letzten Schüler Franz Liszts. Siloti war ein Meister der Transkription. Seine vielschichtigen, kongenialen Adaptionen sind weit mehr als bloße Bearbeitungen. Tanya Gabrielian zeigte es mit Versionen von Bachs d-Moll-Orgeltoccata, Melodien aus Glucks „Orpheus und Eurydike“, Rachmaninows „Polka italienne“ oder der „Aragonaise“ aus Bizets „Carmen“.

Der Fokus im Konzert der Schweizerin Beatrice Berrut waren musikalische Epitaph-Kompositionen, Trauermusiken, besonders die „Trois Odes funèbres“ von Liszt, der zwei davon nach dem Tod seiner Kinder schrieb. Bewundernswert, mit welcher Ruhe und klanglicher Subtilität Beatrice Berrut diese vorwiegend meditativ-introvertierten Klagemusiken gestaltete. Dass die Pianistin Virtuosität jedenfalls nicht scheut, zeigte sie im zweiten Teil ihres Recitals etwa bei Pavel Pabsts Konzertparaphrase zu Tschaikowskis „Dornröschen“ oder ihrer eigenen Klavier-Adaption des „Andante moderato“ aus Gustav Mahlers sechster Sinfonie.

Im Abschlusskonzert debütierte der Italiener Alfonso Soldano in Husum. Neben Raritäten von Mario Castelnuovo-Tedesco, Déodat de Séverac und Sergej Bortkiewicz faszinierten hier ebenfalls Soldanos eigene Bearbeitungen der „Trois Nocturnes“ von Debussy und von zehn Rachmaninow-Liedern. Beides überzeugte. Debussy Nocturnes mit ihrem orchestralen Farbenreichtum werden auf dem Klavier fast zu einem anderen Werk. Soldanos feinste Klangabstufungen, seine Anschlagsdifferenzierungen ließen Linien und Konturen des Stücks gut verfolgen. Und wie Soldano die zehn Rachmaninow-Lieder in einer dramaturgisch spannenden Abfolge zusammenstellte, wie er die melodischen und pianistisch virtuosen Aspekte in seiner Bearbeitung und in seinem Spiel balancierte, zeigte ihn als einen faszinierenden und espritvollen Künstler.

Ergänzt wurden die acht Klavierabende der diesjährigen Raritäten der Klaviermusik durch eine Ausstellung zu dem wichtigen Chopin-Interpreten Raoul von Koczalski, der noch bei Karol Mikuli, einem Chopin-Schüler Unterricht hatte. Der Kurator Peter Seidle hatte Dokumente, Schallplatten, Noten zusammengestellt.

Das 40-jährige Jubiläum der Husumer Raritäten wirft seine Schatten voraus. Festival-Gründer und Leiter Peter Froundjian (Jahrgang 1948) wird bis dahin – nach eigenem Bekunden – das so wichtige Festival sicher betreuen und konzipieren, aber er sei auf der Suche nach einem Nachfolger, einer Nachfolgerin. Die Stadt Husum, der Kreis Nordfriesland sollte dieses Kleinod von Festival weiterpflegen. Es strahlt in alle Welt aus, es sollte ein Fixstern am Firmament des Klavier-Himmels bleiben.

Das Konzert von Alfonso Soldano wird am 28.09.2023 ab 20.03 in Deutschlandfunk Kultur gesendet.

Aktuelle CD, gerade erschienen:
Das jährliche Festival-Album mit ausgewählten Raritäten der Klaviermusik vom Vorjahresfestival 2022
Danacord (DACOCD 969)
Pianisten: u. a. Vadym Kholodenko, Kolja Lessing, Antonio Pompa-Baldi, Jean-Paul Gasparian, Musik: u. a. Beethoven, Mel Bonis, Cécile Chaminade, Ignace Strasfogel, Friedrich Gulda

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