Elektra in Baden-Baden

Wort-Oper

Philipp Stölzl inszeniert „Elektra“ in Baden-Baden, Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker

Von Georg Rudiger

(Baden-Baden, 24. März 2024) „Wo bleibt Elektra? Ist doch ihre Stunde, die Stunde, wo sie um den Vater heult, dass alle Wände schallen.“ Die ersten Worte von Richard Strauss’ Einakter nach Hugo von Hofmannsthals Bearbeitung der sophokleischen Tragödie führen mitten hinein ins dramatische, am Ende blutige Geschehen. Im Festspielhaus Baden-Baden sind bei der umjubelten „Elektra“-Premiere mit den unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko groß aufspielenden Berliner Philharmonikern Hofmannsthals Worte nicht nur auf der Übertitelungsanlage zu sehen, sondern werden auf die Bühne projiziert.

Jedes einzelne Wort dieser Oper wird im radikalen, handwerklich perfekt umgesetzten Regiekonzept von Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn inszeniert. Die Texte können zu Blöcken werden, wenn sich ein Dialog entspinnt. Einzelne Wörter erscheinen in großen Lettern wie „Ganz allein“, um Elektras Seelenzustand zu betonen. Wenn Nina Stemme Elektras Sehnsucht nach ihrem getöteten Vater Agamemnon artikuliert, werden die Buchstaben seines Namens in Bewegung gesetzt. Das alles kann einzelne Szenen verdichten, wie es das Regieteam beabsichtigte. Meist wird jedoch die Unmittelbarkeit der Bühnensprache gebrochen. Statt Fokussierung entsteht eine visuelle Überreizung. Die permanente Textflut, die mit 1000 einzelnen Videocues gesteuert wird (Video: Judith Selenko, Peter Venus), lenkt eher ab vom Geschehen.

Um die Texte optimal sichtbar machen zu können, hat Philipp Stölzl eine wandelbare, aus einzelnen Schubladen bestehende Bühnenwand gebaut, die als Projektionsfläche fungiert. Ein kühles, laborartiges Setting, in dem die Figuren ausgestellt sind, keinen Schutzraum haben und Kommunikation kaum möglich ist. Es gibt ein Oben und Unten wie in der Eingangsszene, wenn sich die Mägde über Elektra erheben. Die Wand kann auch zur steilen Treppe werden oder niedrige, klaustrophobische Räume bilden wie bei Klytämnestras erstem Auftritt. Sie, die ihren Gatten Agamemnon von ihrem Liebhaber Aegisth hat töten lassen, tritt mit langem weißem Haar und einem schwarzen Umhang (Kostüme: Kathi Maurer) von der Seite auf. Sie muss gebückt gehen. Die Schwere ihrer Schuld zwingt sie in die Knie. Schon bevor Michaela Schuster mit düsterer Tiefe von Klytämnetras Alpträumen singt, hört man ihre Panikattacken im Orchestergraben.

Bereits im letzten Jahr bei „Frau ohne Schatten“ setzte Kirill Petrenko an gleicher Stelle mit den Berliner Philharmonikern hinsichtlich Plastizität und Transparenz Maßstäbe in der Richard-Strauss-Interpretation. Im 111-köpfigen Riesenorchester ist jede kleinste Bläsergirlande zu hören. Die dunklen, selten zu hörenden Klangfarben von Heckelphon, Kontrabasstuba und Kontrabassposaune machen die latente Bedrohung spürbar. Die mehrfach geteilten Streicher runden den Orchesterklang, können aber auch Nadelstiche setzen wie vor der Tötung Klytämnestras.

Die Zwischenspiele, die mit unmerklichen Bühnenverwandlungen einhergehen, gelingen atmosphärisch dicht. Vor allem aber ist Petrenko ein Meister der Balance, so dass das hervorragende Solistenensemble nie forcieren muss. Neben Michaela Schuster, deren Klytämnestra darstellerisch und stimmlich in jeder Phase Präsenz entfaltet, war auch Elza van den Heever bereits im letzten Jahr in „Frau ohne Schatten“ Teil des Casts. Ihre Chrysothemis hat in der Höhe ein intensives Leuchten, das die Sehnsüchte von Elektras Schwester nach einem normalen, friedlichen Leben zum Klingen bringt. Elektra hingegen ist nur auf Rache aus. Nina Stemme zeichnet mit ihrem so strahlkräftigen wie flexiblen Sopran ein genaues Psychogramm dieser tief verletzten Frau.

Den triumphalen Tanz am Ende versagt ihr die Regie. Die musikalisch exponierte Begegnung mit ihrem vermissten Bruder Orest (mit rundem Bariton: Johan Reuter) ist in der Inszenierung leider verschenkt. Orest hinkt als Kriegsversehrter in Uniform mit Beinprothese und Krücken von oben auf die Treppe. Auch als sich die Geschwister erkennen, schauen sie sich nicht an. Die Bühne und die Personenführung gestatten selbst hier keine direkte Kommunikation. Dass Orests Mord an Klytämnestra und Aegisth (hell timbriert: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) auf offener Bühne passiert, wirkt in der konkreten Umsetzung unglaubwürdig, zumal sich Klytämnestras Stunt-Double nach dem Herunterstürzen zum Sterben noch schnell bequemer hinlegt. Hier erzählt nur die Musik von den Zuspitzungen und Abgründen.

Am Ende zaubern die Berliner Philharmoniker ein letztes Mal eindrucksvolle Stimmungswechsel zwischen dem wuchtigen Agamemnon-Akkord und seinem zarten Nachklang. Die drei Geschwister liegen mit verzerrter Miene in beklemmend niedrigen Hohlräumen. Diese Familie bleibt verflucht.

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