Thielemann, Levit und die Wiener Philharmoniker in Baden-Baden

Perfekt modulierte Übergänge

Christian Thielemann, Igor Levit und die Wiener Philharmoniker mit Werken von Brahms zu Gast in Baden-Baden

Von Georg Rudiger

(Baden-Baden, 15. Dezember 2023) Wenn starke Persönlichkeiten aufeinandertreffen, dann muss das nicht harmonieren. Es braucht Empathie und gegenseitiges Zuhören, damit die Begegnung auf Augenhöhe stattfindet und Zusammenarbeit von Erfolg gekrönt wird. Beim Gastspiel der Wiener Philharmoniker im ausverkauften Festspielhaus Baden-Baden waren gleich drei starke Persönlichkeiten zu erleben. Der Pianist Igor Levit, der Extreme berührt und in seinem körperlichen Spiel enorme Präsenz entfaltet, der Dirigent Christian Thielemann, ab Herbst 2024 Nachfolger von Daniel Barenboim als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, der jedem Klangkörper seinen Stempel aufdrückt. Und nicht zuletzt die Wiener Philharmoniker, die sich unter den immer ähnlicher werdenden internationalen Spitzenorchestern einen ganz eigenen Klang bewahrt haben.

Das merkt man gleich im ersten Takt von Johannes Brahms’ zweitem Klavierkonzert in B-Dur op. 83, wenn das Solohorn das aufsteigende Thema vorstellt. Klar definiert klingt die vom Wiener F-Horn gespielte Melodie: weich und trotzdem mit Kern. Das Instrument, das nur noch von wenigen Orchestern verwendet wird, über eine farbige Tongebung verfügt und extrem heikel im Ansatz ist, verleiht diesem Beginn Wärme und Kontur. Igor Levit zaubert einen sanft aufgefächerten Akkord dazu, der den Konzertflügel wie eine Harfe klingen lässt. Bevor der Pianist beim Forte-Einsatz eine ganz andere Seite der Musik zeigt: scharf gezeichnet, trotzig und mit viel Energie, die vom Orchester aufgenommen und weitergetragen wird. Die Annäherung zwischen Solist und Orchester, diese von Brahms komponierte, allmähliche gegenseitige Durchdringung, wird im Festspielhaus zum bestaunten Ereignis.

Das ist vor allem ein Verdienst von Christian Thielemann, dem Meister der Balance. Immer wieder geht er in die Knie und lehnt sich mit seinem Oberkörper nach hinten, um die Streicher noch eine Spur leiser werden zu lassen. Er ist kein Freund der scharfen Kontraste, sondern mag lieber die Übergänge, die er perfekt moduliert. Das eine entwickelt er aus dem anderen, holt Mittelstimmen heraus, macht das Stimmengeflecht hörbar. Und die Wiener Philharmoniker folgen ihm, ohne dabei an Identität zu verlieren. Das nur sparsam eingesetzte Vibrato sorgt bei den Holzbläsern für perfekte Klangmischungen. Aber auch den vielen rhythmischen Verzahnungen hilft sein exaktes Dirigat trotz der Verzögerung, die zwischen dem Impuls am Dirigentenpult und der klanglichen Umsetzung liegt. Jedes Pizzicato wird von ihm angezeigt.
Gerade hat Thielemann mit den Wiener Philharmonikern alle Bruckner-Symphonien eingespielt. Diese gegenseitige Vertrautheit merkt man in jedem Moment.

Man muss es nicht mögen, wenn Igor Levit auch mal mit dem Fuß aufstampft, um einer Klavierfigur besonderen Nachdruck zu verleihen. Aber Show ist das nicht – der auch medial sehr präsente Pianist verschreibt sich mit Haut und Haar der Musik. Und zeigt sich in Baden-Baden als Kammermusiker, der in einen intimen Dialog mit dem Orchester tritt und selbst im zerbrechlichsten Piano die Spannung hält. Wunderbar, wenn sich Levit nach dem edel gespielten Cellosolo im Andante einschleicht in die verklingenden Streicher und dann wie improvisiert die Triolenketten perlen lässt. Aber er kann auch zupacken wie zu Beginn des Allegro appassionato. Ein Anfang wie ein Raketenstart, der den Satz sofort in höchste Emotionalität katapultiert. Seine Steigerungen haben Sogwirkung, seine vollgriffigen Akkordballungen entfalten Kraft und Klang. Aus dem ungarisch getönten Finale machen Christian Thielemann, die Wiener Philharmoniker und Igor Levit eine raffinierte Delikatesse ohne dominierende Aromen. Die Zugabe dann wieder ganz verinnerlicht: Johannes Brahms’ Intermezzo op. 118 Nr. 2.

Auch Thielemanns Interpretation von Brahms’ 3. Symphonie nach der Pause verzichtet auf den knalligen Effekt. Die innere Unruhe des Kopfsatzes kommt von den Synkopen, die von den tiefen Streichern deutlich markiert werden. Die Energie wird gestaut, nicht ungehemmt losgelassen. Das erhöht die Spannung. Und lässt genügend Raum für das heimelige Seitenthema in Klarinette und Fagott. Im Andante lässt Thielemann mit dem groß aufspielenden Orchester gerade im Pianobereich viele Nuancen entstehen. Das melancholisch gefärbte Poco Allegretto lebt von der Sorgfalt im Detail. Im Finale lässt Christian Thielemann zumindest streckenweise die Leinen los – und die Wiener Philharmoniker stürzen sich geradezu in die trotzigen Punktierungen und die mit Akzenten verschärfte Achtelläufe. Dass ausgerechnet der leise, lang ausgehaltene Schlussakkord wackelt, ist fast schon ein Trost nach so viel Perfektion.

Große Begeisterung im Festspielhaus! Und der zugegebene Furioso-Galopp von Johann Strauss als köstlicher Appetizer auf das bald wieder anstehende Neujahrskonzert.

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