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130 Suchergebnisse für: Feuchtner

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Das Berlin-Tokyo-Quartet mit einer Wiederentdeckung von Gabriel Popow in Berlin

Sehnsucht nach Brüderlichkeit

Das Quartet Berlin-Tokyo spielt Gabriel Popows grandiose Quartett-Sinfonie

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 26. November 2021) Ein unbekanntes Meisterwerk, kann es das geben? Ach ja, es gibt so viele! Sie werden dem Publikum vorenthalten durch ahnungslose Veranstalter – leider machen die Menschen ja auch immer weniger selbst zuhause Musik und entdecken deshalb auch keine verborgenen Schätze mehr. Ganz besonders tragisch ist das bei den sowjetischen Komponisten, die Opfer von Stalins Schergen wurden: Wenn die Funktionäre in der ersten Reihe nicht klatschten, wagte der ganze Saal nicht zu klatschen und das Werk ward nie wieder gesehen. Gabriel Popow war so ein Fall. Er gehörte zum Freundeskreis von Schostakowitsch und hatte 1935 seine großartige erste Sinfonie vorgestellt. Die Stalinisten fielen so gnadenlos darüber her, dass an die Uraufführung von Schostakowitschs Vierter nicht mehr zu denken war. Im Westen interessiert sich bis heute niemand dafür. Bei Mieczysław Weinberg staunen jetzt alle: Warum haben wir davon nichts gewusst?! Gawriil Popow wäre auch so ein Kandidat.

„Litowski und Bojarski sind empört über das Verbot der Sinfonie von Popow. Sie wollen eine Kommission gründen. Ich dagegen habe vorgeschlagen, die Jury einzuberufen, die Popow prämiert hat, damit diese sich entweder selbst geißelt oder der Entscheidung der Repertkom widerspricht,“ schrieb Schostakowitsch am 31. März 1935 an seinen Freund Iwan Sollertinski. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er noch daran, Können und Argumente könnten etwas ausrichten, bevor er im Januar 1936 durch den berüchtigten Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ eines Besseren belehrt wurde.

Popow war nun ein rotes Tuch und durfte keinen Erfolg haben. Er komponierte weiter. Im Jahr 1951, als die Schrauben ein weiteres Mal angezogen wurden, legte er sein Streichquartett C-Dur op. 61 mit sinfonischen Ausmaßen vor. Und nannte es auch noch „Quartett-Sinfonie“. Nach der Uraufführung verschwand sie – aber nicht spurlos. Der Komponist Boris Yoffe wusste, wonach er sucht, und fand die Noten in einer Moskauer Bibliothek. Und das Quartet Berlin-Tokyo griff die Anregung auf und spielte die Quartett-Sinfonie auf seinem Label QBT zum ersten Mal ein. In der Berliner Charlottenburger Gustav-Adolf-Kirche, wo auch die fabelhafte Aufnahme stattgefunden hatte, stellten sie die CD in einem Konzert vor.

Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Vom ersten Takt an überzeugende, originelle Musik und ein mitreißender Ideen-Strom, der das Publikum fünfzig Minuten lang nicht aus der Spannung entlässt. Der erste Satz, der beinahe eine halbe Stunde dauert, beginnt zwar „Allegro eroico“, doch bald schon überlässt er sich erst einmal gelassenem Träumen. Wie dieser Satz zwischen Attacke und passiver Hingabe pendelt, ist hinreißend. Sein C-Dur wird stets ein wenig verschoben, verhakt sich in Dissonanz, um sich aber gleich wieder freizuschwimmen. In der Reprise nimmt die Musik in einem kleinen Fugato Anlauf, um sich dann über eine wilde Ostinato-Figur der zweiten Geige (Dimitri Pavlov) auf eine Insel einsamer Schönheit aufzuschwingen: Der Satz endet in einer sanften Hymne und verklingt leise. Man empfindet „Luft von anderen Planeten“.

„Volando“ fliegt der zweite Satz in der Eleganz eines Mendelssohn-Scherzos vorbei. Spielweisen wie Pizzicato, Flageolett und Dämpfer nutzt Popow gerne als Farbschattierung. Der langsame Satz „Adagio cantabile colla dolcezza poetico“ singt sich hochgestimmt aus, und ist voller überraschender Perspektivenwechsel. Sein liedhaftes Thema ist nur scheinbar schlicht. In der Mitte hat das Cello eine ausführliche Kadenz, von Ruiko Matsumoto mit ihrem wunderbar kernigen Klang souverän gespielt. Auch die Bratsche (Gregor Hrabar) trägt wesentlich zu diesem Klangerlebnis bei, das auch deshalb so intensiv ist, weil die erste Geige (Tyuyoshi Moriya) sich ins feine Gewebe fügt.

Die Musiker haben sich 2013 als Studenten der beiden Berliner Musikschulen gefunden und seitdem großartig entwickelt. Beim Heidelberger Frühling waren sie ebenso zu Gast wie beim Davos-Festival. Die unerhörten Spielanforderungen Popows meistern sie schwerelos. Kantabel, ja sogar „giocoso“ ist auch das Finale, das nicht affirmativ verklingt, sondern bloß frohgemut. Alsbald klingt Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ an – diese Musik sehnt sich nach Brüderlichkeit, von der der Kommunismus doch einst gesprochen hatte. Hat nichts genützt, Popow wurde weiter unterdrückt. Umso dankbarer muss man dem Quartet Berlin-Tokyo für die Wiedererweckung sein.

Ihr großartiges Können hatten die Vier zuvor schon an den Fünf Stücken für Streichquartett (1923) von Erwin Schulhoff demonstriert. Die fünf Tänze – vom Wiener Walzer über Tango-Milonga bis zur Tarantella – wirken wie aus einem Film von Buñuel. Die Tänzer zeigen sich als gespenstische Silhouetten vergangener Lustbarkeiten. Der fliegende Wechsel der Melodien durch die Instrumente wird mit äußerster Eleganz vollzogen. An den Anfang dieses außergewöhnlichen Konzerts in Otto Bartnings expressionistischem Kirchenbau von 1932 hatten die Musiker aber vier Miniaturen aus Boris Yoffes „Quartettbuch“ gestellt. Der Anreger dieser Wiederentdeckung schreibt jeden Tag einen kleinen Quartettmoment. Beinahe handelt es sich nur um ausformulierte Gesten. Meisterhaft ausgehörtes und ebenso fein und zart gespieltes Gewebe. Schon hier starker Beifall. Nach Popow gab es stehende Ovationen von einem enthusiasmierten Publikum.

Die CD kann man beziehen über https://www.quartetberlintokyo.com/

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Petrenko begeistert mit Mazeppa in Berlin

Urgewalten und Blumenwiesen

Kirill Petrenko triumphiert in Berlin mit Tschaikowskys „Mazeppa“

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 14. November 2021) „Das war gut, so mag ich’s,“ singt der Kosaken-Hetman der Ukraine, nachdem die Volkslieder und -Tänze verklungen sind. Er sagt das nicht, weil der Rundfunkchor so toll gesungen und die Philharmoniker so kernig gespielt haben. Er mag ein volkstümliches Volk, weil das seinen Machtambitionen förderlich ist: Mazeppa will die Ukraine von der Gängelung durch Russland und Polen befreien und sich auf den (zu schaffenden) ukrainischen Zarenthron schwingen. Tschaikowsky kam das Kolorit entgegen, da er sich gerne auf dem ukrainischen Gut seiner Schwester aufhielt und dort Geschmack an der Folklore gefunden hatte, wovon auch seine 2. Sinfonie, die „Ukrainische“ von 1872 zeugt.

Nach zwei Konzerten im Festspielhaus Baden-Baden sind die Berliner Philharmoniker wie losgelassen, als sie Peter Tschaikowskys Oper „Mazeppa“, die zwischen 1881 und 1883 entstand, in der brillanten heimischen Akustik zum dritten und letzten Mal spielen dürfen. Aufgeboten sind die 80 Damen und Herren des Rundfunkchors Berlin und die Crème de la crème russischen Operngesangs. Die Ouvertüre beginnt martialisch wie eine Krieger-Ballade, der ausladende historische Tableaux folgen. Da der Komponist aber Tschaikowsky heißt, gerät bald ein anderes Thema in den Mittelpunkt: die verbotene Liebe. Der Hetman hat neben der Machtgier noch eine weitere Schwäche, nämlich für seine Patentochter Maria. Beides wird ihn zu Fall bringen: Als er bei seinem guten Freund Wassili Kotschubej um ihre Hand anhält, macht er ihn sich zum Feind. Denn Mazeppa ist ein alter Mann, er selbst bezeichnet sich nicht anders. Maria schwärmt von dem mächtigen Hetman, den sie so gerne reden hört, und folgt ihm.

Die erste Szene der Oper zeigt Maria in unschuldiger Mädchenblüte. Die Sopranistin Olga Peretyatko präsentiert hier nur einen Vorschein ihres immensen Könnens, das sich erst im Finalakt offenbaren wird, wenn Maria unter den Trümmern dieser Helden zermalmt sein wird. Dmitry Golovnin als ihr Sandkastenfreund Andrej schwärmt und fleht mit seinem Strahle-Tenor in den schönsten melodischen Bögen, doch die ebenso leidenschaftlichen Linien Marias schmiegen sich nur scheinbar an, in Wirklichkeit erteilt sie ihm eine Abfuhr. In der Rolle des Vaters kann Bassist Dimitry Ulyanov im Kräftemessen mit Mazeppa schon hier die ganze Wucht seines Prachtorgans in hyperdynamischen Legatolinien ausspielen. Noch angsteinflößender wird er, wenn sich ihm Oksana Volkova als seine Gattin Ljubov zugesellt, deren voller Mezzo ihn in immer höherer Erregungsamplitude aufhetzt, bis er bereit ist, seinen alten Freund Mazeppa an Zar Peter I. zu verraten und der Folter auszusetzen.

Doch der Zar glaubt Mazeppa und liefert ihm Kotschubej aus, der seine nächste Arie im Kerker unter der Folter singt. Nun kann Vladislav Sulimsky im Machtrausch die ganze Gewalt seines fabelhaften Baritons entfesseln und kaltblütig abrechnen. Damit versetzt Mazeppa Maria die entscheidende Wunde, in die ihre Mutter nun mit ihren Enthüllungen Gift träufeln kann. Als die beiden am Richtplatz ankommen, ist Kotschubej schon nicht mehr zu retten. Orchester- und Chormassen steigern sich in einen rasanten, prachtvollen und anschließend vom Publikum frenetisch bejubelten Blutrausch hinein.

Man sollte glauben, dass eine konzertante Aufführung (ohne Corona hätte es eine szenische gegeben) das Drama, das Tschaikowsky so genau in Musik ausgeführt hat, genauer zu gestalten vermag als eine problematische Inszenierung. Doch wenn der Sänger des jungen Andrej älter aussieht als der des Mazeppa, bekommt die Illusion doch einen Knacks, was Kostüm, Maske und Bewegung kaschiert hätten. Auch Mazeppas Alter ist relativ – mit 50 sah Tschaikowsky aus wie ein alter Mann, doch war er meist verliebt in jüngere Männer. Er litt auch nicht an seiner Homosexualität, sondern an denen, die ihn zwingen wollten, nach ihren Anschauungen zu leben und zu lieben. Das Gleiche geschieht Maria. Deshalb ist sie die Hauptperson von „Mazeppa“, mit der alles beginnt und endet. Das geht in der Brillanz der konzertanten Aufführung etwas unter.

Die Magie, mit der Kirill Petrenko das Orchester durch diese Urgewalten und über die Blumenwiesen schleust, ist unfehlbar. Tschaikowsky charakterisiert mit dem Lärm die Gewalt der Machthaber, die an all dem Unglück der Menschen Schuld haben. Dagegen setzt er die Farben der Natur und die reinen Empfindungen von Maria, die der einzige sympathische Mensch dieser Oper bleibt. Unglaublich subtil die Mischungen der Holzbläser, das weiche Weben und energische Jagen der Streicher bis hinab in die prachtvollen Kontrabässe. Doch gegen die unmenschliche, martialische Gewalt haben Natur und Mensch keine Chance.

Das kriegerische Getöse erreicht im Zwischenspiel zum 3. Akt seinen Höhepunkt. Beängstigend die Präzision der rasenden Blechbläser und die schneidende Schärfe der Schlagzeuger – Mazeppa verliert die Schlacht von Poltawa. Noch als Flüchtling erschießt er Andrej, der ihm aufgelauert hat, und flieht, ohne sich weiter um Maria zu scheren. Die ist über allem dem Wahnsinn anheimgefallen. Olga Peretyatko kommt im dritten Abendkleid auf die Bühne und singt die Wahnsinnsszene der Maria mit surreal entrückter Stimme. Die Oper verklingt pianissimo ins Offene.

Das Publikum ist hingerissen und feiert die vier Hauptprotagonisten, den von Gijs Leenaars fantastisch einstudierten Rundfunkchor, die Philharmoniker und vor allem den Dirigenten mit stehenden Ovationen. Das war wirklich ganz große Oper. Mehr aber auch nicht.

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Emmanuelle Haïm dirigiert Campras Idoménée in Berlin

Der Mensch denkt, mindestens ein Gott lenkt

Emmanuelle Haïm begeistert mit André Campras „Idoménée“ bei den Tagen der Alten Musik an der Berliner Staatsoper

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 10. November 2021) Manche sagen ja, dass das Spannendste an der Staatsoper Unter den Linden bei den Barocktagen passiert. Dann ist die Staatskapelle mit Barenboim auf Tournee und exquisite Barockspezialisten übernehmen das Haus. Lange wurde diese Zeit durch René Jacobs geprägt. In diesem Jahr gibt es einen französischen Schwerpunkt mit Rameaus „Hippolyte et Aricie“ mit Simon Rattle und dem Freiburger Barockorchester, Glucks „Orfeo ed Euridice“ mit Christophe Rousset und der Akademie für Alte Musik (in der Wiener Fassung auf Italienisch) und Campras „Idoménée“ mit Emmanuelle Haïm und dem Concert d‘Astrée.

Der aus Aix-en-Provence stammende André Campra (1660-1744) hatte der französischen Oper nach dem Tod Lullys 1687 zuerst mit dem Opéra-ballet „L’Europe galante“ (1697), das schon mehrmals erfolgreich wiederaufgeführt wurde, frisches Blut zugeführt. Campra stand damit zwischen Lully und Rameau, der erst 1733 mit der Tragédie lyrique „Hippolyte et Aricie“ zum ersten Mal bei der Académie royale antreten sollte. Campra hatte einige Elemente der neuen italienischen Oper übernommen, die die überlebten Lully-Musik vom Steif-Zeremonielle befreiten. Mit seine Tragédie en musique „Idoménée“ kam 1712 der griechische Sagen-Stoff um den kretischen König Idomeneos zum ersten Mal auf die Opernbühne, den 1781 auch Mozart in München komponierte. Die Geschichte läuft bei beiden sehr ähnlich ab – bis auf den tragischen Schluss bei Campra.

Die neue Produktion des Concert d’Astrée, die zuerst in Lille herauskam, weckte uneingeschränkte Begeisterung für Campras Idomeneos-Oper. Am Anfang steht natürlich ein Prolog, in dem die Götter das Schicksal der Menschen aushecken. Die haben es danach auszubaden. Hier ist es Venus, der die siegreichen Griechen verhasst sind und die Idoménée an der glücklichen Heimfahrt hindern will. Sie stachelt Éole (Äolus, den Gott der Winde) an, einen fürchterlichen Sturm zu entfachen. In solchen Momenten ist Emmanuelle Haïm ebenso in ihrem Element wie in den prachtvollen Divertissements bei Hofe.

In Prolog und erstem Akt steht eine mächtige Barock-Bettstadt in der Bühnenmitte, der wahlweise Venus oder Ilione entsteigt. Auf ihr regiert Bariton Yoann Dubruque als Éole die stürmischen Winde – hier kann er noch wenig Eindruck machen, dafür wird er als Neptun ein gefährlicher Gegner Idoménées sein. Mezzo Eva Zaïcik ist eine ziemlich zickige Venus, deren schöne Stimme nur Tarnung ist. Sopran Chiara Skerath ist die gefangene trojanische Prinzessin Ilione, die zudem Idoménée als seine künftige Gattin nach Kreta vorausgeschickt hat, was ihre Lage nicht besser macht. Wunderbar zart sind ihre Töne, wenn der kretische Prinz Idamante ihr seine Liebe offenbart, sie kann aber auch scharf werden, wenn sie ihn zurückweist, weil sie seinem Vater verpflichtet ist. Das Zusammenspiel und die musikalische Zwiesprache zwischen Chiara Skerath und Samuel Boden, der den jungen Prinzen gibt, ist tief berührend. Samuel Boden hat zwar nur eine Arie, doch wie empfindsam er sie mit seinem schönen und ausdrucksvollen Tenor gestaltet, ist schlicht überwältigend.

Im zweiten Akt – das Himmelbett ist durch einen großen Stein vertauscht – findet die große Begegnung zwischen Idoménée und seinem Sohn Idamante statt. Samuel Boden und Tassis Christoyannis gestalten das lange hinausgezögerte Erkennen überaus einfühlsam und berührend – das ist nicht weniger tief als bei Mozart. Nachdem der Vater den gerade erst gefundenen Sohn mit einer Drohung weggejagt hat, taucht Électre auf, die ihre Felle davonschwimmen sieht. Bei Campra ist sie aber alles andere als hysterisch, und die Sopranistin Hélène Carpentier weiß dieser verzweifelten Frau sehr viel Gefühl mitzugeben, das sich im Orchester in den drei sanften Flöten spiegelt. Im hochgefahrenen Orchestergraben überlässt die Dirigentin die Rezitative dem Continuo, um dann desto hingebungsvoller in die Szenen und Divertissements einzutauchen. Campras Orchester – jedenfalls so, wie es nach der Fassung von 1732 rekonstruiert ist – klingt wunderbar farbenreich und dynamisch, aber auch traumhaft schwebend oder elegisch.

Électre, das weißhaarige Mädchen, hat sich in Wut gesungen und stachelt Venus auf, Idoménée gegenüber seinen Sohn eifersüchtig zu machen. Der eine weiße Vamp rauscht nach links von der Bühne, der andere weiße Vamp wird von rechts hereingeschoben. Seinen Auftritt inmitten der Venusjünger muss der ausgezeichnete junge Bariton Victor Sicard als Transvestit absolvieren, als seien wir in die Rocky Horror Picture Show geraten. Sängerisch und darstellerisch macht er das glänzend, auch am Ende als Nemesis treibt er Idoménée wirksam in den Wahnsinn.

Beglückend auch die Szene im dritten Akt, in der Idamante und Ilione sich ihre Liebe gestehen. Doch der König hat ihn ja zur Abreise mit Électre nach Argos bestimmt – auch weil er dadurch den Rivalen loswird. Doch der Meeresgott Protée (Frédéric Caton mit herrlich drohendem Bass) kündigt ein Seeungeheuer an, das überall Verwüstungen anrichten werde. Im vierten Akt bietet uns eine weitere Annäherung von Idamante und Ilione noch einen musikalischen Höhepunkt, nach dem Idamante allerdings aufbricht, um im Kampf gegen das Ungeheuer sein Leben zu verlieren. Währenddessen zelebriert Idomenée ein zeremonielles Opferritual (mit weißem Tempelherrenchor) an einem Idamante-Double, um Neptun zu besänftigen. Als die Nachricht kommt, Idamante habe das Ungeheuer besiegt, scheint alles in Ordnung.

Anders als bei Mozart siegt am Ende nicht die Humanität, sondern der Hass der unmenschlichen Götter. Nemesis (Victor Sicard trägt unter seinem weißen Umhang noch die schwarzen Strapse) verblendet den König, der im Wahnsinn seinen Sohn ersticht – ebenfalls eine sehr starke Szene. Wenn der Vorhang fällt, sehen wir nur noch den verzweifelten Idoménée, der für den Rest seiner Tage nicht mehr froh werden wird.

Die Inszenierung macht es den Zuschauern leider nicht leicht, der nicht unkomplizierten Handlung zu folgen. Es taucht eine verwirrende Zahl von Doppelgängern auf: Venus ist eine Spiegelung von Ilione (aber dann auch von Électre?), Äolus trägt den gleichen königsblauen Anzug (Kostüme: Lluc Castells) wie Idamante, während Idoménée gleich drei Doppelgänger mit langem Grauhaar und -bart und in derselben blauen Uniform mit derselben üppigen Ordensspange hat: Neptune, Protée und Arcas. Wer war dann aber Arbas? Ach so, Frédéric Caton sang beide Bassrollen, Protée und Arbas! Da im Programmheft die Stimmlagen der Rollen nicht angegeben sind, es keine Liste der Musiknummern gibt und die Kurzfassung der Handlung bei den Personen auch nicht immer ganz klar ist, kann man da schon den Überblick verlieren. So sind es hier eigentlich nur vier wirklich handelnde Personen: der König, sein Sohn, die von beiden geliebte Trojanerin und die in Idamante verliebte Elektra; die Götter sind wohl freudianisch dem Ödipus-Komplex zugeordnet.

An die tollen, wilden Straßentheater-Events der katalanischen Fura dels Baus erinnern sich nur noch die Älteren unter den Zuschauern – Àlex Ollé hat sich seit langem auf die Oper verlegt. Die Probleme sind allbekannt: Er produziert vor allem beeindruckende Bilder, aber bei der Personenführung passiert wenig – wenn dann auch noch alle gleich aussehen, ist man verloren. Koregisseurin Susana Gómez konnte daran offenbar wenig ändern. Alfons Flores hat ein Bühnenbild für Projektionen gebaut, die auf Plexiglas-Sofitten geworfen werden. Der Preis: Das Publikum auf den Rängen wird vom Licht der Beamer häufig geblendet. Auf diesen Glaswänden lässt sich mancher Sturm entfachen (Video: Emmanuel Carlier). Bei den Szenen am Hof sind das meist dekorative Rahmen – nicht immer ist die naheliegende auch die beste Lösung, denn Barock, das ist alles andere als nur Prunk.

Die Divertissements bei Hof werden von der Compagnie Dantzas ausgeführt – eine Schar weißgekleideter Gecken, unter denen sich auch ein paar schwarze Schafe befinden. Die Tänzer zucken sehr dekorativ und modisch (Choreographie: Martin Harriague) – die Menschen im Barock waren doch eigentlich erotisch recht vielseitig, hier aber geht’s immer nur um Sex. Die Tanzgruppe verbindet sich mit dem Chor des Concert d’Astrée, der weitere Höflinge beisteuert – solcherart Glamourgesellschaften sieht man (nicht nur) auf französischen Bühnen häufig. Dem großartigen Musikerlebnis konnte all der Schnickschnack glücklicherweise nichts anhaben. Campras „Idoménée“ hat sich tief eingegraben ins Gemüt der Zuschauer, die alle Beteiligten laut und ausdauernd feierten.

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Panzerkreuzer Potemkin mit Schostakowitsch-Musik in Berlin

Tobende Gewalt und brütende Ruhe

Frank Strobel stellt in Berlin seine Schostakowitsch-Fassung für den Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ vor

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 1. November 2021) Da Dimitri Schostakowitsch ein versierter sowjetischer Filmkomponist war, liegt die Verbindung zwischen Sergej Eisenstein und ihm nahe. Es hat auch in Russland schon einen Versuch gegeben, dem Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ Musik von Schostakowitsch zu unterlegen – mit mäßigem Erfolg. Im Gegensatz zu „Alexander Newski“ und „Iwan der Schreckliche“, wo der Regisseur die Filmmusik mit Sergej Prokofjew gemeinsam entwickelte, wollte Eisenstein die musikalische Untermalung dieses Films über den Matrosenaufstand von 1905 vor Odessa dem jeweiligen Aufführungsort überlassen. In Moskau war das 1925 Musik von Tschaikowsky, Beethoven usw. Für die Berliner Erstaufführung 1926 schrieb Edmund Meisel eine Partitur, die vor einiger Zeit rekonstruiert und in Livekonzerten wieder aufgeführt wurde.

Der renommierte und erfahrene Filmmusik-Dirigent Frank Strobel hatte eine eigene Idee: Er setzte eine neue Partitur zusammen, indem er dem Film über 100 Schnipsel aus den Schostakowitsch-Sinfonien Nr. 4, 5, 8, und 11 unterlegte. Die Elfte trägt die Revolution von 1905 ja schon im Titel und ist so illustrativ, dass sie sich von selbst anbietet. Für den Beginn wählte Strobel allerdings den Anfang der Vierten mit seinen drei gellenden Signalen und dem unbarmherzig stampfenden Tritt der Zeit – alarmierender hätte der Film nicht beginnen können.

Auf dem Podium des Konzerthauses hatte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in großer Besetzung Platz genommen. Die Musiker des RSB spielten die ganze Klangmacht der Schostakowitsch-Partituren aus – sei es in größter Schärfe und brüllendem Toben, sei es in leisen Nuancen kontemplativer Passagen und trauernder Episoden. So ganz nebenbei wird einem bewusst, wieviel Gewalt die Musik Schostakowitschs aus seiner gesellschaftlichen Umgebung aufgesogen hat und wieviel ohnmächtiges Brüten in ihren ruhigen Flächen ruht.

Für die Szenen des Aufruhrs, die Schilderung des kameradschaftlichen Lebens der Matrosen und der niederträchtigen Haltung der Offiziere fand Strobel genügend Material. Er verknüpfte die meist kürzeren Schnipsel so meisterhaft miteinander, dass kaum harmonische oder klangliche Schnitte hörbar werden. Den dritten Akt mit seiner umfänglichen Ausbreitung der Trauer um den getöteten Matrosenführer unterlegt Strobel allerdings mit einer längeren Passage aus der Elften, in der der Hymnus „Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin“ verarbeitet ist. Da hat man dann die Gelegenheit, in Ruhe den geschickten Aufbau dieser Ausdehnung der Trauer und des Entsetzens auf die gesamte Bevölkerung zu beobachten – dass dies ein Propagandafilm war, ist ja kein Geheimnis. Erst zum Schluss, als die Trauer umschlägt in den Aufstand, wird auch die Musik wieder erregt.

Zwiespältig die Wirkung des sarkastischen Scherzos der Fünften als Unterlegung des fröhlichen Aufbruchs der Boote, mit denen die Bevölkerung den Panzerkreuzer mit Lebensmitteln versorgt: die Bilder bekommen dadurch etwas Putziges. Es ist also nicht so, dass Strobel den Propagandaeffekt nicht auch leise ironisch kommentieren würde. Bei der Treppenszene spielt er die Gewalt der feuernden Soldaten wieder mit den Gewehrsalven aus der Elften drastisch aus. Schostakowitschs martialische Musik lädt jedes Bild mit Schrecken auf und lässt dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren. Der Warnschuss des Panzerkreuzers richtet sich gegen – das Theater, das hier als Symbol der Bourgeoisie gilt. Glücklicherweise wurden bei den Dreharbeiten nur ein paar Löwenstatuen als pars pro toto gezeigt und zerstört.

Die Begegnung der Aufständischen mit dem Admiralsgeschwader ist mit dem Scherzo der Achten unterlegt – diese Musik treibt unerbittlich voran. Zusammen mit den Bildern wird sinnlich erfahrbar, wieviel Zwang, Getriebensein und Angst in dieser Musik steckt. Frank Strobel leitet die Aufführung mit Verve und liebevollem Verweilen, punktgenau zu den Filmszenen. Die Musiker des RSB haben sicht- und hörbar Spaß dabei und außerdem gibt es wunderschöne Soli zu spielen. Das Publikum im gut verkauften Saal war dann geplättet und glücklich.

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Buchneuerscheinung „Hat Musikjournalismus noch eine Zukunft?“

Die Aufsatzsammlung „Hat Musikjournalismus noch eine Zukunft?“ beschäftigt sich mit der schwierigen Lage des Musikjournalismus in Deutschland und bewertet dessen Zukunftsaussichten.

Wird er noch geschätzt, der öffentliche und kritische Diskurs über Musik, für den es in den Feuilletons immer weniger Raum gibt? Welche Bedeutung hat die Vermittlungs-, Navigatoren- und Bewertungsfunktion von Musikjournalismus angesichts globaler und digitaler Medien mit ihren Such-, Präsentations- und Kommunikationsmöglichkeiten? Brauchen Konzerte, Opernpremieren, Uraufführungen oder Audio-Veröffentlichungen noch eine Vermittlung außerhalb von PR-Journalismus und multimedialem Marketing? Zu solchen Fragen rund um die Zukunft des Musikjournalismus baten Robert Jungwirth (KlassikInfo) und Michael Schmidt (BR-KLASSIK) Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen des Musiklebens um ihre Gedanken.
Gesammelt kann man diese nun in dem Band „Hat Musikjournalismus noch eine Zukunft?“, herausgegeben von Robert Jungwirth und Michael Schmidt lesen. Erschienen ist das Buch im Verlag Königshausen&Neumann.

Die Idee zu einer solchen Beitragsreihe entstand nach einer Diskussion über die Zukunft des Musikjournalismus, die im Mai 2017 aus Anlass des 10jährigen Bestehens von KlassikInfo in München stattfand und in dem Online-Magazin für klassische Musik ab Juli 2018 in loser Folge erschien. Das Buch versammelt ganz bewusst unterschiedliche Positionen, die das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Autor*innen sind neben den Herausgebern die Pianistin Yaara Tal, der Komponist Manos Tsangaris, der Fagottist und Professor für Musikpädagogik an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf Wolfgang Rüdiger, der Musikpublizist und ehemalige Operndirektor Bernd Feuchtner, die Pressereferentin des Deutschen Musikrats und frühere Pressechefin des Rheingau Musik Festival Sabine Siemon, der Leiter des baden-württembergischen Landeszentrums für Musikjournalismus und Musikinformatik Jürgen Christ, der Leiter des Studiengangs Digitale Kommunikation an der Hochschule für Musik und Theater der Leiter des Masterstudiengangs Digitale Kommunikation an der Hochschule für Musik und Theater München Frizz Lauterbach sowie der Musikphilosoph Harry Lehmann.

Inhalt

Robert Jungwirth: Musikjournalismus in der Mehrfach-Krise

Yaara Tal: Musikjournalismus: Gestern, heute. Auch Morgen?

Manos Tsangaris: krise?

Sabine Siemon: Musikjournalismus heute

Bernd Feuchtner: Der Musikkritiker als Partner – Erfahrungen eines Operndirektors

Wolfgang Rüdiger: Für einen Dialog der Kulturen von Kunst und Kritik

Harry Lehman: Ein Blick in die Zukunft des Musikjournalismus

Frizz Lauterbach: Die Zukunft in Musik und Medien hat längst begonnen

Jürgen Christ: Fitmachen für die Zukunft des Musikjournalismus als Hochschulaufgabe

Michael Schmidt: Musikjournalismus und multimediale Musikvermittlung

Herausgeber:

Robert Jungwirth war Musikredakteur beim Münchner Merkur bevor er als Autor und Moderator zum Hörfunk des Bayerischen Rundfunks wechselte. 2007 gründete er das Online-Magazin für klassische Musik KlassikInfo.

Prof. Dr. Michael Schmidt widmet sich der multimedialen Musikvermittlung als Koordinator im Programmbereich BR-KLASSIK des Bayerischen Rundfunks sowie in seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Musik und Theater München und der European Graduate School.

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Rihms Proserpina an der Neuen Oper Wien

Die Hölle im Orchestergraben

Anna Bernreitner inszeniert „Proserpina“ von Wolfgang Rihm an der Neuen Oper Wien

Von Bernd Feuchtner

(Wien, 29. Oktober 2021) Als es im Theater dunkel wird und der Vorhang hochgezogen wird, erscheint dahinter ein Schleier, hinter dem das Orchester zu erkennen ist. Nur in der Mitte, wo der Dirigent zu vermuten ist, bleibt es schwarz. Dann flackert der schwache Schein der Video-Produktion auf. Der Orchestergraben ist unbenutzt, doch die entsprechenden Stuhlreihen sind dennoch ausgebaut. Vor dem Schleier ist kein Platz fürs Spiel – wird Proserpina in einem anderen Raum agieren und in das Video hineinmoniert werden?

Das Orchester beginnt mit archaischen Klängen einzelner Instrumente, die sich erst schwer zu einem Zusammenhang fügen wollen. Dann sehen wir auf dem Video eine verängstigte Frauengestalt: Proserpina, das Sonnenkind, Tochter von Ceres und Jupiter. Sie ist von Pluto geraubt und in die Unterwelt verschleppt worden. Noch hat sie ihr Sommerkleidchen an. In ihrer düsteren Umgebung ist keine Farbe zu erkennen und sie muss erst wieder zu sich selbst finden.

Den Text seines Melodrams „Proserpina“ hatte Goethe in der zweiten Hälfte 1777 nach dem Tod seiner 26-jährigen Schwester Cornelia geschrieben. Vertont von Siegmund von Seckendorff, wurde es in Anna Amalias Schloss Ettersburg am 10. Juni 1779 durch die Sängerin Corona Schröter als Intermezzo uraufgeführt. Erst 1814 regte Goethes Lieblingsschauspieler Pius Alexander Wolff den Weimarer Komponisten Carl Eberwein (1786-1868) zu einer Neukomposition an, an der Goethe bewegten Anteil nahm. Das neue Melodram wurde am Geburtstag des Thronfolgers Carl Friedrich am 4. Februar 1815 durch Amalie Wolff so erfolgreich uraufgeführt, dass weitere Aufführungen folgten. Goethe selbst äußerte sich im Morgenblatt für die gebildeten Stände vom 8. Juni 1815 zu seinen weiteren Intentionen. Dann fiel das Werk für zwei Jahrhunderte dem Vergessen anheim. Erst Peter Gülke realisierte 1997 eine schöne Einspielung mit Salome Kammer, jedoch mit Retouchen. 2007 fand dann in Dublin eine konzertante Wiederaufführung der Originalpartitur statt, die auch aufgezeichnet wurde. (Eine szenische Aufführung in Deutschland ist immer noch ein Desiderat.)

Wolfgang Rihm schrieb seine Fassung des Goethe-Monodramas für die Schwetzinger Festspiele 2009, wo Moica Erdmann sang und das RSO Stuttgart unter der Leitung von Jonathan Stockhammer spielte. Die führenden Kritiker rügten Rihm dafür, dass seiner Partitur Wohlklang eigne, wo doch so ein finsteres Schicksal besungen werde. Rihms Musik ist jedoch in keiner Weise regressiv, sondern lediglich zugänglich. Das Publikum in Wien ist denn auch spürbar mitgegangen. Irgendwann dämmert es ihm dann auch, dass dieser seltsam lichtlose Raum da vor uns im Orchestergraben sein muss, denn wir hören die Stimme ja doch im Raum und nicht durch Lautsprecher. In der Tat haben Hannah Rosa Öllinger und Manfred Rainer einen Raum nach Art des Künstlers Hans op de Beeck gestaltet, der ganz normale Zimmer vollständig mit grauer Farbe zu übermalen pflegt.

Das macht Sinn: Proserpina ist statt in den Hades in den Orchestergraben hinabgestiegen, aus dem es kein Entkommen gibt, wenigstens nicht bis zum Schluss, wenn ein Bühnenarbeiter die Sängerin befreit. In diesem klaustrophobischen Raum wird sie von Kameras beobachtet, die ihre Bilder wechselweise auf die Videoleinwand lenken. Die Sängerin muss sich also nicht nur auf die nicht unkomplizierte Musik konzentrieren, sondern auch immer in die richtige Kamera singen. Dass auch eine Kamerafrau mit Livekamera dabei ist, wird erst beim Schlussapplaus klar – sichtbar wurde sie zu keinem Augenblick.

Die Sopranistin Rebecca Nelsen gestaltet ihren langen Monolog sehr eindrucksvoll und abwechslungsreich. Man ist gefesselt von den Stadien ihrer Selbstfindung, die zuerst in einen Abgrund von Selbsttötungsphantasien führt, da sie die Trennung von der Welt der Götter und des Lichts nicht erträgt. Regisseurin Anna Bernreitner hat mit ihr dafür vielfältige Aktionen erarbeitet, die nicht nur 1:1 abgefilmt, sondern auch mit fertigen Einblendungen übermalt werden, etwa wenn Proserpina ihre Adern aufschneidet und das mit sehr künstlicher roter Marmelade illustriert. Von dort führt Rihms Musik sie wieder aufwärts und zu einem zweiten Höhepunkt: Sie entdeckt an dem dürren grauen Baum, der neben einem Wasserbecken mit grauen Wasserrosen steht, einen grauen Granatapfel. Dieser wird plötzlich rot und sie zerreißt ihn mit Gier. Wieder bricht die rote Farbe durch und unterstreicht die Lust, die Rihms Musik deftig ausmalt.

Die Parzen (Damen des Wiener Kammerchores hinter dem Orchester) verkünden ihr dann, dass der Biss in den Apfel eine Todsünde gewesen sei und sie nun auf ewig dem Hades angehöre, allerdings als dessen Königin. „Wie hass‘ ich dich Abscheu und Gemahl! O Pluto! Pluto! Gib mir das Schicksal dieser Verdammten! Nenn‘ es nicht Liebe!“ ruft sie ihrem unsichtbaren Entführer zu. Doch Anna Bernreitners Inszenierung lässt Proserpina nicht in Verzweiflung enden, sondern in Reifung (sie nennt es „Selbstermächtigung“). Und das gerät keineswegs in Konflikt mit Rihms Musik.

Walter Kobéra, Intendant der Neuen Oper Wien, leitet das Amadeus-Ensemble Wien mit Leidenschaft und Präzision, so dass Rihms Musik stets präsent bleibt und nie zur Filmmusik degradiert wird. So wird „Proserpina“ zu einer Aufführung aus einem Guss.

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Fidelio an der Oper Danzig

Wer Bücher verbrennt …

Die Oper Danzig führt Beethovens „Fidelio“ als Teil der polnischen Vergangenheitsbewältigung auf

Von Bernd Feuchtner

(Danzig, 23. Oktober 2021) Das Licht geht aus, aber die Musik geht nicht an. Als der Vorhang sich hebt, sehen wir eine Art Parnass, eine Insel der Seligen, alle vertieft in Bücher. Der allmächtige Regisseur betrachtet das lebende Bild von allen Seiten und führt einige Korrekturen durch. Doch dann erscheint ein Kerl in grüner Uniform, nimmt den Menschen die Bücher weg und zwingt sie unter seine Ideologie, die durch ein rotes Leuchten symbolisiert wird. Nun setzt die Fidelio-Ouvertüre ein. Sehr unheimlich klingt das nun! Man hört die brütende Last und den Aufruf zur Tat tatsächlich mit anderen Ohren. Zumal ein Zitat von Ernst Bloch projiziert wird: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Das passt auch deshalb, weil Bloch einst über den „Fidelio“ seines Freundes Otto Klemperer an der Krolloper geschrieben hatte: „Nirgends brennen wir genauer.“

Das Orchester der Ostseeoper Danzig spielt unter der Leitung von Michał Krężlewski beides beherzt aus und steigert sich in eine immer stärkere Emphase, die auf Befreiung zielt. Jaquino und Marzelline sind denn auch nicht mit Kleinkram beschäftigt, sondern mit Bücherverbrennen. In die Flammen geworfen werden Goethe, Schiller, Kant, Mickiewicz, Lem, Grass … Günter Grass, der in Danzig immer noch präsent ist, hat bis 1944 ganz in der Nähe der Opera Bałtycka w Gdańsku im Stadtteil Wrzeszcz (damals Langfuhr) gewohnt. Seit 70 Jahren spielt die Oper in Danzig; ein Stück wird in der Regel zweimal hintereinander gespielt und später wiederaufgenommen, sei es nun Fidelio, Don Bucefalo (Mailand 1847) oder Madama Butterfly. Nur die Ballette werden häufiger aufgeführt, im Herbst natürlich Aschenbrödel, Giselle, Nussknacker.

Der junge, frische Tenor Maciej Gwizdała versucht es bei Marcelline mit autoritärem Ton, doch die Sopranistin Ewa Tracz gibt es ihm keifend zurück. Dass die beiden auch anders können, hört man schon bei Marzellines Schwärmen für Fidelio, wenn sowohl ihr Körper biegsam wird als auch ihre Stimme sich mit Wärme füllt. Überhaupt singt das polnische Sängerensemble auf hohem Niveau. Der Bass Łukasz Konieczny war acht Spielzeiten lang in Düsseldorf engagiert und hat die Partie des Rocco das erste Mal in Würzburg gesungen. Er verkörpert glaubhaft den Mittäter, der die Abläufe überwacht, aber auch mal ein Buch in der Uniformtasche verschwinden lässt, statt es ins Feuer zu werfen. Mit der sonor gesungenen Goldarie ist er außerdem treusorgender Vater. Das Quartett wird zum wunderbaren Haltepunkt, bevor es unwiderruflich ernst wird. Zum Gefangenenchor regnet es schwarze Asche – die verbrannten Buchseiten.

Regisseur Michael Sturm war offenbar daran gelegen, dass es nicht nur um den Gegenstand Buch geht, sondern um das, was drin steht. Zwischen den Nummern werden auf polnisch (gesungen wird auf deutsch) kurze Textstellen von Heinrich Heine, John Milton, aus den Psalmen rezitiert. Mit dem fantastischen Bass-Bariton Artur Janda kommt Pizarro auf die Bühne. Sein Auftrittsmarsch, der immer etwas ironisch klingt, ist hier strammen Pimpfen anvertraut, die die frisch Verhafteten auf die Bühne treiben und sich auch schon mal im Niederprügeln üben. Der international zwischen Bach und Sciarrino versierte Janda singt und spielt schneidig und geschmeidig den Bösewicht: Für Pizarro bleibt das alles auch ein Spiel, was er durch einen altertümlichen Tanzschritt andeutet. In seiner Vielschichtigkeit ist Janda denn auch ein echter Gegenspieler für die Leonore der blutjungen Sopranistin Katarzyna Wietrzny, die sich zuerst hinter der Maske trotziger Fügsamkeit versteckt, dann aber mächtig aufdreht: „Ich habe Mut!“ Sie wächst während der Aufführung sowohl an Empfindung wie an Widerstandskraft in ihrer Leonore über sich hinaus.

Im Hintergrund der Rezitationen war ein fernes Schreibmaschinenklappern zu hören. Im 2. Akt sieht man ihn nun, den Störenfried: Florestan ist der letzte Aufrechte. Eine tragische Figur, die Inmitten einer leergeräumten Bibliothek über Bücherberge stakst: „O Gott, welch Dunkel!“ Tomasz Kuk ist ein erfahrener Tenor, der an den großen Bühnen Polens als Cavaradossi, Pinkerton, Otello gefragt ist und dessen italienische Geschmeidigkeit Florestan gut tut. Er schleppt eine Reiseschreibmaschine mit sich: Hier klappert wirklich nur die Schreibmaschine, nicht das Regiekonzept. Wieder liest Rocco Texte aus der Bibel, die Ode an die Freude, von Adam Mickiewicz, Ernst Bloch, Tadeusz Borowski und John Milton.

Trotz der verlängernden Texte wirkt der Abend stringent und kurz. Statt mit trocken Brot füttert Leonore ihren wiedergefundenen Mann mit Büchern. Pizarro kommt mit einem Benzinkanister, den er lustvoll über den Büchern entleert. Die Auseinandersetzung mit Fidelio gewinnt musikdramatisch an Schärfe, sobald Katarzyna Wietrzny ihr üppiges Blondhaar enthüllt, das unter der Uniformmütze verborgen war.

Im Übergang zum Finale erklingt die dritte Leonoren-Ouvertüre, glücklicherweise unbebildert, so dass man sich auf die triftige Interpretation von Michał Krężlewski konzentrieren kann. Der junge, in Gdansk ausgebildete Dirigent zeigt eine klare Vorstellung von Beethovens Musik, die mit der Inszenierung in Übereinstimmung steht. Zum Jubelchor erscheinen auf dem Rundhorizont Bilder der Solidarnosc-Bewegung, die auf der Danziger Werft begann. Lustig, den Kriegsrechts-General Jaruzelski zu sehen, wie er neben dem Arbeiterführer Lech Wałęsa Platz nehmen muss. Ausstatterin Katarzyna Zawistowska, Lichtgestalter Piotr Miszkiewicz und Multimedia-Gestalter Mateusz Kozlowski haben mit relativ einfachen Mitteln zu bildmächtigen Lösungen gefunden.

Auch das Volk ist befreit, Flugblätter werden verteilt. Marzelline hat einen neuen Job als Reinigungskraft und ihre Einwände gegen Jaquino scheinen verschwunden. Um die Wunden zu heilen erscheint statt des Ministers der Papst – das war hier damals ja wirklich so. Bilder vom Fall der Mauer zeigen, dass die Welt einen tiefen Umbruch erlebt, und das bunte Bühnen-Volk wirklich einen Grund zum Jubeln hat. Leider wirkt die fortdauernde Beschwörung, vom Dirigenten flott vorangetrieben und vom Chor in maximaler Lautstärke gesungen, dann doch etwas gezwungen. Wenn Pizarro zum Schlussakkord in seinem Uniformmantel und mit Clownsnase an der Rampe vorbeizieht und seinen charakteristischen Tanzschritt macht, erinnert man sich auch ohne Projektion des Brecht-Wortes daran, dass „der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch.“

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Edward W. Said Tage in Berlin

Artikulierte Lähmung und wütende Energie

Die Edward W. Said Tage widmeten sich im Pierre-Boulez-Saal dem Thema „Kultur und Macht“

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 2. Oktober 2021) Im Pierre-Boulez-Saal fanden, verschoben aus dem Vorjahr, die Edward W. Said Tage statt. Sie sind dem Andenken an den großen Gelehrten gewidmet und hatten diesmal „Kultur und Macht“ zum Thema. Vor jedem der drei Konzerte gab es einen Vortrag. Am ersten Abend breitete die Schostakowitsch-Biographin Elizabeth Wilson ein Panorama der Vernichtung aus, das die stalinistische Kulturbürokratie unter den Künstlern der Sowjetunion angerichtet hat. Auf Schostakowitschs achtes Streichquartett (1960) – eine Art Portrait des Künstlers, wie er unfreiwillig geworden war – folgte eine Arbeit von Sofia Gubaidulina für ANS-Synthesizer: Nornenseile schlängelten sich zu elektronischen Klängen auf dem Boden, ausgehend von einer Musikerin auf einem Stuhl, schräg durch den ganzen Raum. „Vivente – non vivente“ war 1970 ein Pionierwerk aus dem Moskauer Experimentalstudio für elektronische Musik.

Um die beiden Russen herum waren zwei Ungarn gruppiert. Beide Eigenbrötler, beide nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 in den Westen geflohen. Nur György Kurtág kehrte zurück und entwickelte seinen ganz persönlichen Stil, der sich zwischen Bach und Beckett auffächert. Dazu erklang sein Streichquartett op. 1 von 1959, während György Ligeti durch seine Cellosonate von 1953 repräsentiert wurde, die die Behörden umgehend verboten hatten. Für die Interpretation waren Stipendiaten und Absolventen der Barenboim-Said-Akademie zuständig. Die jungen Musiker warfen sich mit Energie in die nicht einfachen Werke. Für seine feurige Interpretation von Ligetis frappierender Solosonate erhielt der Cellist Umut Sağlam zu Recht starken Beifall.

Am zweiten Tag sprach der Journalist und Musikschriftsteller Alex Ross, der gerade ein großes Wagner-Buch geschrieben hat, per Video über „Wagner and his Others“. An Beispielen wie dem Dirigenten Hermann Levi oder dem Schriftsteller W.E.B. Du Bois führte er die jüdischen, schwarzen, feministischen und schwulen Wagnerianer um 1900 und ihre widersprüchliche Faszination für den antisemitischen und nationalistischen Komponisten vor und erörterte ihre möglichen Motivationen. Bei Mendelssohns e-Moll-Streichquartett op. 44 Nr. 2 fragte man sich dann, ob Wagner denn gar kein Feingefühl hatte, wenn er die Musik des Juden so niederträchtig als gefühlsunfähig charakterisierte. Denn die jungen Akademisten spielten Mendelssohns Klassizismus mit so feiner Empfindung, dass man im langsamen Satz ohne Umstände eine romantische Liebesszene assoziieren konnte – ohne Mord und Totschlag.

Diese Musik, die nicht mehr sein will als gute Musik, steht natürlich zu Wagners Überwältigungsästhetik in größtem Widerspruch. Mendelssohn schrieb keine Opern und Wagner keine Streichquartette. Und doch konnte Wagner auch Kammermusik, wie sein Siegfried-Idyll in Originalbesetzung zeigte. Mit zarten Klängen begann das Streichquartett – aber dann trat doch auch der Kontrabass als Subwoofer dazu. Das Holzbläserquartett war für die Naturklänge zuständig – aber eine zweite Klarinette musste dann doch sein. Zwei Waldhörner sorgten für Stimmung, aber ein Musiker musste lange stumm dabei sitzen, bis er mit seiner Trompete aus dem Höhepunkt für wenige Takte dann doch eine Opernszene herausschlug. Unter der Leitung von Michael Wendeberg realisierten die jungen Musiker das Idyll mit großer Klangschönheit.

Danach Karlheinz Stockhausens elektronisches Stück „Hymnen“ – vermutlich hat Wagner sich die Zukunftsmusik anders vorgestellt, und auch für diesen Umgang mit Nationalhymnen hätte er sich kaum erwärmt.

Der dritte Tag begann mit einer Mittags-Lecture-Performance von Fadi Abdelnour. Er führte an optischen Beispielen den kolonialistischen, postkolonialistischen und touristischen Blick auf andere Kulturen vor. Vom „authentischen“ Restaurant bis zum Araber-Klischee in Hollywood werden wir überflutet mit Stereotypen und stumpfen dadurch ab, wie Susan Sontag darlegte. Und wir bekommen von den Medien immer nur die anderen als Opfer von Gewalt gezeigt, niemals Weiße. Auch die Kulturinstitutionen repräsentieren mit ihren rein weißen Leitungsteams nicht mehr die wesentlich buntere Gesellschaft. Vor der kleinen Zuhörerschaft stellte sich allerdings auch die Frage: „Preaching to the converted?“ Nicht ganz. Nach dem Vortrag stellte eine Zuhörerin die forsche Frage: „Wie sind Sie eigentlich hierher gekommen? Welche Organisationen haben Ihnen dabei geholfen? Das ist ja nun nicht mehr so einfach.“

Vor dem letzten Konzert wurde ein Vortrag von Laleh Khalili aus London gestreamt: „The New Sparta. Mythmaking, Masculinity and Managerialism in US Navy Seals Memoirs“. Wie Klaus Theweleit aus Naziromanen die „Männerphantasien“ destilliert hatte, so legte Khalili auf sehr spannende Weise die elitistische und militaristische Weltsicht der US-amerikanischen Rechten dar. Aus den Erinnerungsbüchern, aber auch aus Anleitungen für Manager und aus Liebesromanen wird ersichtlich, wie eine Haltung entstand, die sich von europäischen Männlichkeitsphantasien unterscheidet und schließlich zu Trump führte. Das anschließende Konzert begannt dann mit Luciano Berios Reaktion auf die Ermordung von Martin Luther King „O King“. Die Sopranistin Elaine Kitchener hauchte „O Martin Luther King“, während fünf Instrumente die Lähmung artikulierten, die der Mord hervorrief.

Ohne Pause erklangen danach Alvin Luciers Studie „I am Sitting in a Room“ von 1970 und zwei Stücke von Julius Eastman von 1981. Elaine Kitchener las die Versuchsbeschreibung vor, die vom Mikrophon aufgenommen, vom Lautsprecher zurückgestrahlt, wieder vom Mikrophon erfasst wurde, usw. bis nur noch schwebende Klänge übrig blieben. Im „Vorwort zur heiligen Anwesenheit der Jeanne d’Arc“ konnte die Sopranistin dann endlich zeigen, wie virtuos und mit welchem Klangumfang sie die minimalistischen Worte über die Sendung der Jungfrau von Orleans zu singen verstand. Und im abschließenden gleichnamigen Stück für zehn Celli ließen die Akademisten unter Michael Wendeberg dann die ganze wütende Energie los, die für den schwulen Schwarzen Eastman so typisch ist.

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Petrenko und Ticciati beschließen fulminant das Berliner Musikfest

Instrumentales Theater

Petrenko und Ticciati – zwei fantastische „Chefkonzerte“ beschließen das Musikfest Berlin

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 16. September 2021) Wie viele Sinfoniettas und Concerti wurden nicht in der Nazizeit geschrieben! Komponisten, die nicht mehr das Hirn oder den Mumm für richtige Sinfonien und Konzerte hatten, machten es sich im neoklassischen oder neobarocken Nest gemütlich. Karl Amadeus Hartmann war da von anderem Kaliber. Eine Lehrbuchform zu erfüllen, wäre ihm nicht eingefallen; er schuf sich die Form, die er brauchte.

Bei seinem Concerto funebre wollte er das Potenzial des Streichorchesters voll ausschöpfen – die Kollegen in Frankreich hatten vorgemacht, wie viel Ausdruck da möglich ist. Und Hartmann hatte etwas auszudrücken. Die Naziherrschaft überlebte er, ein wacher Beobachter der politischen Entwicklung – in der inneren Emigration. Er wohnte nahe genug am KZ Dachau, um zu wissen was dort vor sich ging. Als er 1939 sein Concerto funebre für Geige und Streichorchester schrieb, hatten die Nazis gerade die Tschechoslowakei überfallen und das Sudentenland an Deutschland angegliedert.

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja beginnt ppp mit einem fahlen Klang, dessen Melodie kaum Gestalt annehmen will – und doch steckt ein alter Hussitenchoral darin, der hier den tschechischen Widerstand symbolisiert. Zugleich drückt dieser erste Teil lähmendes Entsetzen aus. Die Streicher der Berliner Philharmoniker können eben auch Verzweiflung und Trauer ausdrücken. Oder Momente des Trostes. Kyrill Petrenko schöpft mit seinen Musikern die ganze Palette an Expression aus. Der Klangkörper explodiert, schreit, wärmt, schließt Entwicklungen ab. Dabei bleibt die Musik auch in den wildesten und panischsten Momenten meisterhaft unter Kontrolle.

Kopatchinskaja geht bis an die Grenzen, entäußert sich, um jeden Rest an Ausdruck auszuschöpfen. Deutlich zeigt sich eine Verwandtschaft zu Schostakowitsch und Weinberg, aber auch zu Nazi-Verfolgten wie Paul Arma, die im Westen den Druck des Totalitarismus auszuhalten hatten. Als der Jubel des Publikums über diese tieflotende Aufführung ausbricht, fragt man sich nur, warum die Sinfonien von Hartmann nicht auf den Konzertprogrammen stehen.

Es war schon eine kluge Programmidee, dieses Ausdruckswerk mit einem Werk wie dem Feuervogel zu kombinieren. Strawinsky lehnte Ausdruck ja strikt ab. Auch von der Orchesterbesetzung ist es der größtmögliche Gegensatz: Ein spätromantisches Riesenorchester mit allem Luxus: Drei Harfen, Celesta, Klavier, Riesenschlagzeug, zwei gestopfte Wagnertuben nur für einen kurzen, grotesken Effekt, drei Extratrompeten für den Superglitzerfunkelstrahleschluss. Gespielt wurde die gesamte Ballettmusik, eine Dreiviertelstunde Theatermusik ohne Theater.

Was macht man dann damit? In der undramatischen ersten Hälfte offeriert Kyrill Petrenko Klangspiele. Man hört die Einflüsse Debussys und die Folgen bei Ravel, eine Art Superimpressionismus, der das Orchester brillieren lässt. Fantastische Klangkombinationen wie gestopfte Posaune und Fagott! Oder ein Flirt von Soloflöte und Harfe. Auch auf die Märchenballette Tschaikowskys griff Strawinsky zurück. Das Märchen ist hier nur der Anlass für ein Fest der Orchesterfarben. In der zweiten Hälfte geht es dann los wie bei der Schlacht der Zinnsoldaten gegen die Mäuse beim „Nussknacker“ – jetzt hat Petrenko umgeschaltet auf instrumentales Theater. Ganz großer Zirkus! Natürlich ist das Publikum danach aus dem Häuschen.

Meditation über den Akkord

Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin mit seinem Chefdirigenten Robin Ticciati hat ein raffiniertes Programm zusammengestellt, das sich um Strawinskys „Requiem Canticles“ gruppiert. Es begann mit „ionisches licht“ von Klaus Lang, einer Komposition, die Lang 2020 in Donaueschingen vorgestellt hatte. In Berlin wurde nun die Fassung für großes Orchester uraufgeführt. Unvermutet springt den Zuhörer der existentielle Eröffnungsakkord des „Fliegenden Holländers“ an, ein Sturmwind, dem hier aber keine weitere Melodik folgt, sondern ein Schimmern in allen hellen Farben, das sich zu wandeln beginnt wie ein Lichtsturm. Die Musiker holen im Fortissimo aus ihren Instrumenten ein Maximum an Wohlklang heraus. Nach einer Weile lässt der Sturm nach und es beginnt ein sanfterer Wind zu wehen; man könnte auch sagen: jetzt hören wir einen Nachklang der ersten Erscheinung. Und noch ein drittes Mal setzt die Musik an, bis sie sich nach zwölf Minuten erschöpft hat. Stilistisch steht das in der Tradition von Ligetis „Atmosphères“ (1961) oder Feldmans „Coptic Light“ (1986), wo die Stofflichkeit des Klangs zum Ereignis wurde. Man könnte auch den Goldgrund mittelalterlicher Gemälde assoziieren und die Sphärenmusik, die dort von den Engeln zum Lobpreis Gottes angestimmt wird – und damit wären wir auch bei Anton Bruckner, dem eine solche Vision nicht fremd gewesen wäre.

Es erscheint folgerichtig, dass anschließend ein Stück von Arvo Pärt auf dem Programm steht. Aber wieder werden wir überrascht: Es ist das Cellokonzert von 1966, als der junge Pärt noch in der Sowjetunion lebte und mit Gesinnungsgenossen wie Alfred Schnittke nach Auswegen aus dem verordneten Konservatismus suchte. Auf einen rauschenden D-Dur-Akkord antwortet Valentin Radutiu mit wilden Avantgardeklängen und verwandelt sein Cello in ein Schlaginstrument. Jede Aktion, jeder Ton ist genau ausgekundschaftet, wir beobachten instrumentales Theater erster Güte. Es macht großen Spaß, dabei zuzuschauen und die musikalische Qualität zu bestaunen. In der Mitte ein d-moll-Lamento, dann der rasche, perkussive Schlusssatz, in dem das Cello sich souverän behauptet. Zum Abschluss aber eine majestätische, pseudobarocke Schlussakkord-Geste. Großer Beifall für Solist und Orchester!

Die Klänge Pärts haben uns nun schon vorbereitet auf die karge Musikwelt des (gleichzeitigen!) Spätwerks von Igor Strawinsky. Er war Mitte Achtzig, als er dem Auftrag zu einer Requiem-Komposition nachkam, und er wusste, dass es auch seine eigene Trauermusik sein würde – sie wurde 1971 bei seiner Beisetzung in Venedig gespielt. Die repetitiven Figuren, die farbkräftigen Dissonanzen wirken wie Betrachtungen zum Requiemtext, sind keine emotionale Ausdeutung der Totenmesse. Der große Berliner Rundfunkchor intoniert die kurzen Ausschnitte, die der Komponist ausgewählt hat. Das Dies irae intoniert er völlig undramatisch. Bariton Matthias Winckhler nimmt für das Tuba mirum die traditionelle Pose ein. Das Lacrimosa hingegen ist der Frauenstimme anvertraut und wird von Catriona Morison mit Wärme erfüllt. Auch wenn der späte Strawinsky statt Klangopulenz Strukturen anstrebte, operiert das reduzierte Orchester mit äußerst feinen Zusammenklängen. Klarinetten und Oboen fehlen, dafür klingen zwei Fagotte und vier Flöten mit vier Hörnern zusammen. Auch für diese Feinarbeit gibt es viel Applaus.

Im Kopfsatz von Mahlers unvollendeter Zehnter Sinfonie offenbart Ticciatis Programm noch eine weitere Dimension. In erst zögerlichem, dann immer emotionsreicherem Klangfluss treibt der Dirigent die Musik jenem brausenden Akkord entgegen, in dem sich Überwältigung und Grauen die Waage halten. Und dann überlässt er die Musik sich selbst, bis sie aufgesaugt wird von dem schrill-dissonanten Neun-Ton-Akkord, in dem die ganze Angst Mahlers sich aufgestaut hat. Nur langsam schwimmt die Musik sich wieder frei und klingt offen aus. Es war also auch ein Konzertprogramm über den Akkord. Den Akkord, der sich herauslöst aus dem harmonischen Fortschreiten. Die vier Werke des Abends haben die Ohren geschärft für ein besseres Hören. DSO und Ticciati können hinterher im dankbaren Beifall baden und das Musikfest Berlin hat einen so glänzenden wie tiefgründigen Abschluss gefunden.

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Breaking the Waves als Oper in St. Gallen

Toxische Maskulinität

In St. Gallen tritt der neue Operndirektor Jan Henric Bogen mit der Oper „Breaking the Waves“ von Missy Mazzoli an

Von Bernd Feuchtner

(St. Gallen, 18. September 2021) „Jan, Jan, Jan, Jan, Jan,“ ruft Bess immer wieder, nachdem ein sadistischer Seemann sie vergewaltigt hat. Blutend liegt sie am Boden und die Stimme wird immer schwächer. Da humpelt Jan herein, für den sie das alles auf sich genommen hat – als sie stirbt, ist sein Überleben gesichert. Wieder ein Frauenopfer. In der Oper einer Frau. Mit den Erlösungsträumen Richard Wagners hat das allerdings nichts zu tun. Missy Mazzoli klagt in ihrer Oper „Breaking the Waves“ eine Gesellschaft an, in der die Frauen entrechtet sind.

Die Sopranistin Vuvu Mpofu hat sich mit vollem Einsatz in die Hauptrolle dieser Oper geworfen, die 2016 in Philadelphia uraufgeführt wurde. Hinreißend die Sehnsucht nach ihrem Bräutigam zu Beginn, mit weit ausgreifendem Melos beschwört sie den Mann, den sie liebt, obwohl ihre Gemeinschaft ihn als Auswärtigen ablehnt. Jan arbeitet auf der Bohrinsel und kommt nur alle vier Wochen an Land, was den Wunsch von Bess verstärkt hat, ihn endlich an sich zu binden. Vuvu Mpofu entfaltet ein enormes Ausdrucksspektrum, um gegen die Widerstände anzugehen – ständig wird ihr im Lauf der Oper jemand vorhalten, sie sei ein Dummerchen. „Verkehrt für die Verkehrten, rein für die Reinen“ ist der Refrain des Chores.

Der Stoff stammt von dem gleichnamigen Film von Lars von Trier, der 1996 die Gemüter erhitzte. Er hatte die Handlung in den 1970er in einer calvinistischen Gemeinde auf der schottischen Isle of Skye angesiedelt. Man warf ihm eine ähnliche chauvinistische Provokation vor, wie Michel Houellebeq sie in der Literatur vorlegte. Und tatsächlich ist die Geschichte ähnlich ekelhaft wie etwa in „Elementarteilchen“. Jan kam schon zu spät von seiner Bohrinsel zur Hochzeit. In der Wartezeit musste Bess sich die Tiraden der Kirchenältesten anhören. Gleich nach der Trauung will sie von ihm Sex auf der Toilette – ihre Jungfräulichkeit hatte sie für ihn aufgespart. Dies ist die einzige Szene, in der im Duett zwischen Jan und Bess Liebe zu spüren ist.

Der wunderbare Bariton Robin Adams steht als Jan immerzu unter Druck. Zur Hochzeit kommt er zu spät. Und dann muss er auch noch entdecken, dass die „Scheiß-Kirche“ keine Glocken hat. Die waren der puritanischen Gemeinde zu sinnlich, deshalb haben sie sie ins Meer geworfen. Als Bess gefragt wird, was sie an Ausländern wie Jan findet, singt sie flammend: „Ihre Musik!“ Die Unterdrückung der Sinnlichkeit ist es, was das Leben in dieser Gemeinschaft zur Hölle macht. Selbst dem harten Kerl Jan tut der Erwartungsdruck nicht gut. Nach einem Arbeitsunfall bleibt er gelähmt und glaubt so sehr, seiner Frau nun den Sex schuldig zu sein, dass er sie antreibt, mit anderen Männern zu schlafen und ihm davon zu erzählen. Adams singt diesen in seiner Maskulinität gefangenen Mann mit machtvoller Stimme – es gibt kein richtiges Leben im falschen. Er ist genauso ein Opfer wie alle anderen, die unter dem religiösen Wahn leiden. Und dennoch darf er in seiner großartigen letzten Arie zeigen, dass er zu Wandlungen fähig ist.

Der sympathische Bass-Bariton Justin Hopkins als Jans Kumpel Terry hat es da leichter: ihn beschweren weder Bindungen noch Erwartungen, also kann auch die Stimme freier ausschwingen. Und das ist einer der unschlagbaren Vorzüge von Missy Mazzoli: Sie komponiert wirklich für Stimmen. Da wird den Sängern nicht das Dauerparlando auferlegt, das viele moderne Opern so langweilig macht, sondern sie dürfen ausschwingende Linien singen und zeigen, warum sie Gesang studiert haben. Die hell klingende Mezzosopranistin Jennifer Panara als Dodo drückt in ihrem sanften, innigen Gesang ihre schwesterliche Liebe zu Bess aus, und auch der vorzügliche Tenor Christopher Sokolowski als Dr. Richardson, der Jan behandelt und Bess berät, hat vor allem zarte Seiten – in seinen Begegnungen mit Bess knistert es. Auch die Mezzosopranistin Claude Eichenberger kann in ihren Ariosi zeigen, wie sehr sie zwischen Mutterliebe und religiösem Gebot hin- und hergerissen ist. Bariton David Maze hingegen hat als Gemeindevorsteher keine Chance: Er verdammt die Sünder mit harter Stimme, statt ihnen mit christlicher Liebe entgegenzugehen.

Das Orchester trägt die Sänger wie ein Teppich. Der St. Galler Musikchef Modestas Pitrenas lässt seine Musiker nie falsch auftrumpfen. Dafür tragen die Musiker all die Farben bei, die die Partitur bereithält. Missy Mazzoli arbeitet nicht mit Leitmotiven oder sinfonischen Strukturen, sondern liefert Klangfolgen, die die Handlung charakterisieren. Es beginnt mit einem vollen, vielfarbigen Akkord, der das Brechen der Wellen an der Felsküste illustrieren soll, und endet mit dem magischen Erklingen der Glocken aus dem Meer – ein letzter Sehnsuchtsklang, der symbolisiert, was hier gefehlt hat.

Im Hintergrund der Bühne tippen drei Tänzerinnen mit den Füßen in ein Wasserbecken, und die Wellen oszillieren auf der Leinwand hinter ihnen. Immer wieder werden sie eingesetzt, um die Bühne zu beleben. Ausstatterin Ana Inés Jabares-Pita hat es mit ihren Kostümen geschafft, dass niemand gut aussieht in diesem Elendsstück. Die Schauspiel-Regisseurin Melly Stills hat die Handlung mit handfesten Arrangements inszeniert, wie man das von britischen Bühnen kennt – da hätte ein wenig mehr Feinheit der Regie für die Personen gutgetan.

Freilich wird vom Stoff her den Figuren kaum zugestanden, dass sie sich auch entwickeln. Aber gerade in der Beklemmung der Situation ist Missy Mazzoli ein starkes Stück gelungen. Das Libretto hat Royce Vavrek geschrieben, wie schon für Mazzolis erste Oper „Song for the Uproar“, und der auch mit David T. Little („JFK“, „Soldier Songs“) gute Erfahrungen im Musiktheater gesammelt hat. Nach der Uraufführung kam „Breaking the Waves“ in den USA in New York, Berkeley, Los Angeles, Houston auf die Bühne, wurde in Europa aber nur beim Edinburgh Festival gezeigt. (In Pforzheim wird am 17. Oktober Mazzolis „Symphony (for Orbiting Spheres)“ gespielt.) Dass der neue St. Galler Operndirektor Jan Henric Bogen diese neue Oper für seinen Einstand gewählt hat, lässt hoffen, dass hier auch weiterhin neue Stücke nachgespielt und auch solche präsentiert werden, die auf ihre Wiederauferstehung warten. Der Beifall war stark und machte dafür Mut.

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Neues Buch zum Thema Musik und Gesellschaft

Spiegelscherben

Das zweibändige Kompendium „Musik und Gesellschaft“ legt die Entwicklung der europäischen Musik auf anregend frische Weise dar

Von Bernd Feuchtner

Ich kann mich noch gut an die begeisterten Reaktionen erinnern, nachdem „Das Cambridge-Buch der Musik“ 1994 bei Zweitausendeins erschienen war. „Das Hauptanliegen dieses Buches besteht darin, den Genuss beim Musikhören zu vergrößern und das Verständnis zu erleichtern,“ so lautete der erste Satz des Vorworts. Musikgeschichte und Musiktheorie wurden hier einmal nicht im vertrockneten Stil der Schulbücher und Lexika dargestellt, sondern für Menschen erklärt, die einfach nur Musik lieben. Auf ein Kapitel über die musikalischen Formen folgten Epochen-Kapitel vom Mittelalter bis zur Moderne und als Abschluss ein Kapitel über die „Traditionen der populären Musik“.

Wir waren damals neidisch auf die Engländer, die so locker schreiben und doch das Wesentliche mitteilen konnten. Jetzt ist aber ein zweibändiges Kompendium mit den Titel „Musik und Gesellschaft“ erschienen, das die Blamage wett macht (auf die CD-Box kann es im Zeitalter der Streamingdienste guten Gewissens verzichten). Das Herausgebergremium (Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane) meditiert in einer 40-seitigen „Ouvertüre“ über das Wesen der Musik und teilt deren Geschichte anschließend in relativ kurze Kapitel auf. Der 1. Abschnitt rückt im Kapitel „1000 – 1254. Himmel, Erde und das Heilige Land“ zunächst die gängigen Begriffe zurecht, um dann in kurzen Abschnitten neben den Neuerfindungen des Guido von Arezzo auch die Erscheinungen der volkstümlichen Musik zu beschreiben.

Dass auch innerhalb der Abschnitte jeder der kurzen Texte einen eigenen Autor bzw. Autorin hat (es gibt deren 108!), macht die Lektüre abwechslungsreich: Es werden Schlaglichter auf einzelne Phänomene geworfen, statt einer Entwicklungslinie zu folgen. Tags weisen auf zeitgeschichtliche Ereignisse hin, und auch die Nachwirkungen der alten Geschichten in der Musik von Barock, Klassik und Moderne werden ausführlich erzählt. Dass Beatrix Novy von den verkleidungsfreudigen Burgfräulein in Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ einen Bogen zum Kölner Karneval zieht und nicht zu Wagners Parsifal, ist ihr hoch anzurechnen. Der Band hat sowieso ein Herz für die Vaganten und Spielleute (besonders interessant der Text von Wolfgang Hartung über die fahrenden Frauen), während er mit Kriegshelden à la Richard Löwenherz eher spöttisch umgeht.

Im 2. Kapitel „1264 – 1393. Reisen übers Meer, im Kopf und in die Stadt“ stehen Feste wie Fronleichnam im Mittelpunkt oder die Entwicklung von den Stadtpfeifern zum modernen Orchester, es gibt da aber auch ein Sittenbild vom französischen Hof und dessen Widerhall in der Motette. Der 2. Abschnitt behandelt in drei Kapiteln das 15. und 16. Jahrhundert. Der 3. Abschnitt widmet sich dem Barock, der 4. der Aufklärung und der 5. gelangt über Restauration und Romantik bis zum Jahr 1839. Der 2. Band – ebenfalls 700 Seiten stark – behandelt dann die Jahre von 1840 bis 2020.

Dabei bleiben die Texte stets dem Thema „Musik und Gesellschaft“ treu. Sie spüren der Verbindung von New Orleans Jazz und Bordell ebenso nach wie der „Klavierseuche“ in den bürgerlichen Salons oder den Liedern, die der Erste Weltkrieg in Großbritannien hervorgebracht hat. Sie brechen eine Lanze für Rolf Liebermanns Oper „Penelope“ und stellen sie neben Luigi Nonos „Canto sospeso“ und Elvis Presleys „Hound Dog“. Auch die Folgen der technischen Reproduzierbarkeit auf die Entwicklung der Musik werden immer wieder thematisiert.

Und was werfen die Spiegelscherben aus dem jüngst vergangenen Jahrzehnt zurück? Da widmen sich die Texte sowohl den prekären Arbeitsverhältnissen, den Verwerfungen des Musikmarktes und den immer noch hintanstehenden Dirigentinnen als auch dem Balafon, der Vuvuzela oder dem Rap. Bei manchem Text hätte man sich etwas mehr Tiefenschürfung gewünscht, etwa bei dem Phänomen, das die bürgerliche europäische Musik heute in der VR China bildet. Am Ende steht natürlich – Covid. Nach den Schilderungen der Auswirkungen im Musikleben resümieren die drei Herausgeberinnen: „Bereits während des ‚Hochfahrens‘ vom ‚Lockdown‘ nehmen die Verteilungskämpfe um öffentlichen Regeln und Gelder an Schärfe zu. Also: La lotta continua.“

Entstanden ist so ein wahres Lesebuch. Man kann darin blättern und einen Text lesen, der einen gerade interessiert, man kann das Buch aber auch wie einen zweibändigen Roman verschlingen. Die beiden Bände gehören zur Grundausstattung jedes Oberstufenschülers – ob er die klassische europäische Musik nun liebt oder nicht. Nicht nur der verständliche Stil, sondern auch das Andocken an heutige Sichtweisen lässt potentielle Leser neugierig werden. Anregungen zum Weiterforschen werden sie allemal daraus ziehen, und das nicht nur auf dem Gebiet der Musik.

Musik und Gesellschaft. Marktplätze – Kampfzonen – Elysium. Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.), Königshausen & Neumann Würzburg 2020, 1417 Seiten.