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Schrekers Schatzgräber an der Deutschen Oper Berlin

Märchenland ist abgebrannt

Christof Loy inszeniert Schrekers „Schatzgräber“ an der Deutschen Oper Berlin

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 1. Mai 2022) Einen düsteren Riesenpalast in schwarzem Marmor hat Johannes Leiacker auf die Bühne gewuchtet, und der wird der Schauplatz aller vier Akte einschließlich des Nachspiels des „Schatzgräbers“ von Franz Schreker sein. Darin treiben schwarz gekleidete Schlips- und Smokingträger ihr Wesen, dazu Serviererinnen in Dunkelrot – nicht mal den König kann man unterscheiden (Kostüme: Barbara Drosihn). Nicht ganz leicht, hineinzukommen in dieses Spiel, in dem es vorerst auch keine sangbaren Linien gibt, sondern sich ein Märchen mit ziemlich seltsamen Dialogen entfaltet.

Vielleicht war es ja gerade diese Übersteigerung der Grimm’schen Märchenwelt durch Symbolismus, Psychoanalyse und Weltkrieg, die den riesigen Erfolg des „Schatzgräbers“ nach seiner Frankfurter Uraufführung 1920 bewirkte – 50 Häuser spielten ihn nach. Doch dann kamen die Nazis und erklärten den Direktor der Berliner Musikhochschule für „entartet“ – seine Märchen waren nicht gemütlich und völkisch, sondern sprachen elementare psychologische Fragen an. Schatzbildung als Liebesersatz, Gier als Mordmotiv, Lieblosigkeit als Krisensymptom. Es gibt viele Gründe, den „Schatzgräber“ heute nicht zu verharmlosen.

Nach dem Ende der Diktatur fiel das deutsche Theater erst mal in Amnesie, und dann war es Frankfurt, das mit der großartigen Produktion der „Gezeichneten“ mit Michael Gielen und Hans Neuenfels 1979 die Schreker-Renaissance auslöste. Es folgte Bielefeld 1985 mit seiner späten Oper „Irrelohe“. Die Uraufführungsstadt Frankfurt brachte den „Schatzgräber“ erst 2002 wieder auf die Bühne, in einer brillanten Inszenierung von David Alden mit der überbordend fantasievollen Ausstattung von Paul Steinberg. Hier wurde ein Eimer Kitsch über die absurde Story gekippt, und schon funktionierte sie perfekt, nicht zuletzt auch wegen der grandios-wüsten Susan Bullock als Els, die die irrwitzige Triebenergie dieser Frau auch stimmlich ideal verkörperte. Vor zehn Jahren produzierte die Amsterdamer Oper den „Schatzgräber“. Der Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem Dirigenten Marc Albrecht, der jetzt auch in der Deutschen Oper Berlin am Pult stand.

Marc Albrecht hatte hier gemeinsam mit Christof Loy schon Korngolds „Das Wunder der Heliane“ und Zandonais „Francesca da Rimini“ kongenial wiederbelebt: Wenn das richtige Team am Werk ist, zeigt sich die Qualität der Stücke. Deshalb hoffte man auf einen dritten Geniestreich. Diesmal machten sie es uns aber nicht so leicht. Zunächst wird gestohlen und gemordet. Der König vertraut dem Narren ein delikates Problem an: Die Königin verweigert sich ihm, weil ihr Schmuck abhanden gekommen ist – Schauspielerin Doke Powels fließt als bleichsüchtiges Königinnenbild durch die Aufführung. Bassbariton Tuomas Pursio parliert mit kerniger Stimme über seine Malaise, Charaktertenor Michael Laurenz pariert ihm brillant mit frechen Sprüchen, wobei er zur Sicherheit die rote Narrenkappe aufsetzt.

Und da ist Els, die einzige Serviererin in Knallrot, die Mordaufträge vergibt, um sich in den Besitz von Schmuck zu bringen, von dem wir schon bald ahnen, dass er der Königin gehörte. Schön-Els wird sie genannt, da sie verborgene Kräfte besitzen muss, zieht die verhärmte Frau doch seltsamerweise alle Männer in ihren Bann, sogar den Vogt (Bariton Thomas Johannes Mayer singt und spielt ihn machohaft), der für die Ordnung zuständig ist. Elisabeth Strid ist eine gestandene Wagnersängerin, doch gegen das laute Orchester muss sie anschreien – stimmlich ist ihr das Verführerische ebenso genommen wie optisch.

In diese dekadente, repressive, macht- und goldversessene Gesellschaft platzt der Sänger Elis hinein, dessen strahlender Tenor alles verspricht: Liebe für Els und Schmuck für die Königin. Daniel Johansson trägt als einziger keine dunkle Jacke, sondern kommt im weißen Hemd – Sinnbild der Freiheit des Künstlers. Doch gerade das macht ihn verdächtig: Hat er die Morde begangen? Schnell verurteilt der Mob ihn zum Tod. Im zweiten Akt zeigt sich, dass auch der zölibatäre Narr in Els verliebt ist und dem König die Hinrichtung ausreden will – gegen den Preis einer Frau. Der gerettete Elis singt einen derart hinreißenden Liebes-Hymnus an Els, dass er den gesamten Hof in eine Orgie aller mit allen treibt – mehr als Trieb ist das aber nicht. Und neue Bedrohung naht: Elis kann mit seiner Laute Schätze finden wie mit einer Wünschelrute. Der Geliebte und Schatzgräber wird für Els zur Falle.

Wenn alle von Anfang an auf dem Boden liegen, entwickelt sich keine Fallhöhe. Keine Gefühlsregung ist glaubhaft, jeder melodische Aufschwung – wenn er denn einmal eintritt – eine Lüge. Wir sehen und hören die Lebensenergie nicht, aus der die Figuren sich die Lebenslügen aufbauen, mit denen sie sich schwungvoll in den eigenen Untergang manövrieren. Es beschlich uns das Gefühl, dass hier eine Oper einfach über einen konzeptuellen Kamm gezogen würde. Einigermaßen konsterniert und ernüchtert gingen wir in die Pause. Manche auch nachhause.

Doch im dritten und vierten Akt und dem Epilog lichtete sich der Grauschleier und die Figuren begannen uns in den Bann zu ziehen. Auch das Orchester reagierte unter Marc Albrechts flexibler Leitung leichter und farbenreicher, der Chor mischte sich, von Jeremy Bines bestens einstudiert, immer wieder vorantreibend ein. Und die Glücksaufschwünge kontrastierten wirksam mit den Abstürzen, etwa wenn Els Elis in einer Liebesnacht den gestohlenen Schmuck aushändigt, dann aber ihr gedungener Mörder entdeckt und damit ihr Verbrechen offenbar wird. Der Todesstrafe (schon die zweite!) entgeht sie durch die Ehe mit dem Narren, in der natürlich beide unglücklich werden.

Jetzt treibt Schrekers Musik die Illusionen und ihr Verlieren glühend voran, stürzt die Figuren in Abgründe und Traumwelten. Am Ende zeichnet sie auch das matte Erlöschen von Els, das auch durch die Wiederkehr der Lichtfigur Elis nicht aufgehalten werden kann. So verlässt der Sänger die trostlose Szene wie er sie zuerst betreten hatte – mit kalter Absichtslosigkeit. Kein Kompliment für dies Künstlerbild. Der Schlussbeifall war groß und dauerhaft.

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Escaichs Oper Shirine in Lyon uraufgeführt

Eine unsterbliche Verliebte

Thierry Escaichs „Shirine“ in Lyon uraufgeführt

Von Bernd Feuchtner

(Lyon, 2. Mai 2022) „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ – auch wenn der persische Prinz Chosrau die Schönheit der armenischen Prinzessin Schirin von seinem Freund Schahpour, einem Maler (!), nur mündlich geschildert bekam, löste sie doch eine ähnliche Leidenschaft aus wie Paminas Bild bei Tamino. Schahpours Bild von Chosrau wiederum führt dazu, dass Schirin sich in ihn verliebt. Es sind eben doch in allen Kulturen die ähnlichen Geschichten, die die Menschen sich erzählen. Zu der persischen Geschichte gibt es noch eine weitere Parallele in der europäischen Kultur: die Geschichte von Héloïse und Abälard, denn wie diese werden auch Schirin und Chosrau erst nach dem Tode im Grab vereint.

Der historische Chosrau II. (570-628) war der letzte bedeutende Großkönig der Sassaniden-Dynastie, der aber letztlich an seinen endlosen Kriegen gegen Ost-Rom scheiterte und die alte Weltordnung mit sich begrub. Seine Lieblingsfrau war die Christin Schirin, mit der er eine glückliche Beziehung führte, was wiederum seine zoroastrischen Widersacher erboste und endlich auch zu seiner Ermordung führte. Eine glückliche Ehe hätte kein Epos tragen können, also bekommen die beiden sich dort nicht und die Handlung lebt vom ewigen Hin und Her der beiden.

Die tragische Liebesgeschichte von Chosrau und Schirin mit ihren zahlreichen Aspekten ist tief verankert in der persischen Kultur. Die berühmteste Fassung schuf der Dichter Nezami um 1200 mit seinem gleichnamigen Epos. Er schrieb auch die Erzählung von Laila und Madschnun, die zum ersten Mal 1908 in Aserbaidschan veropert wurde und 1988 Detlev Glanert als Vorlage für seine erste Oper diente. Das tragische Liebespaar Chosrau und Schirin schreit gleichermaßen nach musikalischer Gestaltung. Die iranischen Machthaber verboten 2011 eine Neuauflage des Epos, weil sie die Umarmung Schirins und Chosraus anstößig fanden. Es war wohl eher der aktive Charakter Schirins, der die Mullahs empörte. So hat der franko-afghanische Schriftsteller und Filmemacher Atiq Rahimi sein Libretto gleich nur mit dem Namen der Frau überschrieben. Der französische Komponist Thierry Escaich hat daraus seine zweite Oper „Shirine“ gemacht; in Lyon war 2013 auch schon seine erste Oper „Claude“ nach Victor Hugo uraufgeführt worden.

Als Organist in der Tradition der großen französischen Orgelmeister wie Maurice Duruflé ist Escaich (er war Dresdner Palastorganist 2020/21) geübt im Improvisieren, eine Kunst, die westlichen klassischen Musikern meist abgeht. Dass in der arabisch-persischen Musik das Improvisieren Standard ist, hat ihn besonders gelockt, ebenso die besonderen instrumentalen und harmonischen Seiten der nahöstlichen Musik. Er fügte dem Orchester die Flöten Nay und Duduk und die Zither Kanun hinzu.

Es beginnt mit einem mystischen Vorspiel. Nakissà, der das Tal der Unsterblichkeit sucht, (von Counter Théophile Alexandre mit kalter, schneidender Stimme gesungen) und Bârbad, auf der Suche nach dem Ozean der Ewigkeit, (Bass-Bariton Laurent Alvaro gibt den weisen Alten) beginnen sich ihre Geschichten zu erzählen. Es war einmal ein Prinz, der auf der Jagd ein wunderschönes Mädchen beim Bade erblickte und sich unsterblich in sie verliebte. Doch sie erkannten einander nicht. Auch sein Malerfreund Chapour kann ihm ihr Bild nicht festhalten, verspricht Khosrow aber, dessen Bild der armenischen Königin Chamira und deren zu bringen.

Zu Beginn stehen alle Choristen und Solisten in Gewändern mit persischen Ornamenten auf der Bühne. Nach und nach werden die Solisten herausgezogen: Shirine in pinkem Hosenanzug, Khosrow in hellbeiger Hose und weißem Hemd, Chapour in Künstlerschwarz. Damit ist die Darstellungsform gesetzt: Dies ist episches Theater, das uns keine Gefühle unterjubeln will, sondern eine Geschichte präsentiert. In zwölf Bildern spult sie sich pausenlos ab. Und auch die Musik liefert persisch motivierte, und doch sehr französische Ornamentik. Für jede Szene hat Escaich sich eine andere Klangcharakteristik erschaffen. Zugleich ist es eine Literaturoper, in der der Text die Geschichte erzählt, nicht die – bisweilen ins minimalistische sich zurückziehende – Musik.

Julien Behrs Khosrow hat wenig Einnehmendes. Sein kerniger Tenor zeichnet einen machtbesessenen Prinzen, dem man zwar die Raserei für Shirine zutraut, der sie nach erfolgtem Genuss aber auch nur seinem Harem einverleiben würde. Und genau das passiert, wenn auch verkehrt: In einer gespenstischen Szene gibt es einen Aufstand gegen den Prinzen, er wird vom Vater verstoßen, flieht an den armenischen Königshof, um zu erfahren, dass Shirine zu seinem Vater gereist ist und dort seinem Harem einverleibt wurde. Khosrow hat es nicht leicht, wird er doch zusätzlich von der armenischen Königin begehrt, von Mezzo Majdouline Zerari in leuchtendem Königsblau – sie hätte das ruhig divenhafter verkörpern können. Erst nach dem Tod des Vater kehrt er zurück und übernimmt die Herrschaft – doch Shirine ist zu ihrer Tante nach Armenien zurückgekehrt.

Der Maler Chapour muss immer wieder vermitteln, arbeitet aber auch auf eigene Rechnung, wenn er selbst Shirine umgarnt. Jean-Sébastien Bou singt einen charaktervollen, zupackenden Maler, aus dem die Regie (Richard Brunel) freilich einen Photographen macht. In der Episode des Achten Bildes macht sie aus dem Gebirgespalter Farhâd einen Bildhauer – dieser weitere Liebhaber Shirines, dem sie sich dann auch wirklich hingibt, wird von Florent Karrer mit einer wirklich hinreißenden Baritonstimme zur einzigen Lichtfigur ausgestaltet. Der eifersüchtige Khosrow lässt ihn daraufhin umbringen.

Etienne Pluss hat zwei Paletten mit je einer transparenten und einer festen Wand auf die Bühne gestellt, mit denen sich zahlreiche Raumsituationen herstellen und durch Projektionen beleben lassen. Die stilisierten Kostüme von Wojciech Dziedzic passten zur epischen Darstellung – am Ende war es ein Regieteam aus zehn Mitgliedern, das sich beim Schlussbeifall verneigte. Das der neue Intendant Richard Brunel sich für das geerbte Projekt so sehr einsetzte, das unter Serge Dorny wegen Corona nicht mehr hatte realisiert werden können, ehrt ihn.

Die Titelfigur Shirine hat es schwer in dieser Männer-Macht-Welt. Jeanne Gérard bemüht sich redlich, aus dem selbstbewussten Mädchen eine emanzipierte Frau zu machen. Zu oft muss sie Zudringlichkeiten abwehren, zu selten kommt sie zum Ziel. Einmal muss sie auch Khosrow zurückweisen, als der von einem Usurpator gestürzt wird – da ist er ihrer unwürdig. Den Thron gewinnt er allerdings nur zurück um den Preis der Hand der Tochter des oströmischen Kaisers, was die Verbindung für lange Jahre unmöglich macht. Erst nach dem Tod ihrer Tante und seiner Frau finden die beiden im Elften Bild zueinander: Eine sehr intensive Szene, in der das Liebespaar durch ein Tanzpaar verdoppelt wird.

Der Sohn Khosrows, der seinen Vater verantwortlich macht für den Tod seiner Mutter, belauscht jedoch die Liebesszene und bringt den Vater um. Tenor Stephen Mills spielt den verzogenen Bengel gut, ist stimmlich aber noch ein wenig überfordert. Im Epilog kann sich Shirine seiner nur erwehren, in dem sie sich selbst tötet. Das letzte Wort haben wieder die beiden Erzähler. Franck Ollu dirigierte Chor und Orchester der Lyoner Oper mit Temperament und Klanglust. Der Beifall war lang und kräftig.

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Stuttgarter Walküre von drei Regisseuren

Die drei Fragezeichen

Eine Oper drei Akte, drei Regieteams: Wagners „Walküre“ in Stuttgart

Von Bernd Feuchtner

(Stuttgart, 10. April 2022) Vor zwei Jahrzehnten hatte Klaus Zehelein die brillante Idee, in Stuttgart Wagners vier „Ring“-Opern von vier verschiedenen Regisseuren inszenieren zu lassen und dadurch zu entideologisieren. Naturgemäß war das Ergebnis durchwachsen, aber äußerst anregend. Nun haben die Stuttgarter die Methode noch einmal zugespitzt, und die drei Akte der „Walküre“ drei Regieteams anvertraut, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Im ersten Akt steht in der Bühnenmitte ein abgeschälter Baumstamm – die Weltesche gehört nun mal in Hundings Haus. Im Hintergrund eine Leinwand mit dem Umriss einer Baumkrone: die optische Täuschung funktioniert gut. Doch sobald Cornelius Meister mit dem Staatsorchester die hektische Flucht Siegmunds lostoben lässt, erscheint auf der Baumkronen-Leinwand eine Ratte, die hektisch ein Bahngleis entlang hastet. Und nun erschließt sich der Sinn der drei Regale voller Modellbauten, an denen sich drei Künstler von Hotel Modern schon vor Beginn zu schaffen gemacht hatten: Die Filmkamera verfolgt den Weg der Rattenpuppe, die von einem Teammitglied am Faden gezogen wird, vorbei an allerlei Müll und Ruinen. Nacheinander treten Siegmund, Sieglinde und Hunding mit Rattenmasken auf, die sie zum Singen abnehmen, während die Kamera bis zum Schluss in Großaufnahme dem Weg der Rattengruppe an zerstörten Häusern und Panzern vorbei, durch Schneelandschaften, aber auch durch das zarte Grün des Lenzes filmt.

Die holländische Gruppe Hotel Modern hatte ja nicht ahnen können, dass dies die Bilder sein werden, die wir nun seit über einem Monat täglich aus der Ukraine sehen. Und dass Hans Neuenfels, einer von Zeheleins Regietitanen, die Ratte mit seinem Bayreuther „Lohengrin“ bereits prominent in die Wagnerwelt eingeführt hatte, wussten sie vermutlich auch nicht. Am Anfang dachte ich kurz, es liefe vielleicht auf Art Spiegelmanns genialen Maus-Comic hinaus und Hunding würde als Katze auftreten – aber solch ein Nazivergleich wäre zu plump gewesen. Einen Regieeinfall hatte Hotel Modern dann aber doch: Als Trinkgefäß, aus dem Sieglinde Siegmund labt, muss ein Stuhl herhalten – eine etwas gewaltsame Setzung. Ansonsten ist den Sängern nicht viel erlaubt, meist bleibt es beim Rampengesang. Der hinreißendsten Stunde Steigerung der Musikgeschichte verpasst das Fehlen menschlicher Empfindungen einen spürbaren Dämpfer. Dabei singt Michael König einen so verzweifelt-kraftvollen Siegmund und Simone Schneider eine so mitleidende und freiheitsuchende Sieglinde! Goran Jurićs Hunding erwirbt mit seiner herrisch-groben Gesangsweise weniger Sympathien.

Am Anfang allerdings war die Ratte auch einmal an die Rampe gelaufen und die Kamera hatte ihren Blick in den Orchestergraben aufgenommen: Cornelius Meister mit ausgreifenden, energisch akzentuierenden Bewegungen die wilde Hetzjagd vorantreibend. Und dort unten findet an diesem Abend das wirkliche Drama statt. Das Orchester ist zwar laut, gleichzeitig aber auch durchsichtig. Die Musik wirkt in den Raum gemeißelt wie eine Skulptur, hat körperliche Kraft. Und deckt doch die Sänger nicht zu, sondern lässt ihnen im akustischen Geflecht den Raum, der ihnen zusteht. Wagner wusste ja, was er tut. Wunderbare Soli kommen aus dem Graben, das Cello singt so warm, die Holzbläser reden so human, besonders die Klarinetten harmonieren wunderbar. Auf weiten Strecken ist das pure Kammermusik.

Der lange zweite Akt lebt von den Dialogen, in denen immer wieder die Perspektive gewechselt wird: Fricka zerlegt Wotans Wahngespinst derart souverän, dass der Göttervater klein beigeben und bei Brünnhilde neue Anweisungen durchsetzen muss. Diese wiederum wird vom Schicksal der schwangeren Sieglinde und des schwerverliebten Siegmund so sehr überwältigt, dass sie wiederum ihre Meinung ändert und Siegmund zum Sieg über Hunding verhilft – erst im letzten Moment kann Wotan eingreifen und Siegmunds Schwert zerschellen lassen. Ausgerechnet dieses feinnervige Drama wurde dem Lichtkünstler Urs Schönebaum anvertraut, der u. a. bei Robert Wilson natürlich eine eher statische Darstellungsform gelernt hat. Wenigstens sehen die Sänger in den raffinierten Kostümen von Yashi großartig aus. Doch das Drama findet auch hier wieder im Orchestergraben statt, wo Cornelius Meister das Auf und Ab der Wortgefechte mit spannenden Tempomodifikationen würzt. Brian Mulligans Wotan hat aber leider zu wenig Substanz, um für die kesse und selbstbewusste Fricka von Annika Schlicht ein echter Gegner zu sein – Frau Schlicht bringt zwar die einzige wirklich brillante Darstellung des Abends, findet sich aber weder auf den Pressefotos noch im Programmheft abgebildet. Die wunderbare Okka von der Damerau macht der Titelfigur der Oper alle Ehre: Wotans klangschöne, deutlich artikulierende und präzise singende Wunschmaid ist der Star des Abends. Am Ende sind es die drei Frauen, die am meisten bejubelt werden.

Im Verlauf des Abends begreift man, wie heilsam die Aufsplitterung in drei eigene Erzählungen ist. Denn Wagners Welterklärungskonstrukt hat ja auch einen Hang zur Verschwörungstheorie – am schlimmsten in seiner abscheulichen Schrift über das „Judentum in der Musik“. Wagnerianer fühlen sich von dem Beziehungs- und Täuschungsgeflecht des „Rings“ magisch angezogen, verheddern sich aber auch gerne darin. Wenn Hunding böse ist, dann hat nicht Wotan alias Wolfe, sondern Wagner ihn so gemacht. Die Aufteilung unter drei völlig unterschiedliche Regieansätze führt die Handlung heilsam auf das pure Drama zurück. Freilich merkt man im Verlauf des Abends immer deutlicher, dass Opernregie aus gutem Grund ein Beruf ist und die Auslieferung ans rein Optische auf die Dauer Eintönigkeit hervorbringt.

Auch Ulla von Brandenburg, die den dritten Akt inszeniert und ausgestattet hat, kommt von der bildenden Kunst. Die zauberhafte Entfaltung ihrer bunten Bühne lässt den Auftritt der in primären Farben gekleideten Walküren mit ihren Mikadostäben zu einem „falschen Auftakt“ werden: so lustig ist das Einsammeln von Wotans toten Helden ja nicht. Aber dies schafft die Fallhöhe, von der ihre Schwester Brünhilde stürzen wird. Okka von der Damerau prägt den Akt, zumal sie auch ihren Text bestens zur Geltung bringt. Brian Mulligan könnte ein wenig mehr Differenzierung in Wotans Wanken zwischen seinem Machtwahn und seiner Tochterliebe bringen. Den flirrenden Feuerzauber entfaltet das Orchester dann wieder aufs Schönste – es trug den Abend und es beschloss ihn.

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Arabic Music Days in Berlin

Wüstenträume im Coffee Shop

Zwei Jubiläen: 5. Geburtstag des Pierre Boulez Saals und die 5. Arabic Music Days

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 5. März 2022) Mit vielen Vorschlägen verziert, bläst Hany Elbadry auf der sanften Ney seine Sehnsuchtsmelodie in Erinnerung an die Karawanenzüge durch die Wüste: „Sands“ heißt sein Stück. Die Rohrflöte Ney ist ein altes Instrument mit hauchigem Klang, geblasen ähnlich wie eine Blockflöte, und Hany Elbadry ist ein bekannter ägyptischer Virtuose auf diesem Instrument. Sein Partner am Klavier steuert einzelne, nachhallende Bassakkorde bei und betont dadurch den langsamen Charakter des Stücks. Der Dritte im Trio, der Schlagzeuger Mohammed Arafa, schweig vorerst noch und wird erst später mit seinen noblen, elegant akzentuierten Schlägen auf verschiedene Trommeln den rascheren Teil begleiten, wenn auch das Klavier die Melodie übernehmen wird.

Hany Elbadry hatte die nostalgische Wüsten-Assoziation in seiner Moderation selbst angeregt. Keiner der drei Musiker des Kairoer Trios Teryola hat vermutlich noch selbst einen Beduinen-Großvater gehabt, kennt die alten Geschichten also auch nur aus der Überlieferung. Dass überhaupt ein Klavier im Pierre Boulez Saal steht, deutet ja bereits eine gewisse Anpassung der Maqam-Stimmungen an die Wohltemperierte Stimmung an – dies ist städtische Musik für ein Publikum, das auch Popmusik konsumiert. Und sie ist wunderschön. Auch Europäer – und das sind die meisten Besucher – brauchen nicht lange, um sich einzuhören. Der Beifall prasselt nach jedem Stück nieder auf die Musiker in der Mitte des ovalen Gehry-Saals. Daran, dass die Musiker an allen Abenden mit Verstärker spielen, hat man sich rasch gewöhnt.

Die Arabic Music Days, die von der Barenboim-Said-Akademie nun schon zum fünften Mal durchgeführt werden, bieten fünf hochkarätige Trios aktueller Musiker. Kuratiert hat die Reihe von Beginn an Naseer Shamma, der mit seinem berühmten Trio den vierten Abend bestreiten wollte. Den Auftakt hatte das Trio Abozekrys gestaltet. Mohammed Abozekry mit der Oud, der siebensaitigen Laute mit dem geknickten Hals, die er bei Naseer Shamma gelernt hat, Abdallah Abozekry mit der langhalsigen und dreisaitigen Saz, beide aus Kairo, aber seit langem in Paris lebend, hatten sich mit dem ebenfalls dort ansässigen österreichischen Schlagzeuger Paul Berne zusammengetan. Die beiden Brüder spielten eigene Kompositionen, denen Paul Berne am Drum Set sensibel und hochmusikalisch die rhythmischen Glanzlichter aufsteckte. Jede Laute hatte ihr Solo, mit dem sie im Einzelton ihre zarteren Seiten zeigen konnte, aber meist geriet das gemeinsame Musizieren in einen berauschenden Flow, der auch das Publikum mitriss. Die heiße Rhythmik assoziierte dann schon mal Sambanähe oder glich einer Jazzsession. Zusammen mit dem Farbenspiel produzierte der muntere Drive beste Laune.

Beim Konzert des Naseer Shamma Trio war der Saal dann bis auf den letzten Platz gefüllt mit den arabischen Fans dieses Musikers. Nur er selbst hatte Pech. Er musste in Katar Corona-Quarantäne halten und dann in Dubai sein Visum beantragen – die deutschen Behörden waren leider nicht in der Lage, ihm dies rechtzeitig auszustellen. Doch seine beiden Kollegen, der türkische Kanun-Spieler Aytaç Doğan und der spanische Gitarrist Carlos Piñana, saßen nicht alleine da: zu ihnen gesellten sich der Ney-Spieler Hany Elbadry vom Vortag und der Schlagzeuger Firat Fadhil, der wie Shamma aus Bagdad stammt. Die vier Instrumentalisten spielten nun Shammas Stücke ohne ihn und produzierten damit vielleicht sogar faszinierendere Klangwirkungen als das Shamma Trio es alleine hätte tun können.

Eine stimmungsvolle Erinnerung an den Tigris wird eingeleitet durch die Gitarre – und das erschließt die Verbindung zum Flamenco, der immer noch präsenten musikalischen Erinnerung an die glorreiche Zeit der maurischen Kultur in Andalusien. Später wird Carlos Piñana tatsächlich eine Flamenco-Einlage samt obligatem Klatschen liefern. Langsam mischt sich die schmeichelnde Ney in das Spiel, dem auch das Kanun, eine arabische Zither, ihren metallenes Farbenrausch hinzufügt. Mit dem Schlagzeuger geht es dann in den flotten Hauptteil. Wie die Stücke funktionieren, kann man gut an der Zugabe sehen: Dort spielten die Musiker einfach die Noten, wie sie auf dem Papier stehen, während das gleiche Stück zuvor mit allen Solos, Wiederholungen und Auszierungen viermal so lange gedauert hatte.

Vor allem das Kanun überrascht durch eine Fülle von Spielweisen: mit Plektren an jedem Finger gezupft, gestrichen, geschlagen, jede Saite ständig durch Umstecken erhöht oder erniedrigt. Aytaç Doğan ist ein großer Meister dieses Instruments, dessen unfassbare Virtuosität man kaum glauben mag, und er mischt sich doch uneitel in den gemeinsamen Sound. Faszinierend die Mischung des Klangs von Ney und Kanun: das Blasinstrument klingt auf einmal kraftvoll-metallisch und zusammen schaffen beide einen neuen, beinahe heroischen Ton. Manchmal streifen die vier Musiker auch die Aura von Filmmusik, ohne dass doch die Assoziationen je konkret würden.

Zweimal gesellt sich ihnen der Sänger Khater Dawa zu. Zunächst singt er eine Hymne an die Liebe, zuerst leise und verhalten, dann in den höchsten Tönen. Besonders hier wird spürbar, wie genau die Musiker sich zuhören und den Fortgang gemeinsam entwickeln. Khater Dawa verließ Syrien, um in Kairo Oud zu studieren, lebte dann in Düsseldorf und ging schließlich nach Mannheim auf die Pop-Akademie. Als politischer Liedermacher kann er sich eine Rückkehr nach Syrien nicht leisten. Auch zum letzten Stück kommt Dawa schließlich wieder hinzu und bringt den Wirbel von Improvisationen, zu denen auch Ausrufe gehören, zum Höhepunkt. Langer Jubel!

Wirklich von den Sitzen rissen beim letzten Konzert die Gharbi-Brüder ihr Publikum: Die tunesischen Zwillinge Bechir (mit der Oud) und Mohamed (mit der Geige) samt ihrem Bruder Samir mit dem Kanun. Sie widmeten das Konzert ihrem von vier Wochen verstorbenen Vater, der sie zur Musik gebracht hat, und erklärten auch ihr Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine. Die jungen Musiker spielen eigene Stücke, alle auswendig, eines davon hat Samir drei Stunden vor dem Konzert komponiert. Die Oud stellt das Material vor, die Violine stimmt ein, beide spielen unisono, das Kanun bekommt auch seinen Platz, und alles zusammen schafft gute Laune. Ein Stück von Mohamed spiegelt seine Reise nach Süden, sechs Stunden in die Wüste. Kontemplativ, mit kleinteiligen Motiven, dann sich in Dialoge zwischen Oud und Geige weitend und schließlich abhebend in beseelten Groove. „Deine Augen haben mich getötet“ lautet der Titel eines anderen Stücks, und was das bedeutet, muss man nicht lange raten. Manche Oud-Passage ist vorwiegend ornamental, manche Geigen-Melodie in festem Legatostrich. Das Spiel des Gharbi Twin Trio hat etwas Spielerisches, man könnte so etwas heute auch in den städtischen Coffee Shops hören, die für ihre Besucher Musiker engagieren. Diese Musik ist ganz aktuell. Und da die Zwillinge sich die komplizierten Läufe ihrer Solos geradezu um die Ohren hauen, springt der Funke über und die Zuschauer erheben sich zuletzt zur Standing Ovation. Ein Abend, der nachklingt.

Ergänzt wurden die Arabic Music Days durch eine Ausstellung bunter halb-abstrakter Gemälde von Jaber Alwan aus den 1990er Jahren, die für die lebendige Kunstszene Bagdads vor der amerikanischen Invasion stehen. Im Programmheft fanden sich dazu Gedichte von Saif al-Rahbi aus dem Oman, der das Lebensgefühl in der arabischen Welt von heute auszudrücken versteht – und auch die Wirkung von Musik als Erinnerungsort. Was am Ende der Konzertreihe auffiel: Unter den Musikern war keine Frau. Das war sicher kein Zufall.

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Kritische Würdigung zu Wolfgang Rihms 70. Geburtstag

Antihymnisch

Frieder Reininghaus hat in einem umfangreichen Buch den Komponisten Wolfgang Rihm kritisch gewürdigt. 

Von Bernd Feuchtner

(Februar 2022) Rechtzeitig vor dessen 70. Geburtstag hat Frieder Reininghaus die Summe seiner jahrzehntelangen Begleitung der Musikproduktion seines Generationsgenossen Wolfgang Rihm gezogen. Nach einem Kapitel über Rihms ersten Welterfolg „Lenz“ beginnt ein thematisch sortierter Parcours durch das mit über 400 Stücken kaum überschaubare Werk des Komponisten in chronologischer Reihenfolge.

Zum Glück ist es nicht die auf dem Waschzettel versprochene „umsichtige Würdigung“ geworden. Die Position von Reininghaus ist die kritische Distanz zu seinem Gegenstand, die sich in seinem süffisant ironischen, manchmal auch bissigen Stil ausdrückt. Schon bei der Beschreibung der Anfänge des orgelschlagenden Karlsruher Pennälers stößt ihm das Konservative an der frühen Praxis im Gemeinschaftsleben auf, was in Kontext gesetzt wird zur restaurativen Adenauerzeit.

Ein Revoluzzer war Rihm nie, dafür waren ja schon die Avantgardisten der 2. Generation zuständig. Was sich damals aber anbahnte, war die Aufmerksamkeit Rihms für die Musik des nahen Nachbarlandes Frankreich, vor allem für dessen großartige Orgeltradition. Rihms Klanglust hat hier sicher einen ihrer Ursprünge.

Das Buch demonstriert allerdings, dass Reininghaus sich nicht nur im Rihm-Kosmos auskennt, sondern auch in der vielfältigen Literatur darüber – nicht ohne manche Kollegin oder Kollegen mit so schönen Etiketten wie „Lobredner, Hymnologin, Klatschkolumnistin“ zu bedenken. Der Autor breitet umfassend Originalzitate aus zeitgenössischen – auch eigenen – Kritiken und Beobachtungen aus, die den Schilderungen historische Tiefenschärfe verleihen. Dazu vieles ebenso Erhellendes aus den zahllosen Selbstbeschreibungen des wortmächtigen Komponisten. So erfahren wir, dass Rihm im Studium das Fehlen der körperhaften Beziehung zur Musik als skandalös vermisste: „Es wurde der Kontakt vom Auge auf die Partitur gesucht und dann wurde das gleich ins Verbale zurückgespiegelt.“ Hat sich da so viel geändert?

Bemerkenswerter findet Reininghaus die politische Ignoranz der Freiburger Neue-Musik-Szene, die er scharf geißelt. Auch Darmstadt bekommt sein Fett weg. Im Fall des „von Rihm kaum je erinnerten“ Lehrers Wolfgang Fortner, der im Dritten Reich zu den Mitmachern gehört hatte, danach aber zu einem Zwölfton-Komponisten geworden war, ist Reininghaus aber vielleicht doch zu gnadenlos, weil der Platz für eine weniger eindimensionale Erklärung dieses problematischen Künstlerfalls nicht gegeben ist.

Unfair ist der Fußtritt gegen Sibelius, dessen zukunftsträchtiger Vierten Sinfonie Rihm im „Schattenstück“ von 1982/84 sogar eine Hommage gewidmet hatte. Zum Ausgleich sei hier angemerkt, dass Reininghaus im Eifer des Gefechts aus dem Stuttgarter OB Manfred Rommel einen Panzergeneral gemacht hat: Von Manfred Rommel stammen die Texte zu den unveröffentlichten „Drei Gedichten“ von 1997, Reininghaus verwechselt ihn aber mit dessen Vater, Hitlers „Wüstenfuchs“ Erwin Rommel. Wo war hier der Lektor?

Rihm scherte sich nie um Beschwerungen durch Fort- oder Rückschrittslabels, da er „keine Rücksicht nehmen kann auf aktuelle internationale Trends, so wichtig sie sein mögen, schade – keine Zeit. So gehen die Performances an mir vorbei, der ich ungerührt in den sich neigenden Tag schreite, an der Vollendung meines Klischees feilend.“ Und diesem Klischee haut Reininghaus durchgehend die politische Realität um die Ohren. Dabei erhält man nicht nur Einblicke in die Kompositionsprozesse und das organische Wachsen und Wuchern von Rihms Klangskulpturen, sondern auch in deren Verhältnis zum bundesrepublikanischen Staat.

Das Buch zeigt sich insgesamt als Polemik gegen den zeitgenössischen Musikbetrieb und seine hiesige Ausbildung. „‘Musiksprachen‘ erweisen sich,“ schreibt Reininghaus, „wie wohl alle Sprachen, als regional begrenzt.“ Selbst spielt er darauf an, dass es auch zwischen ihm und dem genussfreudigen Badener Sprachschwierigkeiten gebe, indem er Rihms Nachricht zitiert: „Du arger Pietist aus dem Schwäbischen!“. Dass Rihm von der kulturtragenden Elite ebenso gut angenommen wird wie von der politischen, ist die kritische Folie, mit der Reininghaus den Kosmos Rihm polarisiert. Das macht das polarisierende Buch spannend.

Frieder Reininghaus: Rihm. Der Repräsentative. Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland
Königshausen & Neumann, 2021, 307 S.

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Späte Uraufführung der Oper Grete Minde von Eugen Engel

Das Meisterwerk aus der Truhe

Uraufführung nach 90 Jahren: Eugen Engels „Grete Minde“ nach Fontane in Magdeburg

Von Bernd Feuchtner

(Magdeburg, 19. Februar 2022) Eine Nachfrage des Jüdischen Museums Berlin bei der Enkelin des Komponisten Eugen Engel (Jahrgang 1875), den unsere mörderischen Vorfahren 1943 umgebracht hatten, war der Auslöser: Ja, erinnerte sich Janice Agee, da war diese Truhe im Keller, in der die Partituren ihres Großvaters schlummerten. Sie wurden gerettet von seiner Tochter Eva, als ihr 1941 die Flucht aus Amsterdam in die USA gelang, während Eugen Engel von den Nazis interniert wurde.

2019 wurde in der Charlottenstraße vor dem früheren Wohn- und Geschäftshaus Engels ein Stolperstein verlegt, wobei von der benachbarten Hanns-Eisler-Musikhochschule einige Lieder von ihm aufgeführt wurden, die ebenfalls in der Truhe geschlummert hatten. Aus Berlin bekam dann Anna Skryleva, die Generalmusikdirektorin Magdeburgs, den Tipp, sich einmal den Klavierauszug anzuschauen. Und sie fing Feuer an dieser Musik: Die von Theodor Fontane 1878 verfasste Handlung spielt in Tangermünde an der Elbe und in der Altmark – die Uraufführung der 1933 beendeten Oper musste unbedingt in Magdeburg stattfinden!

Die große Überraschung am Theater Magdeburg: „Grete Minde“ ist eine großartige Oper. Eugen Engel war eigentlich Kaufmann und handelte mit Textilien – das Komponieren hatte er nebenbei durch privaten Unterricht gelernt. Bruno Walter hielt die Oper für nicht individuell genug, aber das muss sie ja auch gar nicht sein, solange sie bühnenwirksam ist. Die Musiksprache liegt irgendwo zwischen „Tiefland“ und „Mathis der Maler“, es ist die Sprache von Zemlinsky, Korngold, Schreker, Delius, Holst und vieler anderer: Dafür dass die alle Profis waren, sind Engels Melodien und Farben sehr überzeugend. Es gibt ein Fernorchester, wenn der Kurfürst in die Burg einzieht, und der Kirchenchor singt von der Seitenbühne. Das Magdeburger Publikum ging auch in der zweiten Aufführung gebannt mit und dankte mit begeistertem Beifall.

Das lag nicht am Lokalpatriotismus, obwohl natürlich gelacht und getuschelt wurde, wenn auf der Bühne über die Bewohner von Gardelegen, Salzwedel oder Stendal gespottet wurde. Der in Magdeburg geborene Journalist – und spätere Nazi und noch spätere Funkheinzelmann des NWDR – Hans Bodenstedt hatte das Libretto schon 1913 verfasst, wobei er die Handlung sehr geschickt zu dramatischen Bildern verdichtete und auch etliche von Fontanes Liedern mit aufnahm. Grete wird als uneheliches Kind eines Tangermünder Ratsherrn vom Halbbruder und dessen Frau schlecht behandelt und schließlich um ihr Erbe gebracht. Da wird unter den Bürgersleuten zwar von Religion geredet, aber der Geldsack ist ihnen am Ende näher als die Nächstenliebe. Es wird sogar Choral gesungen in dieser Oper, und Grete erhält im Mysterienspiel viel Beifall für ein Marienlied.

Die Handlung spielt am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges und setzt am historischen Stadtbrand Tangermündes von 1617 an. Wegen der Auflösung der Klöster durch die Lutherischen sucht sogar ein Trupp adeliger Nonnen die Aufführung des Mysterienspiels heim. Deren Domina, von Karina Repova mit Engelsstimme gesungen, segnet den sterbenden Geliebten Gretes, während der lutherische Pfarrer (Paul Sketris) es sogar abgelehnt hat, ihn zu beerdigen: Die Katholischen sind hier die besseren Christen. Fontane ging es um die Heuchelei der Leute, womit die Oper auch anfängt. Die frustrierte Schwägerin Trud missbraucht Grete fürs Hüten ihres Kindes, damit sie sich amüsieren kann (Kristi Anna Isene gibt sie bald mit schmeichelndem, bald mit hartem Sopran als Stummfilmschönheit): Da Gretes Mutter eine Spanierin und dazu noch katholisch war, sehen die braven Tangermünder in ihr von Anfang an die Hexe. Nur Nachbarsjunge Valtin, durch Zoltán Nyáris Strahletenor unwiderstehlich gemacht, hält zu ihr. Seine Stiefmutter Emrentz, von Jadwiga Postrożna mit weitem Herzen gesungen, versucht vergeblich, Trud die Liebelei zwischen den jungen Leuten unverdächtig zu machen: „So habe ich es doch auch gemacht.“ Die verbotene Liebe und die Ächtung Gretes bringen die beiden schließlich dazu durchzubrennen.

Die beiden schließen sich den Fahrenden Leuten an, die wie sie Außenseiter sind. Da hat Engel eine großartig komödiantische Szene in der Kneipe komponiert, die unvermutet umschlägt in eine ebenso intime, in das letzte Zusammensein von Grete und Valtin, bevor sie in den Saal muss, weil die Zuschauern fordern, dass sie als Engel ihr Marienlied singt.
Der Auftritt der Puppenspieler lieferte im 1. Akt den Singspiel-Puffer zwischen den individuellen Szenen, im 2. Akt ist es die Wirtshausszene. Die wird hauptsächlich Johannes Wohlrab und Benjamin Lee bestritten, während man von der fremdländischen Zenobia in Na’ama Shulmans schöner Stimme gerne mehr gehört hätte. Frank Heinrich gibt den spottenden Wirt, den man sicher besser gehört hätte, wenn er nicht so weit hinten hätte singen müssen. Es wird gut gesungen in diesem großen Ensemble, aber die Textverständlichkeit könnte besser sein: dann müssten die Zuschauer nicht ständig an den Übertiteln kleben und hätten mehr vom Spiel auf der Bühne.

Letztlich ist es aber die Musik, die mitreißt. Die Magdeburgische Philharmonie trumpft in den Massenszenen mit ihren sechzig Musikern im Graben prächtig auf, findet unter Anna Skrylevas Leitung aber in den Ensembles ebenso wunderbar zu Feinschliff und berührender Intimität. Der von Martin Wagner hervorragend einstudierte Chor hat ordentlich zu tun, in wildem Durcheinander wie in frommem Gesang. Olivia Fuchs hat das alles passend inszeniert und Nicola Turner die schlichte Bühne gestaltet, in der alle Spielorte gleichermaßen gut zur Geltung kommen. Eigentlich ist es das passende Stück zur Lage: Fremdenfeindlichkeit, Habsucht und Heuchelei, ideologische Verblendung, aber auch Edelmut bilden eine gefährliche Melange. Am Ende machen der Halbbruder und Ratsherr Gerdt Minde (da hat Marko Pantelić seinen großen Auftritt) und der Bürgermeister Peter Guntz (Johannes Stermann mit unnachgiebigem Bass) Gretes Hoffnung, durch die Auszahlung ihres Erbes aus dem Elend erlöst zu werden, einen brutalen Strich durch die Rechnung. So verfällt sie dem Wahnsinn, erscheint mit brennender Fackel auf der Bühne und zündet die Stadt an, wobei auch sie und ihr Kind, das sie von Valtin bekommen hat, zugrundegehen.

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Janaceks Sache Makropulos mit Rattle an der Berliner Staatsoper

Der Hauch des Todes

Marlies Petersen triumphiert in Janáčeks „Die Sache Makropulos“ an der Lindenoper, Simon Rattle dirigiert

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 13. Februar 2022) „Ich bin schon lange keine Dame mehr“, ruft Elina Makropulos frech und trinkt den Whisky aus der Flasche. Die 337-Jährige hat alles Versteckspiel aufgegeben und erklärt am Ende der Oper den Umstehenden, wie ihr Vater ein Elixier des ewigen Lebens für Kaiser Rudolf II. in Prag an ihr ausprobiert hat. Und nun ist sie auf der Suche nach dem griechisch geschriebenen Dokument, das ihr weitere 300 Jahre Leben garantieren würde. Marlies Petersen erreicht hier den Höhepunkt ihrer starken sängerischen Darstellungsmacht. Ihre Elina Makropulos war bis dahin tatsächlich eine Frau in den besten Jahren, gekleidet im eleganten Art-Deco-Stil, burschikos und unternehmungslustig. Nun wirkt sie gebrochen: Sie hat alles gesehen, alles erlebt, alle geliebt – war soll noch kommen? In dem Moment, wo sie das Rezept in Händen hält, widert das Leben sie an: „Man soll nicht so lange leben.“ Petersen zeichnet den Verfall des Lebenswillens vokal und körperlich nach, immer gebeugter tapst sie zu den Schlusstakten zur Tür nach draußen, von wo ein kalter Herbstwind sie anweht.

So wird der Abend an der Berliner Lindenoper zuallererst zu einem Triumph für die Sopranistin. Mindestens ebenso viel Beifall erhält Simon Rattle mit der Staatskapelle, die tatsächlich alle Blumen dieser Partitur hat aufblühen lassen. Janáčeks Orchester trägt ja die ganze Geschichte, die Karel Čapek da 1922 in Prag aufgetischt hat. Zwei Jahre davor hatte Čapek in seinem Theaterstück „R.U.R.“ (es war kürzlich im Delphi zu sehen) das Ende der Menschheit auf die Bühne gebracht, die die Erde den von ihr geschaffenen Robotern überließ – so ist das Wort „Roboter“ in die Welt gekommen. Janáček war fasziniert nicht nur von dem neuen, revolutionären Theaterstil, sondern auch davon, was er transportierte: Wie das Menschsein im Getriebe der Zeit unter die Räder kommt. Schon 1926 kam seine neue Oper „Die Sache Makropulos“ in Brünn auf die Bühne.

Wie Franz Kafka schildert Janáček die Vorgänge ganz realistisch, um daraus ihre Absurdität hervorgehen zu lassen. Berühmt wurde er für seine Methode, die tschechische Sprachmelodie charakteristisch in Gesang umzusetzen – dafür schrieb er ständig Beispiele in sein Notizbuch, ganz wie Messiaen seine Vogelstimmen. Aus diesen kleinen, ständig bewegten Motiven entstehen die Gesangsstimmen und so „spricht“ meist auch das Orchester. Es gibt wenige Intermezzi, wo das Orchester für sich selbst spricht. Beispielsweise in der Ouvertüre, wo das Rad der Geschichte sich lärmend dreht, zweimal klingen Renaissance-Fanfaren aus der Zeit Rudolfs II. hinein.

Ach, wenn die Regisseure doch einmal die Ouvertüren in Ruhe ließen! Die Komponisten haben sich doch etwas dabei gedacht, erst einmal ein musikalisches Zeichen zu setzen, damit der Zuschauer hineinfindet in jene seltsame Welt der Illusion, wo die Ohren wichtiger sind als die Augen. Claus Guth geht sogar noch weiter: Vor der Ouvertüre sehen die Zuschauer zwischen den beiden Bühnenhälften einen blendend weißen, vernebelten Zwischenraum. In diesem Zwischenreich wohnt Elina Makropulos alias Emilia Marty, die Operndiva, hier wechselt sie die Rollen. Auch vor den Akten II und III erscheint der weiße Nebel und verbreitet sich über Orchestergraben und Parterre. Minutenlang ertönt aus Lautsprechern schweres Atmen, während Elina in Zeitlupe umhergeht und Kleider wechselt. Erst aus diesem gespenstischen Atmen bricht dann irgendwann die Musik los. Die wirkt jetzt aber gar nicht bedrohlich, sondern wie eine bunte Blumenwiese. Zu den Renaissance-Fanfaren erscheint die kleine Elina von 1600, und auch als alte Frau tritt sie immer wieder in Erscheinung. Alles ist von Anfang an da, muss nicht aus den Krusten der Handlung erst herausgeschält werden, kann aber den Zuschauer auch nicht mehr überraschen.

In allen drei Akten treten zudem Tänzer auf, die einen beständigen Hintergrundlärm erzeugen, sei es dass sie als Büroschwengel aus dem Aufzug fließen oder von der Leiter hängen, sei es dass sie im Theater- oder im Hotelflur allerlei absurde Botendienste verrichten – Étienne Plus hat da aufwändige Räume im Stil der Zwanziger Jahre bauen lassen. Die Aufmerksamkeit richtet sich so weniger auf das aufgeregte Gebaren der Figuren, sondern auf die surrealistische Szene als solche. Janáčeks Komik verpufft – selbst Hauk-Schendorf darf kein Buffo-Kabinettstücken abliefern – in absurdem Theater, statt die Absurdität aus der engen, egozentrischen Handlungsweise aller Beteiligten entstehen zu lassen. Konkret wird es genau im falschen Augenblick: Guth entschied, die Oper, in der Emilia Marty gerade aufgetreten war, solle „Madama Butterfly“ gewesen sein. Und da begeht sie dann Whitefacing – ist das also die Haltung der Staatsoper in der gegenwärtigen Diskurslage über Woke-Cancel Culture-kulturelle Aneignung usw.? So wirkt der Abend einigermaßen zäh bis zu jenen Schlussszenen, wenn Marlies Petersen und Simon Rattle gemeinsam aufdrehen und endlich die Tragik dieses Lebens durchbrechen, und damit auch eine Wärme des Mitleidens.

Aus dem vorzüglichen Sängerensemble sticht vor allem Bo Skovhus heraus, der dem Prozessgegner Prus eine so elegante wie abgebrühte Zwielichtigkeit verleiht und dies auch mit allen Schattierungen seines schönen Baritons beglaubigt. Auch Natalia Skrycka darf als junge Sängerin Krista ein paar schöne Einwürfe machen. Der Tenor Spencer Britten als Prus‘ Sohn Janek, Bassist Žilvinas Miškinis als Theatermaschinist und Anna Kissjudit als Kammerzofe stellen sich als trefflicher Nachwuchs aus dem Opernstudio vor.

Das Publikum zeigte sich begeistert – die Inszenierung serviert die nur scheinbar sperrige Oper auf dem Silbertablett. Allerdings war die so prominent besetzte Premiere bei weitem nicht ausverkauft. Wer sich nicht getraut hat: Nichts wie hin, für die Erstbegegnung mit diesem Wunderwerk Janáčeks ist der Abend bestens geeignet! (Weitere Termine am 16., 19., 22., 25. und 27. Februar.)

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Uraufführung der Münchner Biennale in Berlin

Hochgezüchtete Ratlosigkeit, gut beleuchtet

„Once to be realised“, eine Jani-Christou-Produktion der Münchner Biennale

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 23. Januar 2022) Knapp 130 Skizzen für künftige Projekte hinterließ der griechische Komponist Jani Christou, als er 1970 an seinem 44. Geburtstag in Athen bei einem Autounfall ums Leben kam. Für Manos Tsangaris als Leiter der Münchner Biennale muss es eine bestechende Idee gewesen sein, zu Christous 50. Todestag einige dieser Fragmente von lebenden Komponisten vollenden und zu einem Musiktheaterabend zusammenbinden zu lassen. Michael Marmarinos, der Christou und seine aufregende Musik noch erlebt hatte, wählte bewusst sechs nichtgriechische Komponisten und Komponistinnen aus, um ihnen mehr Freiheit von dem in seiner Heimat übermächtigen Schatten Christous zu verschaffen. Doch dann kam Corona. Mit zwei Jahren Verspätung zeigte nun die Deutsche Oper diese Koproduktion in ihrer Tischlerei, bevor sie im März in München zu sehen sein wird.

Als junger Mann aus gutem Haus im ägyptischen Alexandria hatte Christou in Cambridge bei Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein Philosophie studiert und daneben Musik bei den Exilanten Roberto Gerhard und Hans Ferdinand Redlich. Seine ersten Arbeiten waren folglich von der Zwölftonmusik beeinflusst, doch langsam driftete er in Richtung Nono und Feldman und arbeitete mit Mustern („Patterns“) als musikalischen Zellen, Mustern menschlichen Verhaltens und Mustern geschichtlicher Zyklen, indem er sich in einem Titel wie „Enantiodromia“ auf Heraklits Geschichtsbegriff von der Einheit der Gegensätze im zyklischen Fluss bezieht. Christous Musik ist metaphysisch und sie übernahm den typischen 68er-Hang zur Aktion. 1993 erinnerte das Musikfest Hamburg in fünf Konzerten unter anderem mit Kent Nagano und Dieter Schnebel an diesen faszinierenden Komponisten, wozu im Wolke Verlag auch ein Buch von Klaus Angermann erschien.

Christou brach die Konzertsituation auf, legte den Instrumentalisten auch graphische Notationen vor und trieb sie zu szenischen Aktionen. „Enantiodromia“ aus den Jahren 1965 bis 1968 beispielsweise beginnt ganz leise, verbreitert erst ganz allmählich das Klangspektrum auch nach unten und verstärkt die Dynamik. Auf dem Höhepunkt bricht die gesamte Orchestermannschaft in kollektiven Aufstand aus, brüllt durcheinander, springt auf den Boden, wirft mit Gegenständen: ziellose Panik. Erst 1960 hatte er sich in Athen niedergelassen. Im Südwesten der Insel Chios kaufte er eine Bucht samt Strand, bewaldeten Hügeln, Apollo-Tempel, Byzantinischer Kirche. Dort wollte er ein multimediales Mysterienspiel zur Aufführung bringen, eine Serie von Werken nach dem Muster seiner „Anaparastasis“, was etwa mit „Prototypen-Performance“ übersetzt werden kann.
Christou wollte 130 archetypische psychologische Modelle in Szenen von gut einer Viertelstunde darzustellen. Skizziert sind sie alle, ausgeführt nur zwei. Dies war das Ausgangsmaterial für das München/Berliner Projekt „Once to be realised“.

Die Dirigentin Cordula Bürgl dirigierte auf dem Götz-Friedrich-Platz Christous Projekt 45, bevor im Restaurant mit „Piano: The Pianist-Actor Performer“ das erste von vier Events gespielt wurde, die Samir Odeh-Tamimi umgesetzt hatte, wozu der Bewegungschor (Xorus/Plain People) sich an den Fenstern die Nase plattdrückte. Das Ensemble dissonArt pustete das Publikum dann im „Sisiphos-Hof“ der Deutschen Oper aus langen Blechrohren an, während die Sängerinnen und Sänger von Cantando Admont brüllend gegen das Publikum anliefen und der Bewegungschor vorgab, hektisch schriftliche Anweisungen umzusetzen („Ballet Monolitic Relentlessness“). Den Weg zur Tischlerei begleitete „The Cicada Pattern“ aus Lautsprechern.

Drinnen spielte dissonArt dann Christian Wolffs „After Jani Christou“, eine Folge von zwei antiken Tragödienfragmenten, von der Sopranistin Pia Davila und dem Bariton Matthew Cossack eindrucksvoll interpretiert, während den Zuschauern die Texte mit absurden Grammatikfehlern projiziert wurden. Wenigstens erklang nun gute Musik! Vor der Uraufführung von Barblina Meierhans“ „Now“ für Performer, Sopran und stark verstärktes Streichquartett wurde noch Odeh-Tamimis vierte Arbeit „A list of situations as follows“ zelebriert, danach war Pause im feuchtkalten Tischlereihof. Anschließend saß man auf der Erde während Younghi Pagh-Paans wirklich sehr schönem Stück „Silhouette – Silence“ für acht gemischte Stimmen, B-Klarinette, Schlagzeug, Viola und Violoncello, einem Christou-Fragment und einem letzten Odeh-Tamimi, bevor Beat Furrers „Breath, Body Movement and Chant“ den Abend abschloss. Olga Neuwirths für Robyn Schulkowksy komponiertes „Continuum“ wurde leider nur beim Hinausgehen gestreift.

So schön die Stücke der drei Altmeister auch waren, Neues boten sie nicht. Überhaupt war es ein Abend ohne Überraschungen und leider auch ohne Ironie. In weißen Dekorationen und kaltem Licht wirkte alles perfektioniert – und altbekannt. Der aufsässige Geist Jani Christous war an diesem sterilen Abend denkbar fern. Anscheinend begegnet man ihm heute mit Ratlosigkeit.

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Gesprächskonzert und ein Buch über zwei vergessene jüdische Komponisten

Komponist im Gulag

Jüdische Musik in Israel und in der Sowjetunion: Ödön Pártos beim Gesprächskonzert der „musica reanimata“ in Berlin und Alexander Weprik in einem Tagungsband

Von Bernd Feuchtner

(Berlin, 6. Januar 2022) Am Dreikönigstag konnte der rührige Verein „musica reanimata“ bereits sein 150. Gesprächskonzert „Verfolgung und Wiederentdeckung“ durchführen. Ödön Pártos (1907-77) wurde von Albrecht Dümling und Habakuk Traber als Begründer der israelischen Kunstmusik vorgestellt. Die Idee dazu hatte Itamar Ringel, seit 2018 Solobratscher des Jerusalemer Sinfonieorchesters und davor Meisterschüler und Assistent von Tabea Zimmermann an der Hanns-Eisler-Hochschule. Mit vier Pártos-Stücken zwischen 1946 und 1973 stellte er die Entwicklung des ungarisch-jüdischen Komponisten nach, der von 1928 bis 1933 auch als Konzertmeister in Neustrelitz und dann in Berlin gewirkt hat. Traber berichtete auch von einem gemeinsamen Konzert des Geigers Pártos mit seinem Budapester Pianisten-Kollegen Imre Weisshaus, der dann in Paris überlebte und sich dort als Paul Arma einen Namen als Komponist machte.

Pártos rettete sich nach 1933 zuerst nach Baku, dann nach Budapest, bis er schließlich von Bronislaw Huberman als Stimmführer der Bratschen im Palestine Orchestra angeworben wurde. Am Anfang des Abends stand die hebräische Melodie „Laner veliv’ssamim“, die Pártos 1939 für die Sängerin Bracha Zefira für Stimme und Klavier bearbeitet hatte – keine einfache Aufgabe, da sich deren Einstimmigkeit nicht mit europäischer Harmonisierung verträgt. Doch die jemenitisch-jüdische Sängerin erreichte mit solchen Liedern große Popularität. Es ging ja darum, unter den vielfältigen Eingewanderten das Gefühl einer neuen, gemeinsamen Kultur zu schaffen.

Zusammen mit dem Pianisten Thomas Hoppe vom ATOS Trio trug Itamar Ringel „Yizkor (in memoriam)“ von 1946 und „Trauermusik (Orientalische Ballade)“ von 1955 vor, ebenfalls Schritte auf dem Weg zu einer israelischen Kunstmusik. Pártos spielte auch Bratsche im Israeli Quartet und war in der IGNM tätig. Da beschäftigte er sich auch mit den Möglichkeiten der Zwölftonmusik. Ihm schwebte eine Verbindung dieser Konstruktionsmethode mit der nahöstlichen Improvisation vor. Seine „Agada (Legende)“ von 1960 für Bratsche, Klavier und Schlagzeug zeigt, wie lebendig er mit der Zwölftonmethode umzugehen verstand. In der Interpretation von Ringel, Hoppe und Henrik M. Schmidt von DSO Berlin wirkte das raffinierte Stück tatsächlich wie die Versöhnung von Béla Bartók mit Alban Berg.

Alexander Weprik (1899-1958) hingegen wurde sein Judentum zum Verhängnis, einem Schostakowitsch-Zeitgenossen, der wie dieser in der frühen Sowjetunion mit Begeisterung am Aufbau einer neuen Musikkultur mitarbeitete. Er galt als große Hoffnung der sowjetischen Musik, hatte internationale Erfolge und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft für jüdische Musik, die aus der jiddischen Folklore neue Energie für die Musik zu ziehen hoffte. Nachdem seine Musik schon beim Göttinger Symposium „Composers in the Gulag under Stalin“ 2010 großen Eindruck gemacht hatte, war ihm am 8. Dezember 2018 in Hannover ein eigenes Symposium gewidmet, dessen Beiträge im hochinteressanten Band 18 der „Jüdische Musik“-Studien erschienen sind.

Da Wepriks Eltern 1909 von Warschau nach Leipzig gezogen waren, lernte der Junge schnell deutsch und profitierte vom dortigen Musikleben, bis die Familie nach Kriegsausbruch Deutschland verlassen musste. Jascha Nemzow zeichnet den Weg des jungen Komponisten, der erst ab 1921 in Moskau in Kontakt mit jüdischen musikalischen Kreisen kam. Seine Familie hatte auf die Bolschewiki große Hoffnungen gesetzt und auch Alexander versuchte mit jüdischer Musik einen neuen Weg in der Musik zu bahnen. Sein „Kaddisch“ op. 6 wurde auch in Berlin gespielt und seine „Lieder und Tänze aus den Ghetto“ op. 12 fanden den Weg in ein Toscanini-Programm in der Carnegie Hall.

1929 würgte Stalin die frisch aufgeblühte jüdische Sowjetkultur brutal ab. Von 1950 bis 1954 saß Weprik, dessen Gesundheit bereits angeschlagen war, im Gulag. Inna Klause beschreibt die Lebensumstände Wepriks im Lager und seine kulturelle und kompositorischen Aktivitäten – soweit sie möglich waren – mit der nötigen Härte. Man fühlt sich ständig an das Leben der Musiker in Theresienstadt erinnert, obwohl die Lage im Gulag noch wesentlich härter war. Zwar entstanden auch danach noch einige große Orchesterwerke, doch starb der Komponist bereits 1958 im Alter von 59 Jahren. Igor Voroboyov untersucht an Wepriks im Gulag geschriebener Kantate „Das Volk als Held“ die musikalische Charakteristik des späten Weprik.

Wolfgang Mende zeichnet Wepriks publizistische Aktivitäten nach. Besonders interessant aber sind die Briefe, die Alexander Weprik von seiner Deutschland-Reise 1927 nach Moskau geschickt hatte. Er sollte Informationen sammeln über das Ausbildungswesen und seinerseits über die Reform der Musikinstitutionen in der Sowjetunion informieren, doch besonders interessierte ihn natürlich die Entwicklung der Musik – auch eigene Werke konnte er vorstellen.

Er traf Schönberg und Hindemith lief ihm sogar mehrfach über den Weg. „Die Musik hier ist abweisend und erschreckend“, schrieb er an seine Chefin Nadeshda Brjussowa. „Sie ist so schlecht, dass ich, als ich sie zuerst hörte, nicht nur schockiert war, sondern dachte, ich hätte den Verstand verloren. Jetzt aber beginne ich zu verstehen, wo das Problem liegt. Für uns ist Musik in erster Linie eine Offenbarung; wir sind es gewohnt, darin eine Form der Wahrnehmung und des Verstehens der Welt zu sehen. Das ist hier völlig anders. Hier wird Musik gemacht. Sonst nichts. Ende. Musik wird gesehen aus dem Blickwinkel der Nutzung von Tonhöhe und Rhythmus, man sieht sie als Lösung konstruktiver Probleme. Deshalb gibt es hier den lebendigsten Anfang – das Melos – überhaupt nicht. Dies ist der wichtigste Unterschied des modernen Deutschland zu dem, was wir tun und schätzen.“

Aus Berlin schrieb er am 30. Juni 1927: „Plötzlich verstand ich, dass die Leute hier gar keine Musik machen. Wie Sie ausführten: „Für Beethoven entfaltete sich das künstlerische Schaffen in Verbindung mit dem Leben. Er musste nicht nur musikalische Kompositionen schaffen, sondern darin auch etwas aus seinem inneren Leben ausdrücken.“ Hier hingegen wird Musik geschrieben, ja nicht einmal geschrieben, sondern gemacht. Niemand gießt einen Inhalt hinein und keiner sucht welchen darin. Sie wird genauso gemacht wie man Tische oder Druckbleistifte macht. Jedenfalls ist sie gut gemacht; alles klingt gut und ist stark zusammengesetzt.“

Der Versuch der jüdischen Komponisten in der Sowjetunion, eine neue Kunstmusik aus dem Geist der reichen jüdischen Folklore zu schaffen, stieß im Westen auf Unverständnis. Und Weprik verstand die Probleme der Westler nicht: „Schönberg denkt so: Schon bei Wagner ist die Zersetzung der Tonalität zu beobachten (alles was jenseits des Dur-Moll-Aspekts liegt, betrachten sie als Zersetzung der Tonalität. Von der Existenz anderer Modi haben sie keine Ahnung [Jaworskys größtes Verbrechen war, dass er seine Theorie der modalen Rhythmen niemals verständlich formuliert hat]. Wenn etwas nicht ins Dur-Moll-Schema passt, dann ist es atonal). Die erste Annahme von Schönberg kann man so formulieren: heute schreitet die Musik von der Zersetzung der Tonalität weiter zur Schaffung atonaler Musik. Diese Annahme ist völlig falsch, finster und gefährlich; sie sind aber blind und können keine anderen Tonalitäten erkennen außer Dur und Moll. Und aus dieser falschen Annahme ziehen sie völlig falsche Schlüsse. (…) Seine Worte sagen alles: ‚Ich gehe sogar noch weiter (er meinte Bach), ich gehe zurück zu den Niederländern‘.“

Boleslaw Jaworsky (1877-1942) war auch einer der Mentoren von Schostakowitsch. Nadeschda Brjussowa, die Empfängerin der Briefe, war eine Schülerin Jaworskys, des Urhebers jener Theorie der Modi. Jaworskys Theorie war tatsächlich außerhalb der UdSSR während der 1920er und 1930er Jahre so gut wie unbekannt, dennoch wurden einige Artikel darüber auf Deutsch veröffentlicht. Siehe S. Belajew-Exemplarsky: B. Jaworsky – Die Wirkung des Tonkomplexes bei melodischer Gestaltung, Leipzig 1926, Sonderdruck aus dem Archiv für die gesamte Psychologie, S. 57, Ausgabe 3/4; B. Jaworsky: Die Struktur des melodischen Geschehens, Leipzig 1934, Sonderdruck aus dem Archiv für die gesamte Psychologie, S. 92; Erwin Felber: Moskau. Musikpsychologie, Musikblätter des Anbruch 1927, Nr. 4, S. 185.

Damals sah Alexander Weprik sich noch auf dem Weg der Sieger: „Nein, Deutschland hat seinen Schwung verloren. Mit Wagners Tod begann der Niedergang des Landes. Dieser Sonnenuntergang ist manchmal blendend schön (Strauss), aber es geht abwärts, abwärts, abwärts. Die Sonne geht im Osten auf!“

Zwischen Gewandhaus und Gulag: Alexander Weprik und sein Orchesterwerk. Klause, Inna / Mueller, Christoph-Mathias (Herausgeber). Jüdische Musik Band 18, Harrassowitz Wiesbaden 2020, XIV, 344 Seiten, 120 Abb., 2 Tabellen, 68 €

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Uraufführung der Oper Kain und Abel in Nordhausen

Gegen Tyrannen-Willkür

Christoph Ehrenfellners Einakter „Kain und Abel“ in Nordhausen uraufgeführt

Von Bernd Feuchtner

(Nordhausen, 10. Dezember 2021) Das Orchester braust auf in wilden Fortissimo-Zacken, eine Frau stürzt herbei und hebt an mit einer gewaltigen Wehe-Klage. Unwillkürlich denkt man an „Elektra“ von Richard Strauss. Anna Danik von der Finnischen Nationaloper Helsinki schreit Evas Leid mit machtvoller Stimme in den kleinen Nordhäuser Zuschauerraum. Ihr Haus und seine Kammern sind leer! Ihre Kinder sind ihr genommen, ihr Fleisch und Blut: „Was bleibt, ist Tod… Erstarren… Verwesung!“ Sie klagt über ihren Ersten, ihre Stütze, dann, leiser, über ihren Kleinen: „Abel, du Windhauch!“

Anna Danik hat mit ihrem hochdramatischen Sopran kaum Schwierigkeiten, sich gegen das tobende Orchester durchzusetzen, nur die tiefe Lage ist nicht so günstig komponiert. Vor allem aber setzt sie mit diesem großen Klageprolog, bei dem sie von den Wehe-Rufen einer Frauengruppe unterstützt wird, einen ungeheurer anspruchsvollen und eindringlichen Akzent vor das Geschehen des neuen Einakters „Kain und Abel“ von Christoph Ehrenfellner, seiner dritten Oper. Der österreichische Komponist vom Jahrgang 1975 war in zwei Spielzeiten Composer in Residence am Theater Nordhausen und hat hierfür mehrere Instrumental-, Chor- und Ballettmusiken geschrieben; das Loh-Orchester Sondershausen ist also schon vertraut mit seiner Tonsprache.

Evas Wehe-Klage wirkt antikisierend wie „Salome“ und „Elektra“, bereichert um die psychologischen Funde Franz Schrekers und auch um die Farben Alban Bergs. Am Ende findet Eva auch den Schuldigen: Er, der ihr Herr ist. Die Willkür des Tyrannen hat ihr die Söhne geraubt: „Das tosende Meer meiner Liebe zerreißt mir die Brust!“ Nach dem schroffen Ende des Prologs ist es der „Videns“ (Schauspieler Jörg Neubauer), der blinde Seher, der mit Burgtheater-Pathos, ohne Musikbegleitung, in die nun folgende Handlung einführt. Er benennt auch schon die Ursache der kommenden Katastrophe: Eva, die Büßerin (gemeint ist wohl eher die Dulderin, denn vom gegebenenfalls zu büßenden Sündenfall ist nie die Rede) ließ die Tyrannei tatenlos geschehen.

Im zweiten Block treten Kain und Abel auf. Brüderlich vereint bereiten sie ein Erntedankfest für den Vater vor. Abel ist ein Tänzer, Kino Luque schwebt tatsächlich wie ein Windhauch über die Bühne. Eine Stimme gibt ihm die Sopranistin Amelie Petrich mit lieblichen, wunderbar klar artikulierten Melismen – leider aus dem Off. Der Kain des Baritons Philipp Franke hingegen ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, kernig in Stimme und Aktion, der wohl zu differenzierteren Regungen fähig wäre (habe von ihm hier eine sehr differenzierte und durchgestaltete „Winterreise“ gehört), müsste er nicht ständig gegen ein zu lautes Orchester anschreien. Doch sein Opfer wird vom Vater (Adam und Gott in einer Person) nicht angenommen. Bass Thomas Kohl geht so starr durch die Szene, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, und so starrsinnig sind auch seine Urteile: Er verachtet das „Futter“, das der Ackerbauer Kain ihm darbietet, während er den Jäger Abel als gleich erachtet. Evas Einspruch wird von ihm brutal erstickt.

Ehrenfellner hat dem Vater einen fallenden Dominantsextakkord als Leitmotiv mitgegeben, der den Tyrannen begleitet. Evas cis-Moll wird durch eine fallende Quinte charakterisiert, während der strebende Kain eine aufsteigende Quinte als Leitmotiv mitbekommen hat. Kain kann die Zurücksetzung durch den Vater nicht ertragen: „Meine Seele steht in Waffen!“ schreit er, während Eva ihn mit „Zum Schweigen erschaffen, ist mir mein Leben zugeteilt“ kontrapunktiert. Abels brüderlicher Trost ist ihm ein Gräuel und im Affekt ersticht er ihn. Wieder hat Eva Anlass für eine ausladende Wehe-Klage. Als der Vater Kain bestraft und ihn davonjagt, trägt Eva noch einmal die Wehe-Klage des Prologs vor, bevor sie sich aufrafft und den Tyrannen ersticht.

Ehrenfellners Einakter ist gut anzuhören, klar strukturiert, ohne Subtexte, ohne Geheimnis. Dass hier das Patriarchat angeklagt wird, ist mehr als offensichtlich. Das Nordhäuser Publikum zeigte sich beeindruckt und feierte die Mitwirkenden ausdauernd. Ein Regisseur wäre allerdings hilfreich gewesen. Intendant und Geschäftsführer Daniel Klajner hat nicht nur am Libretto mitgeschrieben, sondern auch noch die Regie übernommen, wovon er sichtbar wenig Ahnung hat. Wie viel eindrucksvoller wäre Eva ohne das Herumgestehe und ohne ihre Opernhände! Was hätte man den Figuren an glaubwürdiger Menschlichkeit mitgeben können, besonders dem Frauenchor! Die szenischen Arrangements verdoppeln die Archaik der Musik und lassen sie so hölzern wirken wie den altertümelnden Text. Keiner der Darsteller wirkt im mindesten frei und stellt uns Fragen. Ein Theater, das nur Antworten gibt, regt aber nicht an, sondern bestätigt bloß, was wir sowieso schon wissen.

Das an sich schön spielende Loh-Orchester mit seinen zahlreichen ausdrucksstarken Soli wäre bei weniger krasser Lautstärke ebenfalls eindrucksvoller. Das ist vermutlich nicht die Schuld des Dirigenten Henning Ehlert. Die Ursache liegt wohl eher in den strukturellen Schwächen des Stadttheatersystems, das selbst bei so schwierigen neuen Stücken auf der Orchesterrotation beharrt und zwischen die wenigen Aufführungen einer neuen Oper – hier sind es vier – lange Abstände legt, so dass die Produktion gar nicht erst ins Laufen kommt. Und dann geht es halt mit Bleifuß durch den Abend.

Denn auch Schönbergs wunderbares Streichersextett „Verklärte Nacht“, das die Grundlage für den zweiten Teil des Abends gab, litt etwas unter Überdruck. Der Nordhäuser Ballettchef Ivan Alboresi hat in seinem neuen Stück all die Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen, ja die Offenheit nachgeliefert, die dem ersten Teil gefehlt hatten. Sein „Winterreise“-Tanzabend mit Philipp Franke war nach wenigen Aufführungen Covid zum Opfer gefallen. Alboresi lässt den „kalten Hain“ erglühen, wenn dem konventionellen Paar ein Rivale erscheint, der erst die Frau mit Sinnlichkeit auflädt und dann auch den Mann einbezieht und zu neuer Selbstfindung führt. Ein packendes Stück Ballett, nach dem man das Theater bereichert verlässt.

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Beglückende Weihnachtsoper Die Nacht vor Weihnachten in Frankfurt

Rimski-Korsakow bringt Weihnachtsglück nach Frankfurt

Plötzlich Premiere: Die Märchenoper „Die Nacht vor Weihnachten“

Von Bernd Feuchtner

(Frankfurt, 3. Dezember 2021) „Ich bin hübsch, sagen die Leute, bin ich wirklich hübsch?“ Sonst hat Oxana eigentlich kein Problem. Die geborene Petersburgerin Julia Musitschenko biegt kokett den Körper und singt Oxanas Selbstbefragung mit schalkhafter Demut, ihre schöne und durchsetzungsfähige Stimme zeigt eine starke Persönlichkeit an. An Heiligabend möchte sie mit ihren Freundinnen Weihnachtslieder singen und sich nicht mit Verehrern herumschlagen wie dem Schmied Wakula. Doch auch Wakula hat eine starke Persönlichkeit, was sich schon darin ausdrückt, dass er die Kirche mit Fresken ausgemalt hat. Tenor Georgi Wassiljew von der Neuen Oper Moskau macht Oxana mit seiner elegant-lyrischen Stimme den Hof, was diese jedoch wenig zu beeindrucken scheint, ist sie doch die Tochter von Tschub, dem reichsten Bauern im Dorf.

Dieser Umstand beflügelt auch Wakulas Mutter Solocha, die mit Tschub eine zweifelhafte Beziehung unterhält und dadurch ebenfalls an sein Vermögen zu gelangen versucht. Da sie eine Hexe ist, schließt sie einen Pakt mit dem Teufel: gemeinsam fliegen sie in den Himmel, wo er den Mond klaut und sie die Sterne verfinstert, damit die Menschen sich nicht mehr zurecht finden, und zusätzlich entfachen sie eine fürchterlichen Schneesturm. Dieser treibt nun einen Mann nach dem anderen zum Rendezvous in Solochas Haus. Die albanische Mezzosopranistin Enkelajda Shkoza gibt die drall-sinnliche Hexe mit voller, wandlungsreicher Stimme, die jeder Lage gewachsen ist. Kaum hat ein Mann es sich mit einem Gals Wodka bei ihr gemütlich gemacht, klopft schon der nächste an die Tür. Um nicht entdeckt zu werden, schlüpfen sie nacheinander in einen der Kohlensäcke.

Der erste ist der Teufel selbst. Andrej Popow, Solist am Petersburger Marientheater, hat seine Rolle als einziger schon einmal gesungen und führt nun in Frankfurt ein Bravourstück nicht nur an Gesang, sondern auch in Luftakrobatik aus. Er muss als erster in den Kohlensack. Dann kommt Bariton Sebastian Geyer als etwas verschusselter Bürgermeister, ebenfalls eine schöne Charakterstudie. Tenor Peter Marsh ist für den durchtriebenen Diakon zuständig, den es ebenfalls zur Hexe treibt und zum Schluss kommt auch noch Bass Alexej Tichomirow von der Moskauer Helikon-Oper als in jeder Hinsicht machtvoller Großbauer Tschub. Sohn Wakula schleppt sie alle in ihren Kohlensäcken fort.

Diese wundersame Geschichte fand Nikolai Rimski-Korsakow unter den surrealen Didanka-Erzählungen von Nikolai Gogol. Sein Problem, dass Kollege Tschaikowsky sie bereits komponiert hatte (unter dem Titel „Tscherewiki“, deutsch „Die Pantöffelchen“), umging er, indem er dessen Tod abwartete. 1895 hatte dann seine Märchenoper „Die Nacht vor Weihnachten“ Premiere im Kaiserlichen Marientheater in St. Petersburg. Mit ruhiger Hand und einer reichen Farbpalette malte Rimski-Korsakow den Weihnachtsstoff aus, der zwischen impressionistischen Stimmungsbildern, folkloristischen – meist heidnischen – Bräuchen und ausgedehnten Arien alles aufbietet, was die russische Oper damals auszeichnete. GMD Sebastian Weigle kostet mit dem Frankfurter Opernorchester all diese Schattierungen von pastellfarbenen Träumen bis zu kernig-derbem Schabernack genussvoll aus.

Für die heidnischen Figuren wie Koljada, die jungfräuliche Göttin, oder Owsen, den Frühlingsgott, ist das Ballett zuständig, einstudiert von Klevis Elmazaj. Deren Vereinigung soll die Sonnenwende herbeiführen, aber auch das wollen Solocha und der Teufel mit Sturm und Finsternis verhindern. Ayelet Polne schwebt anmutig auf Spitze durch die Szene wie eine Schneeflocke aus Tschaikowskys „Nussknacker“-Ballett und Gorka Culebras schwingt sich in Lederhosen durch die Lüfte. Rimski-Korsakow hat eine märchenhafte Collage aus christlichen, heidnischen und volkstümlichen Elementen komponiert. Wunderbar, dass der Frankfurter Opernchor das sphärisch-schwebend klingen lässt und nicht folkloristisch krachend (Einstudierung Tilman Michael).

In Ursula Renzenbrinks Kostümen sehen die Damen und Herren des Chors auch besonders schön aus. Den verfressenen Schneider Pazjuk hat sie herrlich grotesk aufgebläht und Bass Thomas Falkner hat den größten Spaß damit. Überhaupt hat diese Inszenierung keine Angst vor Schönheit. Christof Loy vertraut dem Stück und will weder dem Zuschauer etwas beibringen noch ihn vor etwas schützen. Er hilft lediglich den Darstellern, ihre Rolle blutvoll auszufüllen und die Geschichte wirken zu lassen. Und was für eine Geschichte! Im Bühnenbild von Johannes Leiacker wirkt sie gerahmt und ausgestellt zugleich: Boden, Seitenwände, Rückwand und Tüllvorhang sind von Rasterlinien durchzogen. Auf ihnen glänzen die Sterne, durch sie weht die Kälte des Universums. Kein Wunder, dass die Menschen es sich darin gemütlich zu machen versuchen. Gogol hat das alles mit feiner Ironie und leisem Spott durchwirkt, etwa wenn Barbara Zechmeister als Frau mit gewöhnlicher Nase sich mit Enkelejda Shkoza als Frau mit violetter Nase sich ein köstliches Keifduett liefert.

Noch ist aber das Hauptproblem nicht gelöst: Oxana hat Wakula vor ihren Freundinnen damit verspottet, dass sie ihn nur heiraten würde, wenn er ihr so schöne Schuhe bringt, wie die Zarin sie trägt. Da er nun den Teufel im Sack hat, der das Kreuz so scheut wie der Vampir das Licht, zwingt Wakula ihn, ihn an den Zarenhof zu fliegen, wo Weihnachten gerade mit einem Hofball gefeiert wird. Die Zarin – von Bianca Andrew mit Noblesse und Koketterie gleichzeitig ausgestattet – mit seiner Schlichtheit zu bezirzen und ihre schönsten Schuhe zu ergattern, gelingt Wakula im Nu. Zuhause flennt die nun demütige Oxana, weil ihr klar wird, dass sie den Verschwundenen doch liebt. Und da ist er schon und überreicht ihr die Pantöffelchen der Zarin! Die Schluss-Apotheose aber gilt dem Dichter Gogol, der aus all diesen seltsamen Vorkommnissen einst eine schöne Erzählung machen wird.

Eigentlich hätte dies die Generalprobe sein sollen, doch dann erließ die Hessische Landesregierung neue Covid-Richtlinien, die alle Erfahrungen der Theater in den Wind schießt. Bei der ausverkauften Premiere durfte nur noch die Hälfte Zuschauer in den Saal, und so bemühten sich Pressebüro und Kasse, uns in die Generalprobe umzubuchen. Vor Beginn trat ein angefressen wirkender Bernd Loebe vor den Vorhang und appellierte an sein Publikum, die Oper trotzdem nicht im Stich zu lassen.

Den Politikern bedeutet die Kultur nichts, das haben sie fortdauernd gezeigt. Das Publikum zurückzuholen, wird nicht leicht sein. Die Zuschauer der vorgezogenen Premiere quittierten die Rede des Intendanten mit Beifall, die Darsteller samt Dirigent und Regieteam aber mit Begeisterung. Es muss ja nicht immer „Hänsel und Gretel“ sein.