Musik der inneren Emigration
Der ukrainische Komponist Valentin Silvestrow stand im Zentrum der 13. Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch
Von Bernd Feuchtner
(Gohrisch, 3. Juli 2022) Wir erinnern uns an die Bilder im Fernsehen, als russische Polizisten in einen Konzertsaal eindrangen und den Pianisten Alexej Lubimov bei einem Schubert-Impromptu unterbrachen. Sie verlangten den Abbruch des Konzertes, aber sie kamen zu spät: Der Liederzyklus „Stufen“ des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrow war schon in der ersten Konzerthälfte erklungen. Bei den Schostakowitsch Tagen Gohrisch konnte man nun in der Sächsischen Schweiz zwischen Königstein, Papststein und Pfaffenstein das ganze Konzert hören, nur dass diesmal der Schubert-Teil zuerst erklang. Konzentriert und eigensinnig spielte Lubimov die vier Klavierkompositionen, dazwischen sang die ukrainische Sopranistin Viktoriia Vitrenko fünf Schubertlieder.
Nach der Pause dann die Lieder von des ukrainischen Komponisten, dessen Musik Lubimov schon seit Jahrzehnten spielt. So hörten wir die elf Lieder von 1981/82 auf Texte russischer Symbolisten wie Blok und Sologub oder des Akmeïsten Mandelstam und von ihnen geschätzter Dichter wie Puschkin und Baratynski – also alles „dekadente Modernisten“ wie Stalins Kunstbürokraten sie verabscheuten – in authentischer Interpretation. Alles leise, alles langsam, Lieder von Abschied, Abenddämmerung, Verfall, Traum und Vernichtung, eine Dreiviertelstunde lang. Musik, die sich ganz auf ihre eigene Schönheit zurückzieht und jeden äußerlichen Effekt verschmäht.
Nach der Besetzung der Krim durch Russland 2014 schrieb Silvestrow ein „Gebet für die Ukraine“. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine flohen seine beiden Enkelinnen mit dem 84-jährigen Komponisten nach Berlin. Und die Schostakowitsch Tage Gohrisch warfen ihr Programm um – vorwiegend russische Musik mit vorwiegend russischen Interpreten hätte jetzt niemand ertragen. Nun erklangen an den vier Festivaltagen in allen Programmen (mit einer Ausnahme) Stücke von Silvestrow, und seien es nur ein paar kleine Klavierstücke. Ein Höhepunkt war sicherlich sein Drittes Streichquartett von 2011 in Verbindung mit Schostakowitschs Neuntem Quartett und Sofia Gubaidulinas „Reflections on the theme B-A-C-H“ von 2002, intensiv interpretiert durch das fabelhafte Eliot Quartett.
Zusammen mit Gubaidulina, Schnittke, und Denissow repräsentierten die beiden „Kiewer Avantgardisten“ Wolkonski und Silvestrow noch zu Schostakowitschs Lebzeiten in den 1960er Jahren die junge Komponistengeneration der Sowjetunion, die sich für Zwölftonmusik und andere Experimente interessierte und damit den parteitreuen Komponistenverband in Wallung brachten. Doch um 1975 scherte Silvestrow aus dem westlich orientierten Neuerertum aus und fand zu einer neuen Einfachheit, die er „metaphorische Musik“ nannte – zur gleichen Zeit schuf Arvo Pärt seinen neuen „Tintinnabuli-Stil“.
Da Silvestrow während des gesamten Festivals anwesend war, konnte man den Komponisten auch spontan beim Improvisieren am Klavier erleben. So versteht man seine Musik der letzten Jahrzehnte besser: Ein Mann, der dem Lärm der Zeit eine Absage erteilt hat und nur noch in seinem Inneren hört, was von dort aus der großen klassischen Musik nachklingt, oder wie aus den Splittern des zersprungenen Spiegels ein neues Kaleidoskop zusammengesetzt werden kann.
Auch Dmitri Jurowski setzte mit der „Abschiedsserenade“ für Streichorchester aufs Programm des Gedenkkonzerts für seinen Vater Michael. Jurowski Senior war nicht nur mit Schostakowitsch befreundet gewesen, sondern auch mit den Schostakowitsch-Tagen von Anfang an eng verbunden. Mit den Zwetajewa-Liedern sang Evelina Dobraceva danach ein herbes Spätwerk von Schostakowitsch – zum ersten Mal in der Sopranfassung von Dmitri Jurowski. Gut gelaunt dirigierte er in der zweiten Konzerthälfte die Schauspielmusik zur „Menschlichen Komödie“, die Schostakowitsch 1934 für das Wachtangow-Theater geschrieben hatte. Zwischen den Stücken rezitierte Jurowski Sprüche aus dem Balzac-Kosmos. Wenn der Kontrabassist im Sitzen zu tanzen beginnt und der Bratschist ein breites Grinsen aufsetzt, spürt man, wieviel Spaß die Musiker der Sächsischen Staatskapelle dabei hatten.
Ein weiterer Höhepunkt war der Abend mit dem Geiger Vadim Guzman, dem Cellisten Sebastian Fritsch und der Pianistin Julianna Avdeeva, wieder mit Silvestrow, Gubaidulina und Schostakowitsch. Die Cellosonate des Namensgebers des Festivals spielten Fritsch und Avdeeva mit jugendlichem Überschwang und erinnerten damit an den frechen jungen Schostakowitsch. In Gubaidulinas Geigensonate „Freue dich“ herrscht da schon ein mehr verinnerlichter Ton, von Guzman und Avdeeva mit Hingabe gespielt. Schostakowitschs 2. Klaviertrio in memoriam seines Freundes Iwan Sollertinski vereinte die drei Musiker in einer denkwürdigen Interpretation, auch wenn die Streicher dem Klavier in der Akustik der Scheune das Leben etwas schwer machten.
Ansonsten erwies die Gohrischer Scheune nach drei Jahren Zwangspause wieder ihre großartige Brauchbarkeit für dieses Festival an dem Ort, an dem Schostakowitsch sein intimstes Werk schrieb, das 8. Streichquartett, in dem auch das 2. Klaviertrio zitiert wird. Und wie beinahe immer hatte die Leiterin des Moskauer Schostakowitsch-Archivs auch wieder ein unveröffentlichtes Manuskript gefunden: „Ruhm den Schiffbauern“ heißt der Chor a cappella, den Schostakowitsch 1964 auf den Text eines ukrainischen Dichters zum 175. Gründungstag der Stadt Mykolajiw komponierte. Die ukrainische Küstenstadt ist vor allem für ihre Schiffswerft berühmt, und so ließ der Komponist sich zu dieser Gelegenheitsarbeit verlocken, die vom Sächsischen Vocalensemble unter Matthias Jung angemessen getragen und mit runder Schlusssteigerung ihre Uraufführung fand – zumindest auf dem Konzertpodium, denn 1964 wird man kaum den Notentext in die Zeitungen gebracht haben, wenn der Chor nicht auch vor Ort erklungen wäre.