Am Puls der Zeit
Philipp Jordan und Barrie Kosky präsentieren in der Wiener Staatoper eine pralle „Le nozze di Figaro“ und Arte überträgt live
Von Bernd Feuchtner
(Wien / Arte, 17. März 2023) Kraftvoll bringt Philipp Jordan mit dem Wiener Staatsorchester die Komödienmaschine auf Trab – man würde es gerne weiter genießen, aber dann werden all die Mitspieler in ihren Rollen gezeigt, damit wir später nicht rätseln müssen, wer das schon wieder ist, der gerade eine neue Intrige spinnt. Ach, leider wird Mozarts wirbelige Ouvertüre so zum Soundtrack, zur Nebensache. Gleich mit der ersten Szene sind wir aber wieder versöhnt, weil das Orchester den Herzschlag der beiden Liebenden weiterpulsieren lässt, während die schlaue Susanna den naiven Figaro in die Tücken ihrer künftigen Wohnung einweiht.
Peter Kellner ist ein stürmischer, kerniger Figaro, doch Ying Fang, seine Susanna, kann wegen Stimmbandblutung nur (vorzüglich) mimen, während Maria Nazarova ihr im Graben ihre hübsche Stimme leiht – die Kamera gönnt uns ab und zu einen Seitenblick. Der erste Akt spielt sich vor einer Holzwand mit lauter Türen an der Rampe ab, so dass man über gute Projektion der Stimmen nicht klagen kann. Immerhin ist genug Platz für den Chor und selbst für das Regiment, in das der Graf den frechen Cherubino stecken will. Patricia Nolz hat Figaro so eifersüchtig gemacht, dass er seine Arie vom Soldatenleben zorniger schmettert als seine Tanzdrohung gegen den Grafen.
Im zweiten Akt fährt die Wand weg und die Gräfin steht in einem wunderschönen Rokoko-Salon (Bühne: Rufus Didwiszus). Hanna-Elisabeth Müller lässt mit ihrer Auftrittsarie keinen Zweifel daran, wie traurig ihr das Dasein in diesem goldenen Käfig geworden ist. Umso lustiger bringt Cherubino dort alles durcheinander. Wenn die Gräfin, die da in ihre alte Mädchenhaftigkeit zurückfällt, und Susanna ihn als Mädchen verkleiden (einschließlich Schlüpfer, Korsett und Netzstrümpfen), ist das schon ein Vergnügen – Barrie Kosky gelingt es in seiner Inszenierung, die alten Scherze mit neuem Witz aufzuladen. Und Viktoria Behrs quietschbunte Kostüme tun das ihre, dass die Liebes- und Eifersuchtsstürme heutigen Sehgewohnheiten entgegenkommen.
Andrè Schuen führt einen Grafen vor, bei dem das Testosteron den Verstand meistens ausschaltet. Der Bericht seiner Frau, dass Cherubino sich im Kabinett verstecke, regt ihn so an, dass er sich sogar über sie hermacht – während Susanna mit Unschuldsmine hereinspaziert. Da Schuen so prachtvoll singt und unter erotischem Hochdruck spielt, nehmen wir ihm auch das nicht übel – so wird das ein wirklich komplexer, interessanter Mensch. Schon seine legere Kleidung verweist den zugeknöpften Figaro auf die Plätze. Wolfgang Bankls grantelnder Gärtner, Stephanie Houtzeels jugendverrückte Marzelline, Stefan Cernys trockener Bartolo und Josh Lovells windiger Basilio sorgen dafür, dass zum Aktschluss alle über den Aktenordnern einer undurchschaubar gewordenen Realität verrückt werden.
Nach der Pause haben dann alle gelernt, auf der Klaviatur dieses Grafen zu spielen. Wie Don Giovanni gelingt ihm kein Stich mehr. Inzwischen hat man im schönen alten Schloss wie der im DDR praktische moderne Türen eingebaut – der Adel geht vor die Hunde und Rosinas so eindringlich gesungene Sehnsucht nach der Vergangenheit ist gegenstandslos. Der Schlussakt spielt auf König Lears öder Heide, wo die nun schwarz-grau-weißen Menschen sich unter der Erde verstecken und nur vereinzelt aus ihren Schächten auftauchen, als wärs ein Stück von Beckett. Für ihre wunderbar sanft und klar gesungene Rosenarie wird Maria Nazarova sogar der ganze Bildschirm eingeräumt – und in ihre letzte Pause hustet natürlich ein gefühlloser Besucher hinein. Hier gewinnen Susanna und Figaro wieder die Initiative, und der Graf sieht sich zu einem tiefen Kniefall gezwungen – ein inniger, versöhnender Moment des Gesamtensembles, nach dem der überdrehte Schlussjubel nicht überzeugen soll: Beim Schlussakkord stehen Figaro und Susanna erschrocken alleine vor der wieder hereingeschwenkten Türwand. Mozart jedenfalls ist an diesem Abend und auch am Bildschirm zu seinem Recht gekommen.